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Was Großvater Stumpfzahn erlebte

Na, Gott sei Dank, nun ist die ganze Gesellschaft glücklich mit ihren Körben, Kiepen und Säcken zur Erde hinauf, nun wird's wieder hübsch ruhig im Nest!« seufzte Großvater Stumpfzahn erleichtert und humpelte zu seinem großen Lehnstuhl hin. Ja, die Vorbereitungen zum lieben Osterfest, dieses Gehetze und Gejage machte einen ganz nervös, das war nichts mehr für solch greisen Hafen wie er. Er fühlte in seinem zerschossenen Bein ordentlich die aufregende Zeit. Au – wie das zog und stach – da hatte er doch richtig wieder sein Podagra.

Ganz dicht an das knisternde Herdfeuer schob er seinen Großvaterstuhl, zog seinen warmen, braunen Schlafrock fest um die dünnen Beinchen, steckte sich die lange Holunderpfeife an und sah über die große Hornbrille unzufrieden zu seinem jüngsten Enkelchen hinüber.

»Springinsfeld,« rief er verweisend, »laß die zerbrochenen Ostereier liegen, du reißt dir Splitter in deine Pfötchen. Mach' doch nicht so wilde Sätze, Kind, du wirfst mir ja die ganzen Farbentöpfe herunter. Sieh nur, deinen schönen, braunen Samtanzug hast du total verdorben – dein Schwänzchen ist blitzblau, und hier an deinem hübschen Ohr klebt, rote Farbe. Pfui, schäme dich, solch großer Junge – na, laß nur die Mutter nach Hause kommen, die wird dir das Fell schon gerben.«

Springinsfeld, das Hasennesthäkchen, trollte sich weinend in seinen Schmollwinkel. Er hatte es doch auch gar zu schlecht auf dieser Welt, nichts war ihm erlaubt! Trotz seines Bittens und Bettelns hatten ihn die Eltern nicht mit auf die große Osterreise genommen. All seine Brüder und Schwestern waren in den neuen Frühjahrskleidchen mit ihren bunten Ostereiern zur Erde hinaufgesprungen, und nur er mußte hier unten in dem langweiligen Nest beim Großvater bleiben. Er sei noch zu klein – hieß es – nein, er wollte auch einmal auf die schöne Erde, wo die Sonne so golden schien, und die Osterblümchen im Winde nickten!

Auf leisen Pfötchen schlich sich Springinsfeld zu der mit grünem Moosteppich belegten Treppe, da knarrte die Baumrindentür. Großvater Stumpfzahn, der eben ein Nickerchen gemacht hatte, fuhr verschlafen hoch.

»Springinsfeld, wohin?« fragte er. – Der Kleine wurde rot bis an das braune Stirnhaar.

»Ich langweile mich so« – stotterte er ganz beschämt.

»Aha – und da wolltest du heimlich auskratzen – das ist ja recht niedlich!« Großvater Stumpfzahn nickte ernst mit dem würdigen Haupt und schaute den kleinen Sünder vorwurfsvoll an.

»Ach Großvater, lieber Großvater«, Springinsfeld sprang dem alten Herrn mit einem großen Satz auf den Schoß und schlang beide Pfötchen um seinen Hals. »Sei nur nicht böse – ich will es auch gewiß nicht wieder tun, aber erzähle mir auch was, Großvater – ja?« Schmeichelnd fuhr er mit seinem spitzen Schnäuzchen über Großvaters runzliges Gesicht.

»Na, dann hole dir nur fix deinen Kinderstuhl herbei,« sagte der gute Großvater Stumpfzahn leise schmunzelnd.

Und nun saßen der Großvater und das Enkelchen am flackernden Herdfeuer traulich nebeneinander.

»Was möchtest du hören?« fragte Großvater. »Blumenmärchen, Jagdgeschichten oder –«

»Nein, bitte, von der Erde erzähle mir, von den Kindern, die dort leben, Großväterchen, oder bist auch du noch nie oben auf der Erde gewesen?«

Der Großvater lachte, daß seine Ohren wackelten.

»Kiekindiewelt, als an dich noch gar nicht zu denken gewesen, da war ich schon der bekannteste Osterhase weit und breit. Und aus Ost und West, aus Nord und Süd schrieben die kleinen Menschenkinder auf der Erde an mich und bestellten sich ihre Eier zum Ostersonntag.

»Sind die Kinder auf der Erde stets brav, Großvater?« erkundigte sich der kleine Hasenjunge ein wenig verlegen.

»Na – immer auch nicht,« meinte der Großvater und kraute sich mit der linken Pfote nachdenklich hinter dem Ohr. »Einmal – ich weiß es noch wie heute – stand ich vor der Tür einer Kinderstube. Drinnen tobte die wilde Hilde mit dem kleinen Brüderchen Franz. Lautes Getöse erscholl durch die geschlossene Tür. Ich lugte durch eine Türspalte, und was sehe ich? Da hatte die große Hilde das kleine Brüderchen zu Boden geworfen. Sie kniete auf seiner Brust und hageldicht sausten die Stöße, Knuffe und Schläge auf das arme Kerlchen hernieder.«

»Ich sag' es dem Osterhasen, wenn du so grob bist,« weinte der kleine Franz, »kein einziges Ei soll er dir bringen!«

»Pah – der Osterhase,« hörte ich Hilde sagen, »Osterhasen gibt es überhaupt nicht, ich glaub' nicht an den Osterhasen, bin schon viel zu groß dazu« – und dabei stand ich doch hinter der Tür. »Neunmalklug,« rief ich erregt durch das Schlüsselloch, »du Naseweis – warte, dir bringt der Osterhase diesmal ganz sicher keine bunten Eier«! Doch die Hilde verstand meine Hasensprache nicht. Aber das verstand sie am andern Tage, als der kleine Bruder überall in allen Ecken und Eckchen herrliche Ostereier mit dem Namen »Franz« fand, daß sie dieses Jahr ganz leer ausgehen mußte. Weinend durchsuchte sie jedes Winkelchen im Hause, aber wer nicht an Osterhasen glaubt, dem bringt er auch keine Eier!«

»Was hast du denn aber mit Hildes Ostereiern angefangen, Großvater,« fragte der kleine Springinsfeld, der mit andächtig gefalteten Pfötchen der Erzählung gelauscht hatte.

Großvater Stumpfzahn nahm bedächtig eine Prise aus seiner großen Schnupftabakdose und fuhr fort: »Ja, nachdem ich nun die ganze Nacht von Haus zu Haus, treppauf, treppab gelaufen war, setzte ich mich gegen Morgen müde auf den Prellstein eines Hauses. Und als ich so zugucke, wie die Morgenröte der noch ganz verschlafen dreinschauenden Erde ein pupurn leuchtendes Festkleid überzieht, höre ich mit einem Male Kinderstimmen im Hausflur.

»Ach Linchen, – hast du die vielen, vielen Ostereier drinnen im Bäckerladen gesehen? Wenn ich doch nur ein einziges bekäme!«

»Wer sollte uns wohl Ostereier schenken, Tinchen«, vernahm ich darauf eine zweite, leise klagende Mädchenstimme, »an so arme Kinder, wie wir es sind, denkt der Osterhase nicht, die kennt er gar nicht!«

Die Haustür öffnete sich, zwei dürftig gekleidete, kleine Mädchen traten heraus. In den Händchen hielten sie die Frühstücksbeutel, und am Arm schleppten sie große Körbe mit Osterkuchen – sie trugen in aller Herrgottsfrühe das Gebäck für den Bäcker aus.

»Wie Mutter noch gesund war, Linchen, da brachte uns der Osterhase immer ein paar Zuckereier, aber jetzt hat er uns ganz vergessen!« Damit gingen sie vorüber.

O – wie schämte ich mich, daß ich der armen Kinder nicht gedacht, daß ich keine Eier für sie in meiner Kiepe hatte! Aber plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke – die Ostereier der unartigen Hilde! Ja, die sollten die kleinen Mädchen haben. Leise, ganz leise huschte ich durch die warme Backstube in das Schlafzimmer des Bäckers. Der hatte die ganze Nacht Festkuchen gebacken und war erst vor kurzem wieder in die Federn gekrochen. Er schnarchte wie zehn Hasen und schlief wie alle Menschen mit zugemachten Augen. Ich breitete meine Ostereier auf dem Tisch aus und – hops, sprang ich auf sein Bett und flüsterte ihm ins Ohr, die Eier solle er Linchen und Tinchen vom Osterhasen abgeben, denn ich kannte ihre Adresse nicht. Er grunzte bejahend im Traume und drehte sich auf die andere Seite. Ich aber wartete hinter der Haustür, bis Linchen und Tinchen ein paar Stunden später mit glückseligen Augen aus dem Bäckerladen herauskamen.«

Großvater Stumpfzahn verstummte und räusperte sich vor Rührung.

»Kanntest du denn sonst immer die Wohnungen von all den vielen Kindern, Großväterchen?« fragte Springinsfeld, der atemlos zugehört hatte.

»Freilich – die waren stets in einem dicken Buch notiert. Einmal aber passierte eine drollige Geschichte.

Willis Eltern waren zu Ostern umgezogen, und der Kleine hatte vergessen, mir seine neue Adresse mitzuteilen. Ich hatte sie in der Schule erfahren. Aber was ich dort noch in Erfahrung gebracht, betrübte mich sehr.

Willi, der faule Junge, war nicht versetzt worden, eine schändliche Osterzensur hatte er mit nach Hause gebracht – nein, der kriegte diesmal keine Eier!

In dem Hause, in dem Willi früher gewohnt, hatte ich gar viel zu tun, in jedem Stockwerk gab es dort Kinder. Und als ich eilig die Treppen hinabspringe, wen treffe ich – Willi! Nanu – was hatte denn der hier noch im Haus zu suchen? Vorsichtig schlich ich hinter ihm her. An seiner früheren Wohnungstür klingelte er.

»Hat der Osterhase hier vielleicht Ostereier abgegeben?« fragte er ein wenig verlegen, als ihm geöffnet wurde.

»Jawohl«, sagte lächelnd die Frau, »meine Kinder sind eben auf der Suche.« Jubelndes Hallo erscholl aus den Zimmern.

»Ja – das – das – sind aber meine Ostereier, die gehören – ihnen – ja gar nicht,« stotterte Willi errötend. »Ja – ganz gewiß, Sie können es mir glauben, der Osterhase hat gedacht, ich wohne noch hier!«

Die Frau lachte, daß ihr die Tränen in die Augen traten. »Na, Kleiner, dann komm nur herein,« sagte sie freundlich, »der Osterhase hat auf jedes Ei den Namen geschrieben, nun schau zu, ob deiner dabei ist.«

Willi suchte und suchte – aber vergebens. Alle Kinder hatten die Hände voll Ostereier, aber für ihn war keins bestimmt. Traurig wollte er wieder davon.

»Hast du denn auch Ostereier verdient, mein Junge?« hörte ich da die Mutter der Kinder fragen. »Warst du denn auch brav im Hause und fleißig in der Schule?«

Willi senkte schuldbewußt den Kopf.

»Ich will mich ja bessern«, sagte er leise und die Tränen rannen über seine roten Backen.

Da aber stürzten die gutherzigen Kleinen auf ihn zu; in seinen Mantel, in seine Mütze und in die Tasche seiner Höschen taten sie von ihren Ostereiern. Das allerschönste suchte jedes für ihn aus.

Und ich – ich ließ es geschehen, denn ich wußte es, der Willi würde Wort halten und sich bessern.« –

Großvater Stumpfzahn sah gedankenvoll vor sich hin. Alte Zeiten waren wieder lebendig geworden, er dachte an so manche fröhliche Osterreise.

»Weiter, Großvater,« drängte sein Enkelchen, »erzähle doch weiter!«

»Siehst du, Springinsfeld,« begann er nach einem Weilchen wieder, nachdem er seine ausgegangene Pfeife in Brand gesetzt hatte, »auf der Erde gibt es Kinder, die sind so arm, daß sie nicht einmal eine Mutter haben.«

»Ach – hat der böse Jäger sie totgeschossen?« erkundigte sich das Hasenkind teilnehmend.

Großvater schmunzelte – was war der Junge doch aufgeweckt und klug. Aus dem wurde sicher mal was ganz Besonderes!

»Menschen schießt der Jäger nicht, nur uns armen Häschen stellt er nach«, erklärte der Großvater dem Kleinen und fuhr dann fort: »Ein vornehmes, kleines Prinzeßchen war's, in einem herrlichen Palast lebte es, das kostbarste Spielzeug besaß es, und stattliche Hofdamen und gallonierte Diener folgten ihm auf Schritt und Tritt. Und trotzdem war Prinzeßchen Gerda ärmer als das Bettelkind, das mit sehnsüchtigen Augen dem glänzenden Galawagen nachschaute, in dem das Prinzeßchen täglich spazieren fuhr – Prinzessin Gerda hatte keine Mutter!

Der König war mit Regieren beschäftigt, der kümmerte sich wenig um sein Töchterchen. Eine sehr vornehme und steife Hofmeisterin war beständig an des Prinzeßchens Seite, niemals durfte es fröhlich umherspringen, wie andere Kinder, denn das schickte sich nicht! Niemals durfte es hell und fröhlich lachen und jubeln, denn dann sagte die Hofmeisterin gleich würdevoll: »Aber Königliche Hoheit, das schickt sich doch nicht für ein kleines Prinzeßchen!«

Prinzeßchen Gerda aber stampfte mit den Füßchen recht wenig prinzessinnenhaft auf den Boden und rief weinend: »Ich will auch gar kein Prinzeßchen sein – ich will einen Schneemann machen, wie die Kinder unten auf der Straße, ich will den Kreisel peitschen, auf dem Spielplatz Sand schippen, und ich will eine Mama haben, wie all die anderen Kinder!« sie weinte bitterlich. Die Hofdamen aber ringsum machten erstaunte Augen, daß das Prinzeßchen so wenig königliche Wünsche habe, und die Hofmeisterin rümpfte die Nase: »Fi donc – wie unpassend!«

Und Prinzeßchen Gerda langweilte sich weiter.

Da kam Ostern heran. Ich hatte alle Hände voll zu tun und auch für das kleine Prinzeßchen, das mir trotz seiner Pracht und Herrlichkeit von Herzen leid tat, hatte ich ein paar Ostereier in meiner Kiepe.

»Ich möchte auch gern Ostereier suchen«, sagte Prinzeßchen Gerda verlangend zu einer Hofdame.

Die verneigte sich tief: »Ich werde sofort die kostbarsten Ostereier besorgen lassen und werde den Lakaien den Auftrag erteilen, für Königliche Hoheit zu suchen.«

»Nein« – rief das Prinzeßchen, »die dummen Lakaien sollen nicht für mich suchen, das tue ich selber! Und kostbare Eier mag ich überhaupt nicht, bunte Zuckereier will ich, blaue, rote und grüne, und der Osterhase soll sie mir verstecken!«

Aber die Hofmeisterin schüttelte ihr schön frisiertes Haupt und sprach gemessen: »Ostereier suchen ist ordinär – das ist nichts für Prinzeßchen!«

Am nächsten Morgen war Ostersonntag, und da wurde das Prinzeßchen vor den Thron des Königs befohlen.

»Gerda,« sagte der König und strich seinem Töchterlein über die goldenen Locken, »ich habe mich entschlossen, dir eine neue Mutter zu geben und dem Lande eine Königin. Begrüße sie – sie steht neben mir.«

Da machte das Prinzeßchen vor der schönen Frauengestalt einen tiefen, zeremoniellen Hofknix, wie sie es von ihrer Hofmeisterin gelernt hatte. Die neue Mutter aber lachte hell heraus, daß sich das kleine Prinzeßchen entsetzt umschaute, was wohl ihre Hofmeisterin dazu für ein Gesicht machte.

»Nein – so stehen wir beide nicht miteinander, mein Herzchen«, sagte die künftige Königin immer noch lachend, nahm das kleine Prinzeßchen in die Arme und küßte es zum Schrecken aller Hofdamen so herzlich, wie nur eine Mutter ihr Kind küssen kann.

Und des Prinzeßchens Augen strahltet,.

»Nun sollst du auch die Ostereier suchen, die mir der Osterhase für dich gegeben hat«, meinte die neue Mutter lächelnd. Jauchzend machte sich das Prinzeßchen ans Werk. War das eine Lust – lauter Jubel erscholl durch das sonst so stille Schloß, denn Prinzeßchen Gerda war jetzt so glücklich wie all die anderen Kinder – sie hatte eine Mutter und durfte Ostereier suchen!«

»Ach, das war schön«, sagte der kleine Springinsfeld tief aufatmend, als der Großvater schwieg.

Großvater Stumpfzahn aber spitzte seine langen Ohren und lauschte angestrengt.

»Junge – Springinsfeld – hör' nur, sie läuten ja schon das liebe Osterfest droben auf der Erde ein. Nun ist bald Nacht, marsch ins Bett – es ist höchste Zeit für solch kleinen Hasenjungen. Und auch ich alter Mann bin von dem vielen Erzählen müde und sehne mich nach Ruhe.«

Großvater und Enkelchen suchten beide ihr Blätterlager auf, still wurde es in der Hasenwohnung. Nur das Herdfeuer knisterte.


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