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Unter dem Hammer

Zum ersten – zum zweiten – und zum dritten!« dröhnend flog der schwere Eisenhammer des Gerichtsvollziehers auf den Tisch. Wieder wanderte ein Stück der lieben, alten Möbel, die zum Teil noch vom Großvater herstammten, in fremde Hände.

Mit brennenden Augen schaute der zwölfjährige Erwin auf die Menschenmenge, die sich aus dem Gutshof angesammelt hatte. Sein schlanker Körper bebte vor verhaltenem Schluchzen, fest hielt er beide Arme um Putti, den zierlichen kleinen Pony, seinen treuesten Freund, geschlungen. Und als ob Putti den tiefen Schmerz seines jungen Herrn verstände, blickte er ihn mit klugen, traurigen Augen an und rieb mitleidig die braune Stirn mit dem weißen Fleck an Erwins Brust.

»Wir müssen uns zusammennehmen, Putti,« flüsterte der Knabe seinem Pony ins Ohr, »wir dürfen es Vater nicht noch schwerer machen, sieh nur, wie elend und gebeugt er aussieht – und jetzt – er fährt sich mit der Hand über die Augen – Putti – ich glaube gar, der Vater weint!«

Seit Mutters Tode vor vielen Jahre hatte Erwin seinen Vater nicht mehr weinen sehen. Das Herz des durch Unglück früh gereiften Knaben krampfte sich zusammen, als er den leeren, trostlosen Blick gewahrte, mit dem der sonst so starke Vater ein Stück nach dem andern seiner Habe in alle vier Winde wandern sah.

»Die bösen – bösen Menschen,« murmelte Erwin, »sieh nur, Putti, jetzt nehmen sie die alte Standuhr vom Großvater, auf die Vater so stolz gewesen, und nun« – sein Atem stockte – »Mutters Brautbild, das große Ölgemälde – nein, das dürft ihr nicht nehmen!« schrie er außer sich und stürzte zum Versteigerungstisch.

Aber rohe Hände schoben den schmächtigen Knaben zurück, und eine barsche Stimme sagte: »Marsch – hier hast du nichts mehr zu suchen!« Da schlich sich Erwin wieder auf die Seite zu seinem Pony. Und mit ohnmächtig geballten Fäusten schaute er zu, wie ein Bäuerlein den dick gespickten Beutel zog und fünf blanke Talerstücke für die alte Standuhr auf den Tisch zählte, während ein Trödler das große Brautbild der verstorbenen Mutter auf seinen armseligen Karren lud.

»Dich dürfen sie nicht nehmen, Putti, nicht wahr, du gehst mit mir?« flüsterte der Knabe verzweifelt. Putti spitzte die Ohren und wieherte hell.

Da stand der Vater hinter Erwin.

»Nun mußt du – deinem Pony Lebewohl sagen, mein Junge,« sprach er mit stockender Stimme, »du kannst ihn nicht behalten – es hilft nichts – er muß mit verkauft werden.«

Und Erwin, der noch eben so trotzig aufbegehrt, biß tapfer die Zähne zusammen, als er das müde, graubleiche Gesicht des Vaters sah, und neigte sich zu seinem Pony herab. Zum letzten Male streichelte er Puttis glänzendes Fell – »ich kaufe dich bestimmt zurück, mein Liebling«, sprach er mit tränenerstickter Stimme. Dann kam ein Knecht, nahm Putti an den Zügel und führte ihn vor.

»Komm', Erwin,« sprach der Vater weich, der seinem Sohne den Schmerz, sein Pferdchen in fremden Händen zu sehen, ersparen wollte, »komm, mein Junge, wir wollen gehen.«

Aber Erwin rührte sich nicht von der Stelle.

Mit starren Blicken sah er, daß fremde Menschen Putti befühlten und begutachteten – wie jämmerlich der kleine Pony zu ihm zurückblickte – und dann – Erwin zuckte jäh zusammen, der unbarmherzige Hammer fiel dreimal dröhnend auf den Tisch – Putti war verkauft. Ein dicker Schlächtermeister spannte ihn zu seinem Grauschimmel vor den Wagen, die Peitsche knallte, und rasselnd fuhr er davon zur Stadt.

Der Vater aber nahm Erwin an die Hand und ging noch einmal mit ihm durch das leere Haus und über die heimatliche Scholle. Glückliche Jahre hatte er hier verlebt, er hatte gearbeitet und sich geplagt vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Aber unredliche Beamte, denen er zuviel Vertrauen geschenkt, hatten ihn um die Frucht seiner Arbeit gebracht. Der Ertrag seiner Felder war in die Tasche seines unehrlichen Inspektors gewandert, und heute mußte er als Bettler für immer der Heimat den Rücken kehren.

Langsam und stumm schritten Vater und Sohn die graue Landstraße entlang in die ungewisse Zukunft hinein. Keiner von ihnen sah sich mehr um. Erwin aber erblickte in der Ferne vor sich eine dichte Staubwolke – das mußte Putti sein! Und wieder ballte der Knabe seine kleinen Hände – »ich kaufe dich zurück, Putti!« stieß er leidenschaftlich zwischen den Zähnen hervor – und dann war die Staubwolke plötzlich seinen Blicken entschwunden.

* * *

Zwanzig Jahre sind seit jenem Tage vergangen. Längst hat Erwin sein Versprechen, das er damals dem kleinen Pony gegeben, in dem wilden Kampf ums tägliche Brot vergessen. Der Vater konnte den schweren Schlag nicht verwinden, er starb nach einigen Wochen und ließ Erwin heimat- und mittellos zurück. Der einst so verwöhnte Knabe mußte eine Stelle als Laufbursche annehmen, aber bald wurde der Herr des Geschäftes auf den klugen und fleißigen Jungen aufmerksam. Er nahm ihn ins Kontor, und nun stieg Erwin von Stufe zu Stufe. Und heute war er selbst der reiche Besitzer jenes Handelshauses. Er hatte die Tochter seines ehemaligen Herrn geheiratet, und sein kleiner Sohn Hans riß verwundert die blauen Augen auf, wenn der Vater ihm erzählte, wie er einst beim Großvater Düten geklebt und Oefen geheizt habe.

Auch heute mußte der Vater seinem Söhnchen beim täglichen Spaziergange wieder von vergangenen Zeiten erzählen, plötzlich aber machte sich Hans von des Vaters Hand los.

»Ein Karussell – ein Karussell –« jubelte er, »lieber Vater, ach bitte, laß mich doch einmal herumreiten,« und der Vater gab seine Einwilligung.

Hei – war das eine Lust, bei fröhlicher Musik ging es jauchzend im Kreise herum, ein altes steifbeiniges Pferdchen zog das Karussell.

»Hier, Hans, hast du Zucker,« sagte der Vater lächelnd und hob den Kleinen wieder herab, »gib ihn dem Pferdchen zum Dank für seine Mühe.«

Hans nahm den Zucker, doch als der Pony schnuppernd seine Hand berührte, zog er dieselbe ängstlich wieder zurück.

»Hasenfuß«, lachte der Vater, nahm den Zucker und hielt ihn selbst dem Pony hin.

Aber siehe da – das Pferdchen schnupperte, nahm den Zucker nicht, stieß ein helles Freudengewieher aus und rieb den braunen Kopf zärtlich an Erwins Arm. Da wurde dieser aufmerksam – er stutzte – er strich dem Pferdchen die braune Ponymähne zurück – ein weißer Fleck zeichnete sich auf der dunklen Stirn ab!

Ach, was machte der kleine Hans für große Augen, als der Vater freudig »Putti« rief, und der treue Pony, der feinen einstigen Herrn erkannt hatte, wieder laut zu wiehern begann.

»Ich kaufe dich zurück, Putti,« sprach Erwin sinnend vor sich hin, »ja, was der Knabe einst versprochen, wird der Mann erfüllen.«

Und zu Hänschens Jubel führte man den alten Pony, der auf dem linken Hinterfuß lahmte, zu der schönen Villa vor der Stadt, die sie bewohnten. Unterwegs aber erzählte Erwin seinem Kleinen von dem furchtbaren Tage, an dem er und sein Vater von Haus und Hof mußten. Wie man ihnen alle Sachen, die große Standuhr des Großvaters, das Brautbild der Mutter und zuletzt auch Putti, seinen lieben Pony, unter dem Hammer verkauft habe. Hans lauschte mit heißen Backen der Erzählung des Vaters.

Draußen auf der sonnigen Wiese hinter dem Garten ließ man Putti das schöne, frische Gras abfressen, und Hänschen saß dabei und schaute Putti nachdenklich zu. Er dachte an die traurige Geschichte, die der Vater ihm heute erzählt hatte – da fielen ihm mit einem Male die Augen zu. –

Und plötzlich sah er, wie Putti das fette Gras stehen ließ, zu ihm herangehumpelt kam, tief aufseufzte und zu sprechen anhub:

»Ja – ja – das war ein böser Tag damals, Hänschen, als dein Vater und ich Abschied voneinander nehmen mußten, als der dicke Schlächter mich mit Hü und Hott von dem schönen Gutshof in die Stadt trieb. Ach – und der Grauschimmel, mit dem ich zusammengespannt wurde, war ganz und gar keine passende Gesellschaft für mich. Ich war nur an vornehme Reitpferde gewöhnt, um ungebildete Acker- und Zugpferde hatte ich mich nie gekümmert. Jetzt aber mußte ich, kleiner Pony, jeden Morgen den schweren Schlächterwagen ziehen und das Fleisch zu den Kunden hinfahren. Ach, wenn das mein Freund Erwin wüßte! – habe ich da manch liebes Mal geseufzt.

An einem grauen Novembermorgen war's, dichter Nebel verhüllte alles auf den Straßen, da hielt ich an einem großen Torweg. Der Schlächtergeselle lieferte im Hause das Fleisch ab, der Wagen stand unbewacht. Plötzlich hörte ich im Torweg ein leises Flüstern, ich spitzte meine Ohren.

»Ach, Karl, tu's nicht – um Himmels willen tu's nicht – es ist Sünde!« Das war die flehentliche Stimme eines kleinen Mädchens.

Und dann eine Knabenstimme: »Ach was, Sünde – Sünde ist es, die Mutter fast verhungern zu sehen; der Arzt sagt, sie muß kräftiges Fleisch essen, kaufen können wir keins, da muß ich es eben stehlen!«

Ich schrak zusammen – stehlen wollte der böse Junge!

»Gib acht, Annchen, daß keiner kommt,« hörte ich ihn aufgeregt flüstern, »es ist ja so neblig, es sieht mich keiner!«

»Doch – Gott sieht dich,« schluchzte die Kleine, »tu's nicht, gute Menschen werden helfen.«

Aber schon sah ich, wie ein zerlumpter Junge aus dem Torweg heraussprang, und eins, zwei, drei an meinem Wagen emporklettern wollte.

Das konnte ich nicht mitansehen – nein – der Junge sollte nicht zum Diebe werden! Ich machte einen wilden Sprung und riß den Wagen zur Seite, daß ein Rad zerbrach. Der herzueilende Schlächtergeselle ließ roh die Peitsche um meine Ohren sausen, ich aber fühlte die Hiebe nicht, hatte ich doch das frohe Bewußtsein, einen Menschen vor einer bösen Tat bewahrt zu haben.

Bald danach kam ich fort, ein Zirkusbesitzer, der bei meinem Herrn kaufte, fand mich so schön, daß er mich für seinen Zirkus erwarb. Ja freilich, das war ein anderes Leben! Blitzblank wurde ich jetzt gehalten, rote Tücher mit goldenen Fransen schmückten mich, und schön geputzte Kinder jubelten im Zuschauerraum, wenn ich abends bei Lichterglanz in die Reitbahn trabte. Auf meinem Rücken stand in kurzem Flitterkleidchen Lizzie, die kleinste Reiterin der Welt, warf lachend Kußhändchen in das Publikum und machte graziös ihre Kunststücke. Ach – die beifallklatschenden Kinder wußten ja nicht, wie sehr die kleine Lizzie jeden Vormittag bei den Proben gequält wurde. Wie unbarmherzig der Direktor seine Reitpeitsche auf die nackten Schultern und Aermchen der bitterlich weinenden Kleinen herabsausen ließ.

Ich aber wußte es, und ich sah auch, wie der lustige Clown, der immer neue Lachstürme durch seine drolligen Späße hervorrief, zum Gaudium des Publikums auf den Händen aus der Bahn lief, und einen schnellen, verzweifelten Blick hinten in den kleinen Raum warf, in dem sein Weib schwer fiebernd daniederlag. Ich konnte dieses glänzende Elend, das sich hinter dem funkelnden Flittertand verbarg, nicht lange mitansehen, denn ich habe ein weiches Gemüt. Ich magerte zusehends ab, und schließlich verkaufte man mich mit einem Trupp Kollegen als Lasttier in die Berge.

Hu – jetzt kam eine böse Zeit!

Jeden Morgen schnallte mir mein neuer Herr, ein fünfzehnjähriger, barfüßiger Junge, einen schweren Holzbügel um. Daran hing er große, flache Körbe, die waren mit Lebensmitteln gefüllt, und dann trieb er mich die steinigen Pfade zu den Unterkunftshütten droben auf den Bergen empor.

Ach – da hab' ich gar oft geächzt und gestöhnt, wenn der Aufstieg gar so steil ging. Aber das Schlimmste war, wenn ich als Reittier vermietet wurde, und die dicken Herren und Damen zur Höhe schleppen mußte, denen das Steigen zu beschwerlich war. Daher habe ich wohl auch meine Kurzatmigkeit zurückbehalten.

Manch Schönes aber habe ich auch auf meinen Wanderungen geschaut. Weite, blühende Täler mit lustigen Dörfchen, silberhellen Bächlein, fruchtbaren Feldern und rauschenden Waldungen, und viele frohe, singende Menschen habe ich durch die schöne Gottesnatur wandern sehen.

Und denke nur, Hänschen, eines Tages band mich mein Herr an einer Dorfschenke draußen an das Fensterkreuz fest, und als ich in die Wirtsstube lugte, wen sah ich da? Die alte Standuhr von deinem Großvater, die damals mit mir zusammen unter den Hammer gekommen, ich hatte sie gleich an ihrem schwermütigen Klange erkannt. Sie sah recht heruntergekommen aus, die würdige, alte Dame. Sie war viel in der Welt herumgestoßen worden. Doch gerade, als sie mir ihre Erlebnisse erzählen wollte, wurde ich losgemacht, und mein Herr trieb mich davon. Da hatte die Wiedersehensfreude ein schnelles Ende. Und noch jemand aus meiner ersten Jugendzeit auf dem Gutshof deines Großvaters traf ich viele Jahre später, als ich betagter, abgetriebener Pony schließlich nur noch gut dazu war, einen Lumpenkarren zu ziehen. Altersschwach und häßlich war ich inzwischen geworden, aber ich fühlte mich doch in der ständigen Gesellschaft von Lumpen nicht wohl, trotzdem viele von ihnen gar vornehmer Abkunft waren.

Eines Tages hielt ich vor dem Keller eines Trödlers, wo man schmutziges Papier auf meinen Karren lud. Und plötzlich erblickte ich durch die Türspalte in einer Kellernische ein bekanntes Bild, ein großes Oelgemälde. Ich zerbrach mir den Kopf, wo ich dasselbe schon einmal gesehen. Schließlich fand ich es – es war das Brautbild deiner Großmutter, Hänschen, das damals mit mir zusammen versteigert wurde. Ich wollte mich gern bemerkbar machen, aber es schien mit dem zunehmenden Alter schwerhörig geworden zu sein, es verstand mich nicht, so laut ich auch schrie. Ich aber wurde durch das alte Bild wieder an meine einstige Jugendzeit erinnert, und ich begann mich meiner unwürdigen Beschäftigung zu schämen.

In der Nacht lief ich meinem Herrn davon, irrte viele Tage auf Wiesen und Felder umher, und schließlich fand mich eine herumziehende Truppe. Die spannte mich vor ihr Karussell. Da mußte ich alter, lahmer Gaul bei lustiger Musik unaufhörlich im Kreise herumtraben, daß mir ganz schwindlig davon im Kopfe wurde.

Und das übrige weißt du, Hänschen.

Ach, ich habe es nicht gehofft, daß mir noch einmal solch ein glücklicher Lebensabend beschieden sein würde!« – – –

Putti verstummte – und Hänschen rieb sich verschlafen die Augen.

Dann aber sprang er empor, klopfte zärtlich Puttis Hals und eilte spornstreichs zum Vater.

»Vater,« schrie er schon von weitem, »denke dir, Putti hat mir eben seine Lebensgeschichte erzählt. Ach, was hat der alles erlebt, und die alte Standuhr und das Brautbild deiner Mutter hat er auch gesehen und – – –«

»Junge –« unterbrach ihn der Vater lachend und strich dem Kleinen die blonden Haare aus der heißen Stirn, »Junge – Hans – du hast geträumt, am hellen lichten Nachmittag bist du eingeschlafen, solch ein kleiner Faulpelz!«

Hans aber schüttelte den Kopf, er wußte, was er wußte. Putti selbst hatte ihm ganz bestimmt seine Geschichte erzählt.

Eifrig spähte der Kleine von nun an in jede Dorfschenke und in jeden Trödelkeller. Aber die alte Standuhr und Großmutters Brautbild, das einst mit Putti unter den Kammer gekommen, hat er niemals entdeckt – und Putti verriet nichts mehr!


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