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Zwölftes Bild

 

Korridor im Gebäude des Bezirksgerichts. Im Hintergrund eine Glastür, vor der ein Gerichtsdiener steht. Rechts eine zweite Tür, durch die die Angeklagten in den Verhandlungssaal geführt werden. Der Tür rechts nähert sich Iwan Petrowitsch Alexandrow, der sehr heruntergekommen aussieht. Er will durch die Tür eintreten.

 

Gerichtsdiener: Wohin? Das ist nicht gestattet. Zurück da!

Iwan Petrowitsch: Warum nicht gestattet? Das Gesetz lautet: »Die Sitzungen finden öffentlich statt.«

Man hört vom Saal her Beifallklatschen.

Gerichtsdiener: Es ist eben nicht gestattet, abgemacht. Es ist verboten.

Iwan Petrowitsch: Tölpel du weißt nicht, mit wem du sprichst.

Ein junger Advokat im Frack kommt heraus.

Advokat: Was wollen Sie? Sind Sie in den Prozeß vorgeladen?

Iwan Petrowitsch: Nein, ich bin Publikum. Und der Tölpel da, der Zerberus, will mich nicht einlassen.

Advokat: Hier ist kein Eingang fürs Publikum. Warten Sie, die Pause wird gleich beginnen. Will gehen, begegnet dem Fürsten Abreskow.

Iwan Petrowitsch: Ich weiß wohl Bescheid, doch mich kann man ruhig auch hier hineinlassen.

Fürst Abreskow: Darf ich fragen, wie weit die Sache ist?

Advokat: Die Verteidiger haben das Wort. Petruschin spricht soeben.

Erneutes Beifallklatschen.

Fürst Abreskow: Nun, und wie ist die Haltung der Angeklagten?

Advokat: Ausgezeichnet. Namentlich Karenin und Jelisaweta Andrejewna halten sich vortrefflich. Man hat das Gefühl, als ob sie nicht vor Gericht stünden, sondern als ob sie zu Gericht säßen über die Gesellschaft. Diesen Grundton hält auch Petruschin in seiner Rede fest.

Fürst Abreskow: Nun, und Protasow?

Advokat: Er ist sehr aufgeregt. Er zittert förmlich am ganzen Leibe, doch das ist bei dem Lebenswandel, den er geführt hat, begreiflich. Seine Erregung hat etwas so Sonderbares. Mehrmals hat er den Staatsanwalt und die Advokaten unterbrochen; es ist so etwas Gereiztes in seinem Wesen.

Fürst Abreskow: Wie denken Sie über den Ausgang der Sache?

Advokat: Das läßt sich schwer sagen. Die Zusammensetzung der Geschworenen ist gemischt. Daß die Tat vorsätzlich begangen ist, wird man kaum annehmen, doch glaube ich immerhin … Ein Herr kommt heraus, Fürst Abreskow geht auf die Tür zu. Wollen Sie hinein?

Fürst Abreskow: Ja, ich möchte hinein …

Advokat: Sie sind Fürst Abreskow?

Fürst Abreskow: Ja.

Advokat zum Gerichtsdiener: Lassen Sie den Herrn eintreten! Zum Fürsten Abreskow: Gleich links, wenn sie in den Saal kommen, ist ein Stuhl frei.

Der Gerichtsdiener läßt den Fürsten Abreskow an sich vorübergehen. Die Tür geht auf, und man sieht den Redner im Saal.

Iwan Petrowitsch: Ja, die Aristokraten! Ich bin ein Aristokrat des Geistes, das ist etwas viel Höheres.

Advokat: Nun, entschuldigen Sie mich. Geht rasch vorüber.

Petuschkow tritt ein: Ah, guten Tag! Was machen Sie hier, Iwan Petrowitsch, wie weit ist die Sache?

Iwan Petrowitsch: Die Advokaten haben noch das Wort. Hinein dürfen Sie nicht.

Gerichtsdiener: Machen Sie keinen Lärm, Sie sind hier nicht im Wirtshaus.

Erneutes Beifallklatschen. Die Tür geht auf, die Advokaten und Zuschauer, Herren und Damen, kommen heraus.

Eine Dame: Wundervoll! So ergreifend! Ich war zu Tränen gerührt.

Ein Offizier: Spannender als irgendein Roman:. Ich begreife nur nicht, wie sie den Menschen so lieben konnte. Er macht eine zu jammervolle Figur.

Die zweite Tür öffnet sich; die Angeklagten treten heraus, voran Lisa und Karenin, die im Korridor auf und ab gehen; hinter ihnen Fedja, allein.

Eine Dame: Pst! Still da! Das ist er … Sehen sie doch, wie erregt er ist!

Geht mit dem Offizier vorüber.

Fedja geht zu Iwan Petrowitsch: Hast du ihn?

Iwan Petrowitsch: Da! … Reicht ihm irgend etwas.

Fedja steckt den ihm gereichten Gegenstand in die Tasche, will gehen und sieht Petuschkow: Dumm … fade … langweilig … sinnlos … Will gehen.

Petruschin der Advokat, ein lebhafter, wohlbeleibter Herr mit roten Backen, tritt auf Fedja zu: Nun, mein Lieber, unsere Sache steht famos, nur dürfen sie mir, wenn Sie dann zum Wort zugelassen werden, den Text nicht verderben.

Fedja: Ich will gar nicht sprechen. Was soll ich denn sagen? Nicht ein Wort sage ich.

Petruschin: Nein, sprechen müssen Sie. Haben Sie keine Angst, die Sache ist schon so gut wie durch. Wiederholen Sie nur das, was Sie neulich mir gegenüber äußerten: daß Sie den Selbstmord, das heißt eine Handlung, die nach bürgerlichem und kirchlichem Recht als Verbrechen gilt, nicht begangen haben.

Fedja: Ich werde gar nichts sagen.

Petruschin Ja, warum denn nicht?

Fedja: Weil ich nicht will. Sagen sie mir, wie kann schlimmstenfalls das Urteil lauten?

Petruschin: Ich sagte Ihnen bereits: schlimmstenfalls Verschickung nach Sibirien.

Fedja: Wer kann verschickt werden?

Petruschin: Bestenfalls Kirchenbuße und natürlich Auflösung der zweiten Ehe.

Fedja: Man will mich also wieder an sie – oder vielmehr sie an mich ketten?

Petruschin: So wird es wohl kommen. Aber regen Sie sich bitte darum nicht auf, und reden Sie nur, bitte, so, wie ich Ihnen sagte. Vor allem sagen sie nichts, was Ihrer Sache schaden könnte. Nun, es wird schon werden … Er bemerkt, daß sich Leute angesammelt haben und zuhören. Ich bin etwas abgespannt und will mich ein Weilchen hinlegen. Ruhen auch Sie sich aus, solange die Geschworenen beraten. Vor allem keine Angst, verstehen Sie?

Fedja: Kann das Urteil nicht noch anders ausfallen?

Petruschin im Abgehen: Nein.

Gerichtsdiener: Gehen sie weiter, gehen sie weiter, bleiben sie nicht hier, im Korridor, stehen!

Fedja: Jetzt ist's Zeit. Fedja zieht den Revolver aus der Tasche, schießt sich ins Herz und fällt nieder. Alle stürzen auf ihn zu. Laßt nur … alles ist gut … wo ist Lisa?

Aus allen Türen kommen Zuschauer, Richter, Angeklagte, Zeugen herbei. Allen voran Lisa, hinter ihr Mascha, Karenin, Iwan Petrowitsch und Fürst Abreskow.

Lisa: Was hast du getan, Fedja? Warum das?

Fedja: Verzeih mir, daß ich dich nicht auf andere Art … freigeben konnte. Nicht um deinetwillen war's … sondern um meinetwillen. Mir ist wohler so … Ich war … schon längst reif.

Lisa: Man wird dich retten!

Ein Arzt neigt sich über ihn und horcht auf seinen Herzschlag.

Fedja: Ich weiß … auch ohne Arzt … Viktor, leb wohl! Und Mascha … ist zu spät gekommen … Weint. Wie wohl … wie wohl ist mir! Stirbt.

Vorhang

 

Die in diesem Band enthaltenen Dramen von Tolstoj […] wurden in den durch die Verfasser autorisierten Übertragungen von August Scholz aufgenommen.


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