Leo Tolstoi
Chadschi Murat
Leo Tolstoi

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Viertes Kapitel

Auf der Flucht vor den gegen ihn ausgesandten Muriden Schamyls begriffen, hatte Chadschi Murat drei Nächte schlaflos verbracht, und als nun Sado ihm gute Nacht wünschte und das Zimmer verließ, fiel der Gast sogleich in tiefen Schlaf. Er schlief in seinen Kleidern, auf die Hand gestützt, den Ellbogen in die roten Daunenkissen vergrabend, die ihm der Hausherr zurechtgelegt hatte. An der Wand, ganz in seiner Nähe, hatte Eldar sich niedergelegt. Eldar lag, die kräftigen jungen Schultern breit auseinanderstreckend, auf dem Rücken, und seine hohe Brust mit den schwarzen Patronen auf der weißen Tscherkeska lag höher als der frisch rasierte, bläulich schimmernde Kopf, der von dem Kissen herabgeglitten war. Seine mit leichtem Flaum bedeckte Oberlippe stand wie bei einem Kinde ab, und sein Mund schloß und öffnete sich abwechselnd, als schlürfe er etwas. Auch er schlief, gleich Chadschi Murat, in den Kleidern, mit der Pistole und dem Dolch im Gürtel. Das Feuer im Kamin verglomm, und das Lämpchen in der Nische schimmerte kaum merklich.

Mitten in der Nacht knarrte die Tür des Gastzimmers, Chadschi Murat fuhr sogleich empor und griff zu seiner Pistole. Sado war es, der, kaum hörbar über den Estrich schreitend, ins Zimmer getreten war.

»Was gibt es?« fragte Chadschi Murat mit einer Miene, als hätte er überhaupt kein Auge geschlossen.

»Wir müssen Rat halten«, sagte Sado, während er sich vor Chadschi Murat niederkauerte. »Eine Frau hat vom Dache aus gesehen, wie du ankamst, sie hat es ihrem Manne erzählt, und nun weiß es das ganze Dorf, daß du hier bist. Soeben kam die Nachbarin zu meiner Frau und erzählte ihr, daß die Ältesten in der Moschee darüber beraten, ob sie dich nicht festnehmen sollen.«

»Dann muß ich aufbrechen«, sagte Chadschi Murat.

»Die Pferde sind bereit«, sagte Sado und verließ rasch das Gastzimmer.

»Eldar«, rief Chadschi Murat leise seinen Gefährten. Als Eldar die Stimme seines Murschids vernahm und seinen eigenen Namen hörte, sprang er auf die kräftigen Beine empor und schob die Lammfellmütze auf dem Kopfe zurecht. Chadschi Murat legte seine Waffen an und nahm den Filzmantel um. Eldar folgte seinem Beispiel, und beide traten aus der Hütte unter das Schutzdach. Der schwarzäugige Knabe führte ihre Pferde vor. Als der Hufschlag der Pferde auf der festgestampften Straße erklang, erschien ein Kopf in der Tür der Nachbarhütte, und gleich darauf lief ein Mann, mit den Holzschuhen klappernd, bergan nach der Moschee.

Der Mond war nicht sichtbar, nur die Sterne schimmerten hell von dem schwarzen Himmel, und im Dunkel sah man die Umrisse der Hausdächer und der über die übrigen Gebäude emporragenden Moschee mit dem Minarett im oberen Teil des Dorfes. Von der Moschee her ließen sich laute Stimmen vernehmen.

Chadschi Murat zog sein Gewehr an, trat mit dem Fuß in den schmalen Steigbügel, schwang sich leicht aufs Pferd und setzte sich in dem hohen Sattelpolster zurecht.

»Gott vergelt's«, sagte er, zu seinem Gastfreund gewandt, während sein rechter Fuß gewohnheitsmäßig den zweiten Steigbügel suchte. Dann berührte er mit seiner Peitsche ganz leicht die Schulter des Knaben, der sein Pferd hielt, zum Zeichen, daß er zur Seite treten solle. Der Knabe trat zurück, und das Pferd wandte sich, als wenn es schon wüßte, was es zu tun hätte, mit raschem Schritt aus dem Seitengäßchen nach der Hauptstraße. Eldar ritt hinterher, während Sado in seinem Pelze, rasch die Arme hin und her schwenkend, und abwechselnd von einer Seite der schmalen Straße nach der andern laufend, ihnen folgte.

An einer Ausfahrt, die auf die Straße hinausging, zeigte sich ein beweglicher Schatten, dann ein zweiter.

»Halt! Wer da? Bleib stehen!« rief eine Stimme, und ein paar Gestalten traten den Reitern in den Weg.

Statt stehen zu bleiben, zog Chadschi Murat seine Pistole aus dem Gürtel, trieb sein Pferd an und sprengte gerade auf die Leute los, die ihm den Weg versperrten. Sie liefen zur Seite, und ohne sich umzusehen, jagte Chadschi Murat in raschem Paßgang bergab, die Straße entlang. Eldar folgte ihm in scharfem Trabe. Zwei Schüsse fielen hinter ihnen, und zwei Kugeln pfiffen vorüber, trafen jedoch keinen von ihnen. Chadschi Murat ritt in demselben Tempo weiter. Als er etwa dreihundert Schritte zurückgelegt hatte, hielt er sein Pferd, das ein wenig außer Atem gekommen war, einen Augenblick an und lauschte in die Ferne. Vor ihm rauschte in der Tiefe ein rasch fließendes Wasser. Hinter ihm krähten die Hähne im Dorfe. Durch diese Laute hindurch ließ sich plötzlich der Hufschlag von Pferden und ein Gewirr von menschlichen Stimmen, die vom Dorfe her immer näher kamen, vernehmen. Chadschi Murat trieb sein Pferd an und ritt, immer in derselben raschen Gangart, weiter. Die Verfolger jagten im Galopp heran und hatten Chadschi Murat bald erreicht. Es waren an die zwanzig Reiter, die ihm nachsetzten, lauter Einwohner des Dorfes, die beschlossen hatten, Chadschi Murat festzunehmen oder sich, um vor Schamyl gerechtfertigt dazustehen, wenigstens so zu stellen, als wollten sie ihn festnehmen. Als sie so nahe herangekommen waren, daß sie im Dunkeln zu sehen waren, machte Chadschi Murat halt, ließ den Zügel sinken, streifte mit einem raschen Griff der linken Hand das Futteral von seiner Büchse ab und zog sie mit der Rechten heraus. Eldar tat desgleichen.

»Was wollt ihr?« rief Chadschi Murat. »Mich festnehmen? Nun – so nehmt mich fest!« Und er riß die Büchse an die Schulter.

Die Dorfbewohner blieben stehen. Die Büchse im Arme, ritt Chadschi Murat weiter, einen Abhang hinunter, der auf den Grund einer Schlucht führte. Die Verfolger ritten hinterher, ohne sich ihm zu nähern. Als Chadschi Murat jenseits der Schlucht war, riefen sie ihm zu, er möchte doch anhören, was sie ihm zu sagen hätten. Als Antwort darauf schoß Chadschi Murat seine Büchse ab und galoppierte davon. Als er sein Pferd anhielt, hörte er nichts mehr von seinen Verfolgern, auch die Hähne waren nicht mehr zu hören; dafür klang das Rauschen des Wassers im Walde jetzt vernehmlicher, und von Zeit zu Zeit ertönte der klagende Schrei eines Uhus. Die dunkle Wand des Waldes schien in nächste Nähe gerückt. Es war jener Wald, in dem Chadschi Murat von seinen Muriden erwartet wurde. Als er den Waldrand erreicht hatte, machte er halt, holte tief Atem, ließ einen lauten Pfiff ertönen und horchte dann in die Nacht hinaus. Im nächsten Augenblick schon ertönte ein gleicher Pfiff aus dem Walde. Chadschi Murat bog vom Wege ab und ritt quer durch den Wald. Als er etwa hundert Schritte zurückgelegt hatte, sah er ein Feuer zwischen den Baumstämmen schimmern; menschliche Gestalten lagerten um das Feuer, dessen Schein auf ein in der Nähe grasendes, an drei Beinen gefesseltes, jedoch sattelfertiges Pferd fiel.

Es waren vier Männer, die um das Feuer herumsaßen. Einer von ihnen erhob sich rasch, kam auf Chadschi Murat zu und griff nach seinem Zügel und dem Steigbügel. Es war Chadschi Murats Blutsbruder Chanefi, der sein Hauswesen und seine Güter verwaltete.

»Löscht das Feuer aus«, sagte er, während Chadschi Murat vom Pferde stieg.

Die Leute am Feuer begannen sogleich, es auszulöschen, indem sie die brennenden Haufen auseinanderwarfen und die glimmenden Äste austraten.

»Ist Bata hier gewesen?« fragte Chadschi Murat, auf den Filzmantel zutretend, der auf der Erde hingebreitet lag.

»Ja. Er ist schon lange fort, mit Chan Mahoma.«

»Welchen Weg haben sie eingeschlagen?«

»Diesen da,« antwortete Chanefi; er zeigte nach einer Richtung, die jener entgegengesetzt war, aus der Chadschi Murat gekommen.

»Es ist gut,« sagte Chadschi Murat und begann seine Büchse zu laden. »Wir müssen Wachen ausstellen, sie haben mir nachgesetzt,« sprach er dann zu einem der Männer, der noch damit beschäftigt war, das Feuer auszulöschen.

Es war der Tschetschenze Hamsalo, den Chadschi Murat angesprochen hatte. Hamsalo ging zu dem Filzmantel hin, ergriff eine im Futteral steckende Büchse, die dort lag, und begab sich schweigend an den Rand der Lichtung, nach jener Seite, von der Chadschi Murat hergekommen war. Eldar, der abgestiegen war und sein Pferd, wie auch dasjenige Chadschi Murats, mit hochgestrecktem Kopfe an den Bäumen in der Nähe festgebunden hatte, begab sich gleichfalls mit der Büchse über der Schulter an den Rand der Lichtung. Das Feuer war ausgelöscht, und der Wald erschien nun nicht mehr so schwarz wie vorher. Am Himmel blinkten, wenn auch nur mit schwachem Schimmer, die Sterne.

Chadschi Murat sah zu den Sternen auf – er suchte das Siebengestirn, das bereits bis zur Hälfte des Himmels emporgestiegen war. Sie sagten ihm, daß es lange nach Mitternacht sei, und daß es längst Zeit sei, das Nachtgebet zu verrichten. Er ließ sich von Chanefi das Becken reichen, das stets beim Gepäck mitgeführt wurde, zog seinen Filzmantel an und begab sich an das Wasser.

Er zog seine Schuhe aus und nahm die Fußwaschung vor, worauf er mit bloßen Füßen auf den ausgebreiteten Filzmantel trat, niederhockte und zunächst, Augen und Ohren mit den Fingern zuhaltend, mit nach Osten gewandtem Gesichte das übliche Gebet sprach.

Als er das Gebet beendet hatte, kehrte er an den Lagerplatz zurück, setzte sich dort neben den Sätteln und Quersäcken auf den Filzmantel, stützte die Ellbogen auf die Knie, ließ den Kopf sinken und vertiefte sich in seine Gedanken.

Chadschi Murat hatte stets an sein Glück geglaubt. Wenn er etwas unternahm, war er von vornherein fest davon überzeugt, daß der Erfolg ihm sicher sei, und er hatte in der Tat während seines stürmischen, von Kampf und Streit bewegten Lebens fast immer Glück gehabt. Er hoffte, daß es auch diesmal nicht anders sein würde. Er stellte sich vor, daß er mit den Truppen, die ihm Woronzow zur Verfügung stellte, gegen Schamyl ziehen, ihn gefangen nehmen und an ihm Rache nehmen würde, daß alsdann der Zar ihn dafür belohnen und er nicht nur über Awarien, sondern auch über die gedemütigte Tschetschna herrschen würde. Mit diesen Gedanken beschäftigt, war er unversehens eingeschlafen.

Er sah im Traume, wie er mit seinen tapferen Getreuen unter Gesang und lautem Kampfgeschrei: »Chadschi Murat kommt!« gegen Schamyl losstürmte, wie er ihn samt seinen Frauen gefangen nahm, und er hörte das Schluchzen und Weinen der Weiber. Er erwachte aus dem Traume: das Kampflied »La Illaha!«, das Kriegsgeschrei »Chadschi Murat kommt!« und das Weinen der Frauen Schamyls war in Wirklichkeit nichts anderes als das Heulen, Weinen und Lachen der Schakale, die ihn aus dem Schlafe aufgestört hatten. Chadschi Murat hob den Kopf empor, sah nach dem bereits zwischen den Baumstämmen hindurchschimmernden Morgenhimmel und fragte einen der Muriden, der ein wenig abseits von ihm saß, ob Chan Mahoma schon zurück sei. Als er vernahm, daß Chan Mahoma noch nicht da sei, ließ er den Kopf von neuem sinken und schlummerte sogleich wieder ein.

Er wurde durch die muntere Stimme Chan Mahomas geweckt, der mit Bata von seiner Sendung zurückgekehrt war. Chan Mahoma setzte sich sogleich zu Chadschi Murat hin und begann ihm zu erzählen, wie die Soldaten ihn empfangen und zum Fürsten selbst geführt hätten, wie er mit dem Fürsten selbst gesprochen habe, wie der Fürst hocherfreut gewesen sei und versprochen habe, mit ihnen jenseits des Migik, auf der Schamylskischen Lichtung, wo die Russen Holz fällen wollten, zusammenzutreffen. Bata unterbrach immer wieder den Bericht seines Gefährten und flocht seinerseits allerhand Einzelheiten ein.

Chadschi Murat fragte seine Boten ganz eingehend und genau nach dem Wortlaut der Antwort, die Woronzow auf Chadschi Murats Anerbieten, zu den Russen überzugehen, erteilt hätte. Sowohl Chan Mahoma, wie auch Bata, antworteten einstimmig, der Fürst habe versprochen, Chadschi Murat als seinen Gast zu empfangen und aufs beste zu behandeln. Chadschi Murat erkundigte sich noch über den Weg, und als Chan Mahoma ihm versicherte, daß er den Weg ganz genau kenne und ihn sicher hinführen würde, nahm er Geld aus der Tasche und gab Bata die versprochenen drei Silberrubel. Seinen Leuten aber befahl er, aus den Quersäcken die kostbaren goldverzierten Waffen und die Lammfellmütze mit dem Turban hervorzuholen, sich selbst aber äußerlich so blank und sauber zu machen, daß sie in den Augen der Russen wohl bestehen könnten. Während sie die Waffen, das Sattelzeug, das Geschirr und die Pferde putzten, ward der Sternenhimmel bleicher und bleicher. Bald wurde es ganz hell, und der Morgenwind rauschte leise durch die Wipfel der Bäume.


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