Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Bild

 

Efeuumrankte Terrasse eines Landhauses.
Anna Dmitrijewna Karenina, Lisa, die schwanger ist, die Kinderfrau mit dem Kleinen.

 

Lisa: Nun ist er schon unterwegs von der Station.

Der Kleine: Wer?

Lisa: Papa.

Der Kleine: Papa kommt schon von der Station!

Lisa: C'est étonnant, comme il l'aime, tout-à-fait comme son père.

Anna Dmitrijewna: Tant mieux. Se souvient-il de son père véritable?

Lisa seufzt: Ich spreche mit ihm nicht davon. Ich sage mir, warum soll ich ihn verwirren? Und dann glaube ich wieder, es ihm doch sagen zu müssen. Wie denken Sie darüber, maman?

Anna Dmitrijewna: Ich denke, daß das eine Sache des Gefühls ist, Lisa. Höre auf diese Stimme, dein Herz wird dir schon zur rechten Zeit zuflüstern, was du ihm zu sagen hast. Welche versöhnende Wirkung übt doch der Tod aus! Ich gestehe, daß es eine Zeit gab, da mir Fedja, den ich ja noch als Kind gekannt habe, geradezu unangenehm war. Doch jetzt sehe ich ihn nur als den lieben Jungen vor mir, als Viktors Freund und als den leidenschaftlichen Menschen, der sich, wenn auch auf seine Art, die der Religion und den Sitten widerspricht, für diejenigen geopfert hat, die er liebte. On aura beau dire, l'action est belle … Ich hoffe, Viktor wird die Wolle nicht vergessen haben, ich bin gleich mit dem Knäuel zu Ende. Strickt.

Lisa: Da kommt er! Man hört das Rollen von Wagenrädern und Schellengeläut. Sie erhebt sich und tritt an den Rand der Terrasse vor. Eine Dame kommt mit ihm – ah, Mama! Wie lange ist's her, dass ich sie nicht gesehen habe! Geht nach der Tür.

Katrenin und Anna Pawlowna treten ein. Anna Pawlowna küßt Lisa und Anna Dmitrijewna.

Viktor hat mich getroffen und gleich mitgenommen.

Anna Dmitrijewna: Das war sehr vernünftig von ihm.

Anna Pawlowna: Ich sah ihn auf der Straße – ach, dachte ich, wer weiß, wann es sich wieder so trifft, und ohne lange zu überlegen, kam ich einfach mit. Wenn ihr mich nicht fortjagt, bleib' ich bis zum Abendzuge da.

Karenin küßt seine Frau, seine Mutter und den Kleinen: Denkt euch, welches Glück: ich bin zwei Tage dienstfrei! Morgen muß es einmal ohne mich gehen.

Lisa: Das ist ja herrlich! Zwei Tage! Das ist schon lange nicht dagewesen. Wir machen eine Fahrt über Land, nicht wahr?

Anna Pawlowna: Wie ähnlich er ihm ist! Wie hübsch und wie keck! Wenn er nur seinen Charakter nicht erbt!

Anna Dmitrijewna: Ja, diese Schwäche!

Lisa: Ganz auffallend ist die Ähnlichkeit, in allem. Auch Viktor ist der Ansicht. Aber wenn er von vornherein richtig erzogen wird …

Anna Pawlowna: Ich kann das alles noch nicht begreifen. Jedesmal, wenn ich mich seiner erinnere, sind mir die Tränen nahe.

Lisa: Uns geht es nicht besser – wie ist er in unserer Erinnerung gewachsen!

Anna Pawlowna: Ja, in der Tat.

Lisa: Alles schien uns eine Zeitlang so verzweifelt, geradezu unlösbar – und dann war es mit einem Schlage entschieden.

Anna Dmitrijewna: Hast du die Wolle mitgebracht, Viktor?

Karenin: Gewiß, gewiß. Nimmt die Reisetasche und sucht darin. Hier ist die Wolle, hier Eau de Cologne und hier die Korrespondenz. Zu Lisa. Ein amtliches Schreiben ist darunter, an deine Adresse. Reicht ihr einen Brief. Nun, Anna Pawlowna, wenn sie ein wenig Toilette machen wollen, begleite ich Sie. Auch ich muß mich etwas säubern, wir werden gleich zu Mittag essen. Das Eckzimmer unten ist doch für deine Mutter frei, nicht wahr, Lisa? Lisa ist blaß geworden, hält den Brief mit zitternden Händen und liest. Lisa, was ist dir? Was steht da drin?

Lisa: Er lebt! Mein Gott, wann wird er mich endlich freigeben? Viktor, was ist das? Bricht in lautes Weinen aus.

Karenin nimmt das Schreiben und liest: Das ist furchtbar!

Anna Dmitrijewna: Was denn? So sprich doch!

Karenin: Das ist furchtbar. Er lebt und sie ist eine Bigamistin und ich ein Verbrecher. Dieses Schreiben ladet Lisa vor den Untersuchungsrichter zur Vernehmung …

Anna Dmitrijewna: Ein entsetzlicher Mensch! Warum hat er das getan?

Karenin: Alles Lüge, Lüge!

Lisa: Oh, wie ich ihn hasse! Ich weiß nicht, was ich rede …

Weinend ab. Karenin folgt ihr.

Anna Pawlowna: Er lebt? Wie ist denn das möglich?

Anna Dmitrijewna: Ich wußte es: Wenn Viktor erst in diesen Schmutz hinabsteigt, wird er darin versinken. Jetzt ist es soweit. Alles Betrug, alles Lüge!

Vorhang

 


 << zurück weiter >>