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Elftes Bild

 

Amtszimmer des Untersuchungsrichters. Der Untersuchungsrichter sitzt am Tisch und spricht mit Melnikow. Auf der Seite der Protokollführer, in den Akten blätternd.

Untersuchungsrichter: Ich habe ihr das nie gesagt. Sie hat es sich aus den Fingern gesogen, und nun macht sie mir Vorwürfe.

Melnikow: Sie macht dir keine Vorwürfe, sie fühlt sich wirklich tief verletzt.

Untersuchungsrichter: Nun gut, ich komme zum Mittagessen. Jetzt haben wir hier eine interessante Sache vor. Lassen Sie sie eintreten.

Protokollführer: Beide?

Untersuchungsrichter raucht seine Zigarette weiter, hört auf zu rauchen und steckt die Zigarette weg: Nein, zuerst Frau Karenin oder vielmehr Protasowa nach ihrem ersten Mann.

Melnikow im Abgehen: Ah, die Sache Karenin!

Untersuchungsrichter: Ja, eine ziemlich schmutzige Sache. Ich gehe eben erst an die Untersuchung des Falles, aber ich spüre schon: die Sache ist faul. Nun, auf Wiedersehen! Melnikow ab. Lisa erscheint verschleiert, in Schwarz. Wollen Sie gefälligst Platz nehmen. Zeigt nach einem Stuhl. Ich bedaure recht herzlich, Ihnen gewisse Fragen vorlegen zu müssen, aber unsereins ist leider durch die Amtspflicht gezwungen … Beruhigen Sie sich nur bitte – Sie brauchen übrigens meine Fragen nicht zu beantworten. Nur meine ich, es ist für sie – wie überhaupt für alle Beteiligten – das Geratenste, die Wahrheit zu sagen. Es ist immer das Beste und sogar das Praktischste.

Lisa: Ich habe nichts zu verheimlichen.

Untersuchungsrichter: Umso besser. Blickt auf das vor ihm liegende Aktenstück. Ihr Stand? Ihre Religion? Diese Fragen habe ich schon ausgefüllt – es stimmt doch?

Lisa: Ja.

Untersuchungsrichter: Es wird gegen sie die Beschuldigung erhoben, daß Sie, obgleich Sie wußten, daß Ihr Mann noch lebt, doch einen anderen geheiratet haben.

Lisa: Ich wußte es nicht.

Untersuchungsrichter: Und weiterhin, daß sie, um sich von Ihrem Manne zu befreien, ihn durch Zahlung einer Geldsumme dazu zu bestimmen gewußt haben, daß er durch Vorspiegelung eines Selbstmordes einen Betrug beging.

Lisa: Alles das ist nicht wahr.

Untersuchungsrichter: Gestatten Sie mir nun einige Fragen. Haben Sie Ihrem Manne im Juli vorigen Jahres die Summe von zwölfhundert Rubel übersandt?

Lisa: Dieses Geld war sein Eigentum. Es war der Erlös für die Sachen, die ihm gehörten. Ich sandte es ihm, als ich mich von ihm getrennt hatte und die Einleitung der Scheidung von seiner Seite erwartete.

Untersuchungsrichter: So. Sehr interessant. Das Geld wurde ihm am siebzehnten Juli, das heißt zwei Tage vor seinem Verschwinden, übersandt.

Lisa: Es kann am siebzehnten Juli gewesen sein. Ich weiß es nicht mehr genau.

Untersuchungsrichter: Und wie kommt es, daß gerade um dieselbe Zeit die Betreibung der Sache beim Konsistorium aufhörte und das Ihrem Advokaten erteilte Mandat zurückgezogen wurde?

Lisa: Das weiß ich nicht.

Untersuchungsrichter: Und als Sie von der Polizei aufgefordert wurden, den aufgefundenen Leichnam zu rekognoszieren – wie kam es, daß Sie in dem Toten Ihren Gatten wiedererkannten?

Lisa: Ich war in einer solchen Aufregung, daß ich nach dem Toten gar nicht hinsah. Ich war so sehr davon überzeugt, daß er es war, daß ich zur Antwort gab, er scheine es zu sein, als man mich fragte.

Untersuchungsrichter: Sie haben sich ihn also nicht genauer angesehen, weil Sie sich in einer sehr begreiflichen Aufregung befanden. Ganz recht. Nun gestatten Sie mir einmal die Frage, warum Sie jeden Monat eine gewisse Summe nach Saratow schickten, nach der Stadt also, in der Ihr erster Mann sich aufhielt?

Lisa: Dieses Geld schickte mein Mann nach Saratow. Welche Bestimmung es hatte, weiß ich nicht, da ich darüber nicht unterrichtet war. Jedenfalls wurde es nicht an Feodor Wasiljewitsch geschickt. Wir waren fest davon überzeugt, daß er nicht mehr am Leben sei. Das kann ich Ihnen der Wahrheit gemäß versichern.

Untersuchungsrichter: Sehr gut. Gestatten Sie mir nur noch eine Bemerkung, gnädige Frau: wir sind zwar Diener des Gesetzes, aber das hindert uns doch nicht, Menschen zu sein. Seien sie überzeugt, daß ich Ihre Lage vollkommen begreife und teilnahmsvoll zu würdigen weiß. Sie waren an einen Menschen gebunden, der ein Verschwender war, der Sie hinterging, der, mit einem Worte, die Familie unglücklich machte.

Lisa: Ich habe ihn geliebt.

Untersuchungsrichter: Gewiß – aber Sie hatten dabei doch auch den sehr natürlichen Wunsch, sich von ihm zu befreien, und Sie wählten diesen sehr einfachen Weg, ohne zu überlegen, daß sie sich dabei einer Handlung schuldig machten, die als verbrecherisch angesehen wird, nämlich der Bigamie. Ich kann Ihre Lage sehr wohl begreifen, und auch die Geschworenen werden ihr Rechnung tragen, und darum würde ich Ihnen raten, alles zu enthüllen.

Lisa: Ich habe nichts zu enthüllen. Ich habe niemals gelogen Weint. Ich bin wohl nicht mehr nötig?

Untersuchungsrichter: Ich würde sie bitten, noch hierzubleiben. Ich werde Sie nicht mehr mit Fragen behelligen. Wollen Sie gefälligst noch so lange verweilen, bis Ihnen das Protokoll über Ihr Verhör vorgelesen ist und Sie es unterschrieben haben. Es handelt sich nur darum, festzustellen, ob Ihre Antworten richtig wiedergegeben sind. Bitte, sich freundlichst dahin zu bemühen. Zeigt nach einem Stuhl am Fenster. Zum Protokollführer. Lassen Sie Herrn Karenin eintreten.

Karenin tritt ein, in strenger, feierlicher Haltung.

Untersuchungsrichter zeigt nach dem Stuhl: Bitte gehorsamst.

Karenin: Ich danke. Bleibt stehen. Womit kann ich dienen?

Untersuchungsrichter: Ich muß Sie verhören.

Karenin: In welcher Eigenschaft?

Untersuchungsrichter lächelt In meiner Eigenschaft als Untersuchungsrichter; und sie werden verhört – in Ihrer Eigenschaft als Angeklagter.

Karenin: Wieso? Wessen bin ich angeklagt?

Untersuchungsrichter: Der Bigamie. Gestatten Sie übrigens, daß ich die Fragen der Reihe nach stelle. Nehmen Sie Platz.

Karenin: Ich danke.

Untersuchungsrichter: Ihr Name?

Karenin: Viktor Karenin.

Untersuchungsrichter: Ihr Stand?

Karenin: Kammerherr, Wirklicher Staatsrat.

Untersuchungsrichter: Alter?

Karenin: Achtunddreißig Jahre.

Untersuchungsrichter: Konfession?

Karenin: Rechtgläubig; unbestraft und noch nicht in Untersuchung gewesen. Nun?

Untersuchungsrichter: Ist Ihnen bekannt gewesen, daß Feodor Wasiljewitsch Protasow zu der Zeit, da Sie mit seiner Gattin die Ehe eingingen, noch am Leben war?

Karenin: Es war mir nicht bekannt. Wir waren beide davon überzeugt, daß er ertrunken sei.

Untersuchungsrichter: Nachdem die falsche Nachricht vom Tode Protasows verbreitet worden war, schickten Sie allmonatlich eine gewisse Summe nach Saratow. Für wen war dieses Geld bestimmt?

Karenin: Ich verweigere die Antwort auf diese Frage.

Untersuchungsrichter: Sehr gut. Zu welchem Zwecke übersandten sie an Herrn Protasow am siebzehnten Juli vorigen Jahres, kurz vor dem simulierten Selbstmord, die Summe von zwölfhundert Rubel?

Karenin: Das Geld war mir von meiner Frau übergeben worden.

Untersuchungsrichter: Von Frau Protasowa?

Karenin: Von meiner Frau. Ich sollte es an ihren Mann abschicken, sie betrachtete dieses Geld als sein Eigentum und hielt es, nachdem sie ihre Beziehungen zu ihm abgebrochen hatte, für unzulässig, es zu behalten.

Untersuchungsrichter: Nun noch eine Frage: Warum haben sie von jenem Zeitpunkt an die Scheidungsangelegenheit nicht mehr weiterbetrieben?

Karenin: Weil Feodor Wasijewitsch es übernommen hatte, die Sache seinerseits zu betreiben. Er hatte mir in diesem Sinne geschrieben.

Untersuchungsrichter: Besitzen sie seinen Brief noch?

Karenin: Der Brief ist verlegt worden.

Untersuchungsrichter: Sonderbar, daß gerade dasjenige Beweisstück verlegt ist, daß dem Gericht die Überzeugung von der Richtigkeit Ihrer Aussagen beibringen könnte.

Karenin: Haben Sie sonst noch eine Obliegenheit zu erfüllen?

Untersuchungsrichter: Mir liegt nur ob, meine Pflicht zu erfüllen, während Ihnen obliegt, sich zu rechtfertigen. Und ich rate Ihnen, was ich soeben auch Frau Protasowa riet: nichts zu verheimlichen, was vor aller Welt offenliegt, sondern den Hergang der Sache so zu erzählen, wie er war, umso mehr, als Herr Protasow ein umfassendes Geständnis abgelegt hat, das er voraussichtlich auch vor Gericht wiederholen wird. Ich rate Ihnen …

Karenin: Ich würde sie bitte, sich ganz im Rahmen Ihrer Pflichterfüllung zu halten und Ihre Ratschläge zu sparen. Wir können wohl gehen?

Geht auf Lisa zu. Sie erhebt sich und nimmt seinen Arm.

Untersuchungsrichter: Es tut mir leid, daß ich Sie noch dabehalten muß. Karenin wendet sich erstaunt nach ihm um. Ich will Sie nicht etwa verhaften lassen, o nein – obschon das möglicherweise die Feststellung der Wahrheit erleichtern würde. Ich will von dieser Maßregel Abstand nehmen. Ich möchte Sie nur mit Herrn Protasow konfrontieren und Ihnen Gelegenheit geben, ihn der Unwahrheit zu überführen. Wollen Sie gefälligst Platz nehmen. Zum Protokollführer. Rufen Sie Herrn Protasow herein.

Fedja tritt ein, schmutzig, verkommen.

Fedja zu Lisa und Karenin gewandt: Jelisaweta Andrejewna! Viktor! Ich bin nicht schuld. Ich habe das Beste gewollt. Und wenn mich eine Schuld trifft, dann vergebt mir, vergebt!

Verneigt sich tief vor ihnen.

Untersuchungsrichter: Ich bitte sie, auf meine Fragen zu antworten.

Fedja: Fragen Sie los.

Untersuchungsrichter: Ihr Name?

Fedja: Den wissen Sie doch!

Untersuchungsrichter: Antworten Sie gefälligst!

Fedja: Na also – Feodor Protasow.

Untersuchungsrichter: Stand? Konfession? Alter?

Fedja nach kurzem Schweigen: Wie Sie nur so überflüssige Fragen stellen können! Fragen Sie nach dem, worauf es ankommt, und nicht nach diesen Albernheiten.

Untersuchungsrichter: Ich bitte Sie, Ihre Ausdrücke vorsichtiger zu wählen und meine Fragen zu beantworten.

Fedja: Nun, wenn Sie sich nicht schämen, solche Fragen zu stellen, so vernehmen sie denn! Stand: Kandidat; Alter: vierzig Jahre; Konfession: rechtgläubig. Nun – weiter.

Untersuchungsrichter: Wußten Herr Karenin und Ihre Frau, daß Sie lebten, als Sie ihre Kleider am Flußufer niederlegten und sich selbst versteckten?

Fedja: Nicht das Geringste wußten sie. Ich wollte Selbstmord begehen, aber dann … doch das brauche ich hier nicht zu erzählen. Tatsache ist, daß sie gar nichts davon wußten.

Untersuchungsrichter: Sie haben aber vor dem Polizeibeamten eine ganz andere Aussage gemacht.

Fedja: Vor welchem Polizeibeamten? Ach, Sie meinen jenen, der bei mir im Asyl war? Da war ich betrunken und log ihm irgendetwas vor – was es war, weiß ich nicht mehr. Alles das ist Unsinn. Jetzt bin ich nüchtern und sage die volle Wahrheit. Sie haben nichts gewußt. Sie glaubten, ich sei nicht mehr am Leben. Und ich war froh, daß alles so ausging, und es wäre immer so geblieben, wenn nicht Artemjew, dieser Schuft, gewesen wäre. Wenn irgendjemand schuldig ist, dann bin ich es.

Untersuchungsrichter: Ich begreife sehr wohl, daß Sie großmütig sein wollen, aber das Gesetz verlangt Wahrheit. Warum hat man Ihnen Geld geschickt? Fedja schweigt. Sie haben durch Simonow das Ihnen nach Saratow geschickte Geld bekommen? Fedja schweigt. Warum antworten sie nicht? Es wird im Protokoll heißen: »Der Angeklagte verweigerte auf diese Frage die Antwort« – das kann Ihnen wie den beiden Mitangeklagten sehr schaden. Nun, wie wollen Sie es also halten?

Fedja nachdem er eine Weile geschwiegen: Empfinden Sie nicht, wie beschämend solche Fragen sind, Herr Untersuchungsrichter? Welchen Zweck hat es, so in fremden Angelegenheiten herumzuschnüffeln? Sie fühlen sich im Besitze der Macht und wollen sie dadurch zeigen, daß Sie Leute, die tausendmal besser und ehrenwerter sind als Sie, dieser moralischen Folter unterziehen.

Untersuchungsrichter: Ich bitte sie …

Fedja: Was gibt es da zu bitten? Ich sage, was ich denke, und Sie … zum Protokollführer … haben es niederzuschreiben. So wird doch endlich einmal solch ein Protokoll einen vernünftigen Inhalt bekommen. Mit erhobener Stimme. Zwischen uns, die wir hier vor Ihnen stehen, bestanden verwickelte Beziehungen – ein Streit des Guten mit dem Bösen, ein seelischer Kampf, von dem Sie sich keinen Begriff machen können. Dieser Kampf führte schließlich zu einer Katastrophe, die ihre Lösung fand. Alle Beteiligten waren mit dieser Lösung zufrieden, alle hatten sich beruhigt. Sie sind glücklich, sie lieben einander, und haben mich vergessen. Und ich war bei all meiner Verkommenheit darüber glücklich, daß ich getan, was ich sollte, daß ich kein Schurke war, daß ich aus dem Leben geschieden war, um denen nicht im Wege zu stehen, die voll des Lebens waren. Wir lebten alle drei weiter – bis plötzlich ein Schurke auf der Bildfläche erscheint, der mich zum Erpresser machen will. Ich heiße ihn seiner Wege gehen – und er geht zu Ihnen, dem Kämpfer für Recht und Gesetz, dem Hüter der Moral. Und Sie, der Sie an jedem Zwanzigsten des Monats Ihr Gehalt bekommen – zwanzig Kopeken für jede begangene Gemeinheit –, Sie werfen sich in Ihre Uniform und haben den Mut, sich über Leute, denen Sie nicht das Wasser reichen können, die Sie noch nicht einmal in ihr Vorzimmer einlassen würden, leichten Herzens lustig zu machen.

Untersuchungsrichter: Ich lasse Sie hinausführen …

Fedja: Ich fürchte mich vor niemand, denn ich bin ja ein Leichnam, und niemand kann mir etwas anhaben; schlimmer, als es mir schon geht, kann es mir nicht gehen. Immerzu also; lassen Sie mich abführen!

Karenin: Dürfen wir gehen?

Untersuchungsrichter: Unterschreiben Sie erst einmal das Protokoll!

Fedja: Wie lächerlich wäre es doch, wenn Sie nicht so widerwärtig wären!

Untersuchungsrichter: Ich verhafte Sie … er soll abgeführt werden.

Fedja zu Karenin und Lisa: Nachmals: verzeiht!

Karenin tritt auf Fedja zu und reicht ihm die Hand: Es hat wohl so kommen müssen …

Lisa geht an Fedja vorüber, der sich tief verneigt.

Vorhang.

 


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