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Lorchen

Ach – so schön wie bei der alten Tante Gustel war es doch nirgends sonst! Jeden Mittwoch nachmittag mit dem Glockenschlag vier hielt Dorchen dort ihren Einzug. Da gab es soviel zu bewundern und anzustaunen in dem einen kleinen Zimmer, daß die Kleine nie damit fertig wurde. Und zu jedem Püppchen, jeder alten Vase und jedem Kästchen wußte die Tante eine Geschichte.

Das war das Schönste!

Nein – doch nicht – das Allerschönste war Lorchen, der bunte Papagei, der ganz zahm im Zimmer herumflog.

Dorchen und Lorchen waren gute Freunde. Trat Dorchen in die kleine Stube, dann flog Lorchen ihr mit langgeschnarrtem »Morrrjen« auf die Schulter, hielt ihr den krummen Schnabel hin und sang mit heiserer Stimme: »Ach, ich hab' sie ja nur auf die Schulter geküßt.« Und wollte sich das kleine Mädchen dann vor Lachen ausschütten, dann lachte Lorchen mit Dorchen um die Wette. Tante Gustel hatte ihre helle Freude an den beiden.

Zur Vesperzeit, wenn die Tante der Kleinen die Nachmittagsmilch vorsetzte, die altmodische Zuckerschale, auf der die Schneekoppe zu bewundern war, und die blaue Kuchenbüchse mit der lustigen Schäferin vom Brett herunterlangte, stellte sich Lorchen auch zum Vesper ein. Und je größer und begehrlicher die Augen des kleinen Mädels wurden, um so mehr riß der bunte Vogel den Schnabel auf. »Hunger – Lorchen, Hunger« – kreischte er zu Dorchens immer neuem Ergötzen.

Jedesmal, wenn die Kleine zu Besuch kam, hatte die Tante Lorchen ein neues Wort gelehrt, um Dorchen eine Freude zu bereiten.

Auch heute saß Klein-Dorchen wieder auf ihrem Lieblingsplatz, zu Füßen des Korbsessels der Tante. Sie hatte einen ausgehöhlten Flaschenkorken, mit vier Stecknadeln besteckt, und bunte Wolle vor sich. Tante Gustel zeigte ihr, wie sie daraus eine prächtige Pferdeleine herstellen könne. Dorchen war mit solchem Eifer bei der neuen Arbeit, daß sie darüber sogar ihren Spielkameraden, den Papagei, vernachlässigte.

Der aber wußte sich in Erinnerung zu bringen.

»Mädel, ruck, ruck, ruck an meine Seite«, erklang es plötzlich in gequetschten Tönen, Lorchen rückte auf seiner Stange bereitwillig, um Dorchen neben sich Platz einzuräumen. Aber da das kleine Mädchen keine Miene machte, seiner freundlichen Aufforderung nachzukommen, ließ er ein langgezogenes »Hu–unger – Lorchen Zucker« – nachfolgen.

Das rührte das Herz der guten Tante.

»Lorchen meint, es wäre Imbißzeit, na und du, Dorchen?«

Die Kleine lächelte verschämt.

»Gleich mache ich dir deine Milch heiß, Kind«, Tante Gustel erhob sich schwerfällig aus dem Sessel. »Du darfst inzwischen Lorchen ein Stückchen Zucker geben«, sagte die Tante im Herausgehen noch gütig, denn sie wußte, daß dies dem Kinde Freude machte.

Dorchen und Lorchen flogen zum Tisch.

Das kleine Mädchen nahm vorsichtig ein Stück Zucker aus der Schale und schob es dem Papagei in den Schnabel. Der ließ es sich munden, er schnalzte laut vor Vergnügen.

»Ob es mir wohl ebenso gut schmecken würde?« dachte Dorchen – und da hatte sie auch schon ein Stück Zucker zwischen den roten Lippen.

Oh, war der süß, und wie schön er zwischen den Zähnen knirschte! Konnte die Tante es draußen auch nicht hören – Dorchen sah sich erschreckt um.

Alles still – ein zweites Stückchen folgte, das schmeckte noch viel schöner als das erste.

Warum sah Lorchen sie denn bloß so eigentümlich an?

Ach so, es wollte noch was haben, es war mißgünstig. »Da« – Dorchen griff großmütig in Tante Gustels Zuckerschatz und reichte dem Papagei verstohlen ein Stück.

Nanu – das sonst so gefräßige Lorchen stieß Dorchens Hand mit dem Schnabel zurück, sträubte das schillernde Gefieder und flog mit heiserem Schrei zu seiner Stange.

»Na denn nicht, alter Schreihals, bist schön dumm, dann laß ich's mir allein schmecken«, damit begann Dorchen aufs neue, Mund, Kleidertaschen, ja sogar ihre Stiefel mit den weißen Zuckerstückchen zu füllen. Das sollte abends im Bett einen Schmaus geben!

Der Grund der Schale ward sichtbar, die Schneekoppe lugte bereits aus dem schmählich zusammengeschmolzenen Vorrat heraus, und noch immer hielt das böse, kleine Mädchen nicht inne.

Tritte – mit einem Satz war Dorchen bei ihrem Stühlchen. Tief beugte sie den wirren Lockenkopf über die Pferdeleinenarbeit. Ob die Tante – ach was, die sah ja nicht mehr gut, die würde die leere Zuckerschale gar nicht bemerken.

Wenn nur der dämliche Papagei seinen Schnabel halten wollte!

»Zucker –« schrie er in einem fort, »Zu–u–ucker« – Dorchen hielt sich die Ohren zu.

»Naschmäulchen, Nimmersatt«, schalt Tante Gustel lächelnd und trat an sein Bauer.

»Zu–ucker, Zucker«, Dorchen konnte den Blick aus den runden Vogelaugen nicht mehr ertragen.

»Aber Dorchen, du läßt deine Milch ja kalt werden«, die Tante legte einen prächtigen Kuchen neben die Tasse.

Dorchen würgte und würgte. Der Kuchen wollte nicht rutschen.

Angstvoll lauschte sie auf des Papageis Geschrei.

Der wollte sich nicht zufrieden geben.

Unentwegt schrie Lorchen sein »Zu–u–ucker«, bis Tante Gustel endlich nach der Schale griff.

Dorchen verbarg ihr Gesicht in der Milchtasse.

»Der Tausend«, Tante zog erstaunt die Hand zurück, »ich habe doch die Schale erst heute gefüllt. Lorchen, bist du etwa dabei gewesen?«

»Zucker«, rief Lorchen aufs neue.

Tante Gustel sah Dorchen fragend an. Aber das kleine Mädchen schwieg.

»Na, du willst deinen guten Kameraden nicht verraten, was Kleines?« Tante klopfte freundlich Dorchens flammendrote Backen.

Dorchen schwieg noch immer. Auch als Tante Gustel nun nach einem kleinen Stöckchen griff, denn »Strafe muß sein, wenn du auch nur ein unvernünftiges Tier bist!«

Aber als ihr gefiederter Freund jetzt wehklagend »Lorchen, armes Lorchen!« kreischte, da ging es dem schlechten Kinde durch und durch. Jeden Hieb, den das unschuldige Lorchen bekam, fühlte sie doppelt.

Es war Dorchen heute recht unbehaglich in Tante Gustels so gemütlichem Stübchen. Nichts machte ihr Freude. Lorchen hielt den Kopf unter die Flügel gesenkt und sah Dorchen nicht an.

»Er schämt sich, der Bursche«, meinte Tante Gustel.

»Er verachtet mich«, dachte Dorchen heimlich, am liebsten hätte sie auch den Kopf unter die Flügel gesteckt. Aber sie hatte ja keine, sie mußte dem Blick der milden, alten Augen standhalten. Ach, taten Tante Gustels gute Augen heute weh!

Die Schneekoppe wagte das kleine Mädchen gar nicht mehr anzuschauen, die hatte es ja gesehen, daß sie – – –

Sie war froh, als die merkwürdige Uhr unter der Glasglocke, die sogar noch älter war als Tante Gustel, sechs zitterige, dünne Schläge erklingen ließ. Das war das Zeichen zum Aufbruch.

Tante Gustel tat den altmodischen Mantel um mit den baumelnden Quasten und nahm den kleinen Besuch an die Hand. Sie lieferte das Kind stets selbst daheim ab.

Dorchen trat zu Lorchen.

Aber der kluge Papagei, der sonst immer ein lustiges Abschiedswort für seine kleine Freundin hatte, wollte nichts von ihr wissen. Ja, er hackte sogar nach ihr mit seinem krummen Schnabel, als Dorchen es wagte, ihm schüchtern über die Federn zu streichen.

»Laß ihn, Dorchen, er hat noch nicht ausgebockt, wenn du das nächste Mal kommst, hat er es vergessen«, tröstete die Tante.

Aber als Dorchen am Mittwoch darauf wieder bei Tante Gustel anpochte, da dachte sie selbst zwar nicht mehr an die häßliche Tat, wohl aber Lorchen.

Das schnarrende »Morrrjen« blieb aus. Lorchen kümmerte sich nicht um Dorchen.

»Dann läßt er's eben bleiben«, dachte das kleine Mädchen verächtlich. »Was geht mich der langweilige Vogel überhaupt an.« Aber während sie der Tante das neue Gedicht hersagte, mußte sie doch ab und an zu ihrem erzürnten Kameraden hinüberschielen, und auch Lorchen blinzelte verstohlen zu ihr hin.

»Ei, Dorchen, das hast du hübsch gelernt,« lobte die Tante, »nun sollst du dir zur Belohnung auch selbst einen Kuchen aussuchen, gleich hole ich die Büchse herunter.«

O weh – es klingelte, Tante Gustel lief eilig zur Tür.

Draußen hörte man Stimmen, und drinnen stand ein kleines Mädchen und schaute begehrlich zu der blauen Büchse empor.

Gar nicht hoch war das Brett, wenn Dorchen auf das alte, grüne Ripssofa kletterte, konnte sie bequem heran.

»Nur, um den dummen Papagei zu ärgern«, belog sie sich selbst, warum blieb die Tante auch so lange – hopps – da war sie mit einem Satz auf dem Sofa.

Ach, wie ärgerlich das knarrte – das naschhafte, kleine Mädel hielt erschreckt inne.

Aber ihr Verlangen war zu groß, zaghaft streckte sich die kleine Hand wieder nach Tantes Kuchenbüchse aus.

Oh, die Schäferin, die sah heute nicht ein bißchen lustig aus, ein bitterböses Gesicht machte sie Dorchen. Das aber nahm geschwind den Deckel ab, um sie nicht mehr zu sehen.

Eins – zwei – drei – stopfte sie ein großes Stück Kuchen in den Mund.

»Dorchen, Dorchen« – klang es da plötzlich warnend hinter ihr. Der Happen blieb der Kleinen vor Entsetzen in der Kehle stecken, scheu wandte sie den Kopf. Sollte Tante Gustel – – –

Nein, Gottlob, die Stube war noch leer, aber Lorchen flatterte aufgeregt im Zimmer umher und blickte sie strafend an.

Woher konnte denn Lorchen plötzlich ihren Namen?

»Ach du, Schafskopf«, stieß die Kleine erleichtert hervor, sprang aber doch geschwind vom Sofa herab und vergaß ganz, den Deckel wieder auf die Büchse zu tun.

Jetzt ging die Tür, Dorchen saß mäuschenstill, sie wagte nicht zu atmen. Poch – poch – schlug ihr das Herz.

»Armes Kind, hast dich so lange gedulden müssen, dafür suchst du dir jetzt auch den allerschönsten Kuchen heraus.« Tante Gustel faßte nach der Büchse.

Dorchen wagte nicht aufzublicken. Sie sah nicht den ernsten Blick, den Tante Gustel über die kleine Sünderin hinwandern ließ.

»Ei, war hier schon jemand dabei?« fragte die Tante unbefangen.

»Dorchen, Dorchen« – rief da wieder der geschwätzige Papagei. Puterrot wurde das kleine Mädel.

»Hör' nur, wie gut Lorchen deinen Namen gelernt hat, das ist doch eine Überraschung, da freust du dich, was Dorchen?«

Dorchen sah nichts weniger als erfreut aus.

Tante Gustel hob sanft ihr Gesicht zu sich empor.

»Hat Lorchen am Ende gar recht, Kind?« Die alten Augen sahen sie durchdringend an.

Aber Dorchen hatte nicht den Mut, ihren Fehler einzugestehen, lieber belog sie die gütigen, alten Augen.

Trotzig schüttelte die Kleine den Kopf.

Die Geschichte, die Tante Gustel heute erzählte, handelte von einem bösen, kleinen Jungen, der seine Mutter belogen hatte, das war Dorchen höchst unbehaglich.

Sie tröstete sich zwar, daß Tante Gustel ja bloß ihre Tante sei, aber so klein sie war, fühlte sie doch, daß eine Lüge eine häßliche Lüge bleibt, ganz gleich, wem sie gilt.

»Das nächste Mal will ich aber ganz bestimmt nicht wieder naschen«, nahm sich Dorchen die ganze Woche über vor. »Und dann wird vielleicht auch Lorchen wieder mit mir gut sein«, die Feindschaft mit ihrem ulkigen Spielkameraden schmerzte sie doch tief.

Ja, wenn nur die blaue Kuchenbüchse nicht so verlockend auf dem Brett gestanden, wenn das Ripssofa nur nicht so niedrig gewesen, und die Tante nicht hätte die Vespermilch holen müssen!

So aber stand das kleine Mädchen am nächsten Mittwoch schon wieder – sie wußte selbst gar nicht wie – oben auf dem Sofa und griff – diesmal schon ganz keck – nach dem Deckel. Mochte die Schäferin noch so böse ausschauen, das war Dorchen einerlei.

Schwapp – da hatte sie den größten Kuchen mit Schokoladenguß erwischt, hei, schmeckte der!

»Dieb, Halunk, Spitzbub«, scholl es da plötzlich gellend von Lorchens Stange.

Bums – lag die schöne, blaue Kuchenbüchse in tausend Scherben am Boden. Dorchen hatte sie vor Schreck aus der Hand fallen lassen. Als die Tante ins Zimmer trat, stand das kleine Mädchen, in der Hand den abgebissenen Kuchen, bitterlich schluchzend neben der zerbrochenen Büchse.

Wie böse würde die Tante sein!

Tante Gustel aber war nur sehr traurig.

»Ich habe es wohl gesehen, daß du neulich genascht hast«, sagte sie vorwurfsvoll, »Lorchen sollte dich mit seinem »Dieb, Spitzbub« warnen. Kinder, die Kuchen stehlen und auch noch lügen, habe ich nicht mehr lieb. Du brauchst nicht wieder zu mir zu kommen.«

»Tante, liebe Tante Gustel, du weißt ja noch gar nicht, wie schlecht ich bin! Ich habe ja auch neulich den Zucker genascht, und Lorchen hat dafür Haue bekommen. Und nun seid ihr beide mit mir böse und – und – und – – – ich will mich ja auch gewiß bessern. Bloß erlaube doch, daß ich wieder zu dir kommen darf, Tante Gustel!«

Aber die sonst so gütige Tante blieb unerbittlich. Alles Weinen half nichts.

Ein ganzes Jahr lang durfte Dorchen nicht zu Tante Gustel in die gemütliche kleine Stube.

Aber dann war sie gründlich kuriert, die Kleine naschte nie wieder!

Dorchen und Lorchen aber waren von nun an die besten Freunde.


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