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Annelieses Weihnachtstraum

In der Kinderstube war es schon ganz dunkel, und noch immer kam der Weihnachtsmann nicht. – Anneliese spitzte ihre kleinen Ohren und lauschte angestrengt. Nur die leichten Schritte der ab und zu gehenden Mutter, welche noch die letzte Hand an die Weihnachtstafel legte, klangen aus dem Nebenzimmer zu der Kleinen herüber – sonst kein Laut. Vater war noch immer nicht von seiner Reise zurückgekehrt, und solange mußte sich Anneliese mit der Bescherung gedulden. Durch den starken Schneefall hatten die Eisenbahnzüge alle Verspätung.

Die Kleine rückte sich ihren Kinderstuhl an das Fenster und preßte das Stumpfnäschen gegen die beschlagene Fensterscheibe.

Hu, war das ein Wetter draußen!

Lustig tanzten große Schneeflocken vom Himmel herab, der Sturmwind wirbelte sie vor sich her. Er zauste die glitzernd weißen Bäume und Sträucher drüben am Kirchplatz, und die Leute, welche drunten an der Straßenecke ihre letzten Tannenbäumchen feilboten, sahen wie Schneemänner aus.

Müde blinzelnd schaute die Kleine in das arge Schneetreiben hinaus. Den ganzen Tag war sie aufgeregt und erwartungsvoll herumgesprungen, ganz schläfrig war sie von all dem Freuen geworden. Der Weihnachtsmann ließ diesmal auch gar zu lange auf sich warten!

Annelieses Augenlider wurden schwer – und immer schwerer. Doch da – was war denn das – weit auf riß sie plötzlich ihre Blauaugen und starrte unverwandt in das Dunkel hinaus.

Das waren doch keine Schneeflocken mehr, die durch die eisige Luft dahintanzten. Kleine schneeweiße Weihnachtsenglein waren es ja, mit flimmernden Silberflügeln, die vom nächtlichen Himmel zur Erde herabflogen, sich leuchtend im Spiel und Reigen beim Sturme drehten, sich jauchzend haschten und jagten. Jetzt reichten sie sich jubelnd die Hände – und jetzt zerstoben sie lachend in alle Winde.

Hierhin und dorthin flogen sie – Anneliese konnte es ganz genau sehen. – Ringsum an Tür und Fenster pochten sie, und Fenster und Tür öffneten sich von selbst und ließen die Weihnachtsenglein ein. Aus den dunklen Räumen aber flammte plötzlich schimmernder Kerzenglanz. All die Weihnachtslichter zündeten die Englein an, im funkelnden Lichterschmuck erstrahlten plötzlich die Weihnachtsbäume. Die Englein aber flogen weiter – von Haus zu Haus. Lauter Kinderjubel hallte hinter ihnen her.

»Kommt denn gar keins zu mir?« flüsterte Anneliese traurig und blickte sehnsüchtig auf die vorüberhuschenden Englein.

Da hockte plötzlich ein Weihnachtsenglein draußen auf der Fensterbrüstung und schaute mit leuchtenden Augen durch die Scheiben. Es zog den weißen Flockenmantel ganz fest um sich und stülpte auch noch die Kapuze auf die goldenen Locken, denn draußen war es bitterkalt.

»Bist du mein Weihnachtsengel?« fragte Anneliese zutraulich. »Warum kommst du nicht herein?«

Das Englein blickte merkwürdig ernst drein.

Und jetzt öffnete es den Mund, und mit feiner Stimme sprach es: »Hast du es denn verdient, Anneliese, daß ich dir die Weihnachtslichtchen anzünde?«

Anneliese machte ein etwas betretenes Gesicht.

»Die letzten acht Tage bin ich doch ganz artig gewesen«, meinte sie dann nach kurzer Überlegung. Aber der Engel schaute sie immer noch unverwandt an.

»Fast ganz artig«, gab Anneliese zögernd zu und wurde rot bis über die kleinen Ohren, denn einen Engel kann man nicht belügen. »Nur einmal habe ich beim Waschen geschrieen. Aber Punkt acht bin ich jeden Abend folgsam ins Bett gegangen.«

»So –« sagte der Engel, »und wer hat denn gestern abend zu beten vergessen?«

»Ja – weißt du,« meinte Anneliese eifrig, »ich kann doch nichts dafür, daß ich so schnell eingeschlafen bin. Gerade als ich ans Beten dachte, da schlief ich auch schon.«

»Und wer hat sich denn heute an die große Pfefferkuchentüte in der Ecke geschlichen und hat das schöne Marzipanherz angeknabbert?« fragte das Englein weiter.

Die Kleine machte ein bestürztes Gesicht.

Woher wußte denn der kleine Engel das nur? Es war doch kein Mensch im Zimmer gewesen. Anneliese hatte doch erst gehörig Umschau gehalten.

»Schau,« sprach das Englein wieder, »mir kannst du nichts vorreden. Ich bin nicht nur dein Weihnachtsengel, nein, ich umschwebe dich das ganze Jahr. All deine guten und schlechten Gedanken kenne ich, in dieses Büchlein trage ich sie ein.« Und er zog ein silbernes Notizbüchlein aus der Seitentasche seines glitzernden Flockenröckchens und hielt es dem kleinen Mädchen hin.

»Siehst du, Anneliese, was steht hier?« Er wies auf die eine Seite des Buches.

Anneliese buchstabierte mühsam, denn sie ging erst seit Ostern in die Schule: »Heute hat Anneliese heimlich durch das Schlüsselloch geguckt, um zu sehen, ob Mama für Puppe Hildegard ein neues Wintermäntelchen zu Weihnachten schneidert.« – Die Kleine senkte schuldbewußt den Kopf. – »Und hier,« sprach der Engel vorwurfsvoll weiter, »was liest du hier?«

Das kleine Mädchen buchstabierte: »Anneliese hat, als sie mit verbundenen Augen das neue Weihnachtskleidchen anprobieren sollte, sich heimlich Fusseln und Fädchen herausgezogen, um zu sehen, welche Farbe es habe.

»Ja – hellblau ist es!« jubelte Anneliese auf, aber vor dem strafenden Blick des kleinen Engels verstummte sie plötzlich.

»Das ist aber noch lange nicht alles,« sprach das Englein weiter, »wie neidisch bist du neulich gewesen, als die kleine Irene mit der Equipage von der Schule abgeholt wurde, und dann« – ganz traurig wurde das Englein mit einem Mal – »als das arme, blasse Lenchen, das ihres Fleißes wegen in der Schule eine Freistelle bekommen hat, mit dir in der Pause gehen wollte, da hast du ihr den Rücken gekehrt und hast hochmütig gesagt: »Mit Kellerkindern gehe ich nicht!« Ja – du bist ein recht schlechtes kleines Mädchen!« Das Englein schwieg, und Anneliese senkte nun ganz beschämt den braunen Lockenkopf. Große Tränen kullerten über ihre frischen Bäckchen.

»Neid und Hochmut sind zwei recht häßliche Eigenschaften in einem Kinderherzen«, sagte das Englein wieder. »Komm mit mir, ich will dir zeigen, wie wenig Grund du zu beidem gehabt hast.«

Das Englein pfiff, und da stand plötzlich das niedlichste kleine Automobil, das man sich denken konnte, vor ihnen. Es war ganz aus süßem Pfefferkuchen, und die Räder waren aus silbernen und goldenen Weihnachtsnüssen.

Das Englein schob den Fensterriegel zurück, streckte die Arme nach Anneliese aus, und da saß sie auch schon in dem kleinen Automobil an der Seite des Weihnachtsengels.

»Ich werde mich erkälten«, wollte Anneliese noch rufen, aber schon machte das Automobil »töff – töff – töff« und flog wie der Wind durch die eisige Winterlust dahin. Das Englein aber schlug seinen Mantel um Anneliese, der dehnte und dehnte sich, und nun war es der Kleinen ganz mollig darunter.

An einer glänzend erleuchteten Villa hielt das Pfefferkuchenautomobil. – Hier wohnte die kleine Irene.

Das Englein nahm Anneliese an die Hand und flog mit ihr an das Fenster. Zwei große Gucklöcher hauchte der Engel in die Eisblumen der Fensterscheiben, und nun konnten sie das ganze Zimmer übersehen. Ein prächtiger, funkelnder Saal war es, in den Anneliese schaute. In der Mitte des Saales stand auf der Erde ein riesiger Weihnachtsbaum und reichte mit seiner goldenen Spitze bis an die Decke, und ringsum an den Wänden zog sich die reiche Weihnachtstafel entlang. – War das 'ne Pracht!

Aber keine frohe Weihnachtsstimmung, keine warme Herzensfreude herrschte in diesem glänzenden Raum, kein Kinderjubel erscholl. Stöhnend und scheltend saß Irenes alter Großonkel, bei dem die Kleine jetzt seit dem Tode der Eltern lebte, in seinem Lehnstuhl am Kamin. Er rieb sich das gichtkranke, schmerzende Bein. Mißmutig starrte er in die knisternden Flammen. Keinen Blick hatte er für die kleine Irene, welche mit ernstem Gesichtchen und traurigen Augen zwischen all ihren herrlichen Geschenken stand. Die Kleine schaute in das dichte, grüne Geäst des Tannenbaumes und leise liebkosend glitt ihr Händchen über die feinen Nadeln.

Kleiner war ihr Weihnachtsbaum im vorigen Jahr gewesen, aber ihr Mütterchen hatte ihn ihr selbst geschmückt. Nicht so reiche Gaben lagen auf dem Weihnachtstische, aber Vater hatte sein Töchterchen auf das Knie genommen und mit ihr die Bilder in dem neuen Märchenbuch besehen.

Und jetzt?

Tapfer schluckte Irene die Tränen herunter und trat zu dem griesgrämigen Onkel, um ihm zu danken. Aber freuen, so von Herzen freuen, konnte sie sich nicht mit den kostbaren Geschenken, welche Fremde ohne Liebe und Verständnis für die kleine Waise eingekauft hatten.

»Bist du noch neidisch?« fragte der Engel ernst. Anneliese schüttelte den Kopf, sprechen konnte sie nicht, die Tränen würgten sie im Halse.

Sie stiegen wieder in das kleine Automobil, laut tutend sauste es davon.

In eine enge, schmale Gasse bog es plötzlich und hielt vor einem ganz verwitterten Häuschen.

Ausgetretene Steinstufen führten zu dem Schusterkeller hinab, in dem das arme Lenchen zu Hause war.

Aber rein und klar waren die Fensterscheiben, blütenweiße Gardinen hingen an den kleinen Fenstern, durch die das Englein mit Anneliese schaute. Blitzsauber war die enge Stube, und blühende Geranientöpfe schmückten das Fenstersims. Auf dem weißgedeckten Tische prangte ein winziges Christbäumchen, nur spärlich mit Lichtern besteckt. Schulhefte und Bleie, eine billige Puppe für das Kleinste und ein wenig Pfefferkuchen, das waren die ganzen Weihnachtsgaben. Aber jubelnd umsprang die rein gewaschene, kleine Gesellschaft ihren Weihnachtstisch, und die Eltern schauten froh auf ihre glücklichen Kinder.

Jauchzend erscholl es von hellen Kinderstimmen: »Stille Nacht, heilige Nacht.«

Und dann brachte Lenchen ihre Weihnachtsarbeiten herbei. Eine wollene Weste hatte das kleine, fleißige Mädchen für die Mutter gestrickt, und Vater, der immer in der kalten Schusterwerkstatt sitzen mußte, bekam einen warmen Schawl.

»Hast du auch deine Weihnachtsarbeiten fertig, Anneliese?« fragte das Englein seine kleine Begleiterin.

Anneliese schüttelte den braunen Krauskopf.

»Der Rand fehlt noch an Mamas Seiflappen, und auch an Papas Uhrpantoffel habe ich noch drei Reihen Kreuzstich zu arbeiten,« sagte sie ganz, ganz leise, so sehr schämte sie sich.

»Siehst du, daß das kleine arme Lenchen viel mehr wert ist als du«, sprach das Englein und nickte ernst mit dem Kopf. »So, nun komm nach Hause, ich denke, du bist jetzt von deinem Neid und deinem Hochmut gründlich kuriert.«

Das Pfefferkuchenautomobil jagte mit ihnen heim, und das Weihnachtsenglein setzte Anneliese wieder in ihr Kinderstühlchen. »Für diesmal will ich noch Gnade für Recht ergehen lassen und dir, trotzdem du es gar nicht verdient hast, die Weihnachtslichtchen anzünden, denn ich weiß, im Grunde deines Herzens bist du nicht bös – aber nun bessere dich bis nächstes Jahr!« Damit flog das Englein in die Nebenstube. –

Die Tür tat sich plötzlich auf – heller Weihnachtskerzenglanz flutete in das dunkle Kinderzimmer. Und im Türrahmen standen Vater und Mutter, lächelnd blickte Mama auf ihre kleine Anneliese, die in ihrem Kinderstühlchen fest eingeschlafen gewesen und sich noch ganz verschlafen die Äuglein rieb.

Blinzelnd schaute sie umher.

Wo war denn ihr kleiner Weihnachtsengel geblieben, den sie noch eben hatte durchs Zimmer fliegen sehen?

Ja – der war längst schon wieder draußen und lugte zum Fenster in das Zimmer hinein, wo Anneliese jubelnd den funkelnden Weihnachtsbaum umtanzte.


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