Leo Tolstoi
Chadschi Murat
Leo Tolstoi

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Es war Chadschi Murat gestattet worden, in der Nähe der Stadt Spazierritte zu machen, doch nur in Begleitung einer Kosakeneskorte. Es befand sich in Nucha im ganzen ein halbes Hundert Kosaken, von denen zehn Mann beim Kommando Dienst taten, während die anderen da und dort Verwendung fanden und für die erforderlichen Dienstleistungen oft kaum genügten. Sollten nun, wie angeordnet war, mit Chadschi Murat stets zehn Mann ausreiten, so fehlten an andern Stellen die nötigen Mannschaften. Am ersten Tage wurden ihm, wie befohlen, zehn Mann beigegeben, dann aber entschied man, daß immer nur fünf Kosaken mitreiten sollten, und man bedeutete Chadschi Murat, er solle nicht immer seine sämtlichen Muriden mitnehmen.

Am 25. April jedoch ritt Chadschi Murat mit allen seinen Getreuen aus. Während er sein Pferd bestieg, bemerkte der Kosakenoffizier, daß alle fünf Muriden sich anschickten, Chadschi Murat zu begleiten. Der Offizier machte ihn darauf aufmerksam, daß ihm die Mitnahme seiner sämtlichen Leute untersagt sei, doch Chadschi Murat tat, als ob er seine Worte nicht höre, und ritt davon, worauf ihn der Offizier gewähren ließ. Der ihm beigegebene Unteroffizier war ein stattlicher, untersetzter, blonder junger Mensch namens Nasarow, die Wangen wie Milch und Blut, das Haar vom Scheitel aus nach vorn und hinten gekämmt und rund herum abgeschnitten. Mit Stolz trug Nasarow das Georgskreuz für Tapferkeit auf der Brust. Er war der älteste Sohn einer armen altgläubigen Familie, der den Vater früh verloren hatte und seine alte Mutter samt fünf jüngeren Geschwistern unterhielt.

»Laß ihn nicht zu weit reiten, Nasarow!« rief der Offizier ihm nach.

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren«, antwortete Nasarow und setzte, während er die Büchse auf dem Rücken zurecht schob, seinen großen stattlichen Fuchswallach in Trab. Die vier Kosaken ritten hinter ihm her. Der eine von ihnen war der als Dieb und Beutemacher bekannte Ferapontow, ein langer, hagerer Mensch, von dem Hamsalo Schießpulver gekauft hatte. Dann war da ein älterer Kosak, Ignatow mit Namen, dessen Dienstzeit eigentlich schon um war – ein stämmiger Bursche, der gern mit seiner Stärke prahlte. Der dritte der Kosaken, Mischkin, war ein schmächtiges, noch nicht volljähriges Kerlchen, über das alle sich lustig machten. Petralow, der vierte, war ein blonder junger Mann, stets munter und freundlich, der einzige Sohn seiner Mutter.

Der Morgen war nebelig, um die Frühstückszeit jedoch wurde das Wetter klar, und die Sonne schien hell auf das junge Laub, auf das frisch hervorsprießende, jungfräulich grüne Gras, auf die eben aufgegangenen Saaten und die gekräuselte Oberfläche des rasch hineilenden Flusses, der links vom Wege sichtbar war. Chadschi Murat ritt im Schritt daher, und die Kosaken sowie seine Muriden blieben dicht hinter ihm. So ging es ein ganzes Stück Weges vor die Festung hinaus. Frauen mit Körben auf dem Kopfe, Soldaten auf Fouragewagen, knarrende, mit Büffeln bespannte zweiräderige Karren begegneten ihnen. Als sie etwa zwei Werst von der Festung entfernt waren, brachte Chadschi Murat seinen kabardinischen Schimmel in eine raschere Gangart, und auch die Muriden und Kosaken setzten sich in Trab.

»Ein prächtiges Pferd hat er doch«, meinte Ferapontow. »Das hätte et damals haben sollen, wie er noch gegen uns war – ich hätt's ihm nicht lange gelassen!«

»In Tiflis hat man ihm dreihundert Rubel dafür geboten.«

»Und ich wette, daß ich ihn auf meinem Fuchs überhole«, sagte Nasarow.

»Das wollen wir doch erst sehen«, meinte Ferapontow.

Chadschi Murat ritt in immer rascherem Tempo.

»Heda, Freund, das geht nicht! Immer langsam!« lief Nasarow und ritt an Chadschi Murat heran.

Chadschi Murat sah sich nach ihm um und ritt, ohne ein Wort zu sagen, in seinem flotten Tempo zwischen Schritt und Paßgang weiter.

»Ich sag' euch, die Kerle haben etwas im Sinn«, sagte Ignatow. »Da – wie sie uns anglotzen!«

Noch eine Werst legte man so nach den Bergen hin zurück.

»Ich sag's noch einmal: das geht nicht so!« schrie Nasarow Chadschi Murat zu.

Chadschi Murat antwortet nicht und sah sich auch nicht um, sondern beschleunigte nur noch sein Tempo und ging in einen kurzen Galopp über.

»Nein, du entkommst mir nicht!« rief Nasarow, der sich an der Ehre gepackt fühlte.

Er versetzte seinem großen Fuchswallach einen kräftigen Peitschenhieb, richtete sich in den Steigbügeln auf, neigte sich vor und setzte in gestrecktem Galopp Chadschi Murat nach.

Der Himmel war so klar, die Luft so frisch, und die Lust und Freude am Leben erfüllte so ganz Nasarows Seele, als er jetzt mit seinem wackeren guten Tiere gleichsam in eins verwachsen, auf dem ebenen Wege hinter Chadschi Murat herjagte, daß ihm auch nicht der leiseste Gedanke kam, es könnte etwas Schlimmes, Schreckliches eintreten. Er freute sich nur, daß er mit jedem Satz, jedem Sprunge Chadschi Murat näher kam. Dieser schloß aus dem immer vernehmlicher klingenden Hufschlag des großen Kosakenpferdes, daß Nasarow ihn über kurz oder lang einholen mußte, und während er mit der rechten Hand nach seiner Pistole griff, suchte er mit der linken seinen in Hitze geratenen, durch die Hufschläge in seinem Rücken beunruhigten Kabardiner zurückzuhalten.

»Das geht nicht, sage ich!« schrie Nasarow, der nun schon fast Seite an Seite mit Chadschi Murat ritt und bereits die Hand ausstreckte, um den Zügel seines Pferdes zu fassen. Aber noch hatte er den Zügel nicht berührt, als plötzlich ein Schuß ertönte.

»Was fällt dir denn ein?« rief Nasarow und faßte nach seiner Brust. »Los auf sie, Jungens!« rief er den Kosaken zu und taumelte im Sattel zurück.

Doch die Muriden griffen noch vor den Kosaken zu den Waffen, schossen ihre Pistolen auf sie ab und hieben mit den Säbeln auf sie ein. Nasarow hing schlaff auf seinem Pferde, das führerlos mit ihm hinter den anderen Pferden herlief. Ignatows Pferd brach zusammen und riß seinen Reiter mit zu Boden; zwei der Bergbewohner hieben, ohne abzusteigen, auf seinen Kopf und seine Arme ein. Petrakow wollte dem Kameraden zu Hilfe kommen, aber zwei Schüsse, der eine in den Rücken und der andere in die Seite, machten ihn kampfunfähig, und er fiel wie ein Sack vom Pferde.

Mischkin hatte mit seinem Pferde Kehrt gemacht und war nach der Festung zurückgejagt. Chanefi und Bata setzten ihm nach, doch hatte er schon einen zu großen Vorsprung, als daß ihn die Muriden hätten erreichen können. Als sie das vergebliche ihres Bemühens erkannten, kehrten sie zu den Ihrigen zurück. Hamsalo, der mit seinem Dolche Ignatow den Rest gegeben hatte, versetzte auch Nasarow noch einen letzten Stich und riß ihn vom Pferde. Bata nahm den Getöteten die Patronentaschen ab. Chanefi wollte Nasarows Pferd mitnehmen, doch Chadschi Murat rief ihm zu, er solle es nur zurücklassen, und ritt im Galopp die Straße entlang weiter. Die Muriden jagten hinter ihm drein, gefolgt von Nasarows Pferde, das sie vergeblich zurückzuscheuchen suchten. Sie sprengten eben mitten durch die Reisfelder, als vom Turme in Nucha ein lauter Alarmschuß erdröhnte.

Petrakow lag mit aufgeschlitztem Bauche auf dem Kampfplatz, sein jugendliches Gesicht war dem Himmel zugewandt; wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte er lautlos nach Luft und starb.


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