Leo Tolstoi
Chadschi Murat
Leo Tolstoi

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Dreizehntes Kapitel

Chadschi Murat empfing den Adjutanten mit vergnügtem Gesichte.

»Nun, wollen wir fortfahren?« begann er, auf dem Diwan Platz nehmend.

»Unbedingt«, sagte Loris Melikow. »Ich war inzwischen bei deinen Trabanten und habe mich mit ihnen unterhalten. Einer von ihnen ist ein recht lustiger Junge.«

»Du meinst Chan Mahoma – ja, das ist ein leichter Bursche«, sagte Chadschi Murat.

»Recht gut hat mir der hübsche, schlanke Jüngling gefallen.«

»Ah, Eldar! Ja, der ist noch jung, aber treu und zuverlässig wie von Eisen.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Soll ich nun weiter erzählen?«

»Ja, ja.«

»Ich beschrieb dir zuletzt, wie die Chane getötet wurden. Als nun Hamsat sie getötet hatte, hielt er seinen Einzug in Chunsach und nahm im Palaste der Chane Wohnung. Es war jetzt nur noch die Mutter der Chane übrig geblieben. Hamsat ließ sie vor sich kommen, und sie begann ihm Vorwürfe zu machen. Da gab er seinem Muriden Asselder einen Wink, worauf dieser ihr von hinten einen Schlag über den Kopf versetzte, daß sie tot hinfiel.

»Warum hat er denn auch die Alte getötet?« fragte Loris Melikow.

»War er mit den Vorderbeinen über den Zaun gekrochen, so mußten auch die Hinterbeine nach. Das ganze Geschlecht sollte ausgerottet werden, und so geschah es auch. Den jüngsten der Chane hatte Schamyl beseitigt, er hatte ihn in einen Abgrund gestürzt.

»Ganz Awarien unterwarf sich nun Hamsat, nur wir zwei, ich und mein Bruder unterwarfen uns nicht. Wir hatten die Chane an ihm zu rächen und forderten sein Blut. Zum Scheine zwar unterwarfen wir uns, doch dachten wir immer nur daran, wie wir unser Rachewerk ausführen könnten. Wir berieten uns mit unserem Großvater, dem Silberschmied, und beschlossen, den Augenblick abzupassen, da Hamsat den Palast verlassen würde, und ihn dann aus dem Hinterhalt zu töten. Unser Gespräch war jedoch belauscht und Hamsat hinterbracht worden. Er ließ den Großvater vor sich kommen und sprach zu ihm: ›Höre einmal, wenn es wahr ist, daß deine Enkel Böses gegen mich im Schilde führen, dann sollst du mit ihnen zusammen an demselben Galgen hängen! Ich tue Gottes Werk, und niemand soll mich darin behindern. Nun geh und merke es dir, was ich gesagt habe.‹«

»Der Großvater kam heim und sagte uns alles. Da beschlossen wir, nicht länger zu warten, sondern unsern Plan gleich am nächsten Feiertag in der Moschee zur Ausführung zu bringen. Die Freunde, die wir eingeweiht hatten, weigerten sich mitzugehen, und so blieben wir beide, ich und mein Bruder, ganz allein übrig.«

»Wir nahmen jeder eine Pistole, hingen unsere Filzmäntel um und gingen nach der Moschee. Hamsat erschien, von dreißig Muriden begleitet. Sie hatten alle die blanken Säbel in der Hand. Asselder, sein Liebling – derselbe, der der Mutter der Chane den Kopf abgeschlagen hatte –, sah uns und rief, wir sollten die Filzmäntel abtun. Als er auf uns zu kam, zückte ich den Dolch nach ihm und erstach ihn. Dann warf ich mich auf Hamsat, aber mein Bruder Osman hatte bereits nach ihm geschossen. Hamsat lebte noch und stürzte sich mit dem Dolch auf den Bruder, doch ich schoß ihn durch den Kopf, daß er tot niederfiel. Die Muriden waren zu dreißig, und wir nur zwei. Meinen Bruder Osman töteten sie, ich aber konnte mich ihrer erwehren, sprang zum Fenster hinaus und entkam.

»Als es ruchbar wurde, daß Hamsat getötet sei, erhob sich das ganze Volk und die Muriden entflohen. Die nicht mehr entfliehen konnten, wurden niedergemacht.«

Chadschi Murat hielt inne und schöpfte tief Atem.

»So weit war alles gut,« fuhr er fort, »dann aber ward alles verdorben. Schamyl trat an Hamsats Stelle. Er schickte Boten zu mir und ließ mir sagen, ich solle mit ihm gegen die Russen ziehen – falls ich mich weigerte, drohte er, Chunsach zu zerstören und mich zu töten. Ich ließ ihm antworten, daß ich weder zu ihm kommen, noch auch dulden würde, daß er zu mir käme.«

»Warum bist du nicht zu ihm gegangen?« fragte Loris Melikow.

Chadschi Murat runzelte die Stirn und antwortete nicht sogleich.

»Ich durfte es nicht. An Schamyl klebte das Blut meines Bruders Osman und des jungen Chans Abununzal. Nein, ich ging nicht zu ihm. Rosen, der General, schickte einen Offizier zu mir und befahl mir, den Befehl über Awarien zu übernehmen. Nun wäre das ja recht gut gewesen, aber Rosen hatte vorher den Chan Mahomet Mirsa von Nasi-Kumyksk und nach diesem Achmet Chan über Awarien gesetzt. Dieser hatte einen Haß auf mich, er hatte einmal für seinen Sohn um die Schwester der Chane von Chunsach angehalten und schrieb es mir zu, daß seine Werbung abgewiesen wurde. Er schickte seine Trabanten, die mich töten sollten, doch entfloh ich ihnen. Da verleumdete er mich beim General Klugenau, dem er sagte, ich hätte es den Awaren verboten, den russischen Soldaten Holz zu geben. Auch daß ich diesen Turban hier« – Chadschi Murat zeigte nach dem Turban auf seiner Mütze – »aufgesetzt hätte, sagte er dem General und legte dies dahin aus, daß ich mich damit als Anhänger Schamyls bekenne. Der General aber glaubte ihm nicht und ließ nicht zu, daß mir auch nur ein Haar gekrümmt würde. Doch als der General nach Tiflis gefahren war, rückte Achmet Chan mit einer Kompagnie Soldaten gegen mich heran und nahm mich gefangen. Er ließ mich in Ketten schmieden und an eine Kanone binden.

»Sechs Tage und sechs Nächte mußte ich so verharren. Am siebenten Tage wurde ich losgebunden und nach Temir Chan-Schura abgeführt. Vierzig Soldaten mit geladenen Gewehren brachten mich dahin. Meine Hände waren gefesselt, und es war Befehl erteilt, mich zu töten, wenn ich einen Fluchtversuch machen sollte. Ich wußte das. Als wir uns dem Moksoch näherten, wurde der Weg, auf dem wir marschierten, ganz schmal. Zur Rechten zog sich ein Abgrund hin, wohl fünfzig Klafter tief. Ich entfernte mich von den Soldaten nach rechts hin, nach dem Rande des Abgrundes. Der Soldat, der neben mir herging, wollte mich zurückhalten, doch ich machte einen Sprung nach dem Abgrund hin und zog den Soldaten mit. Er blieb zerschmettert unten liegen, ich aber kam mit dem Leben davon. Die Rippen, der Schädel, die Arme und Beine – alles war gebrochen. Ich versuchte zu kriechen, vermochte es jedoch nicht. Ein Schwindel befiel mich, und ich wurde ohnmächtig. Als ich erwachte, war ich ganz durchnäßt von Blut. Ein Hirte fand mich und rief Leute herbei, die mich in ein Dorf brachten. Die Rippen und der Kopf wurden heil, und auch die Gliedmaßen heilten, nur daß das eine Bein kürzer blieb.«

Und Chadschi Murat streckte das kürzere Bein vor.

»Es tut immer noch gute Dienste«, fuhr er fort. »Als die Leute hörten, wie ich die Freiheit wiedergewonnen hatte, kamen sie herbei, um mich zu sehen. Sobald ich gesund geworden, begab ich mich nach Zelmes. Die Awaren forderten mich auf, wieder über sie zu gebieten, und ich willigte ein«, sagte er mit ruhigem, selbstbewußtem Stolze.

Chadschi Murat erhob sich rasch. Er nahm ein Portefeuille aus einem seiner Reisesäcke, zog daraus zwei vergilbte Briefe hervor und reichte den einen davon Loris Melikow. Es waren Briefe des Generals Klugenau. Loris Melikow las ihn, er lautete: »An den Fähnrich Chadschi Murat. Du hast mir gedient, und ich war mit Dir zufrieden und hielt Dich für einen guten Menschen. Kürzlich aber hat Achmet Chan mich benachrichtigt, daß Du ein Verräter bist, daß Du den Turban um Dein Haupt gelegt hast, daß Du zu Schamyl in Beziehungen stehst und dem Volke predigst, es solle der russischen Obrigkeit nicht gehorchen. Ich gab Befehl, Dich festzunehmen und mir vorzuführen, doch Du bist entflohen; ich weiß nicht, ob dies für Dich gut oder schlimm ist, da ich nicht weiß, ob Du schuldig bist oder nicht. Höre nun, was ich Dir sage. Wenn Du vor dem großen Zaren ein reines Gewissen hast und Dich unschuldigst fühlst, dann erscheine vor mir. Fürchte Dich vor niemand, ich bin Dein Beschützer. Der Chan kann Dir nichts anhaben; er steht selbst unter meiner Botmäßigkeit, Du hast also nichts zu fürchten.« Weiter schrieb Klugenau noch, er habe stets sein Wort gehalten und sei stets gerecht gewesen, und zum Schluß ermahnte er Chadschi Murat nochmals, sich ihm zu stellen.

Als Loris Melikow den ersten Brief gelesen hatte, wies Chadschi Murat nach dem zweiten, übergab ihn jedoch nicht sogleich dem Adjutanten, sondern erzählte erst, was er auf jenen ersten Brief geantwortet habe.

»Ich schrieb ihm: ich trage wohl den Turban, jedoch nicht um Schamyls, sondern um meines Seelenheiles willen; zu Schamyl könne und wolle ich nicht übergehen, da er schuld sei, daß mein Vater, meine Brüder und viele meiner Verwandten getötet worden seien. Doch auch zu den Russen könne ich nicht übergehen, da ich von ihnen schmählich beleidigt worden sei. Als ich in Chunsach gefesselt am Boden lag, habe einer von ihnen mich mit seinem Kot besudelt, und ich könne nicht eher zu ihnen übergehen, als bis dieser Mensch getötet sei. Vor allem aber sei ich in Furcht vor dem Lügner Achmet Chan.«

»Da schrieb der General mir diesen zweiten Brief,« sagte Chadschi Murat und reichte Loris Melikow ein zweites vergilbtes Blatt.

»Ich danke Dir für die Antwort, die Du mir auf meinen Brief gesandt hast,« las Loris Melikow. »Du schreibst, es geschehe nicht aus Furcht, daß Du nicht zurückkehrst, sondern wegen der Schmach, die Dir von einem Giauren angetan worden. Ich versichere Dich aber, daß das russische Gesetz gerecht ist, und vor Deinen Augen soll derjenige bestraft werden, der es gewagt hat, Dich so schwer zu beleidigen. Ich habe schon Auftrag gegeben, diese Angelegenheit zu untersuchen. Doch höre nun weiter, Chadschi Murat. Ich hätte wohl ein Recht, mit Dir unzufrieden zu sein, weil Du mir und meinem Ehrenwort nicht traust, doch verzeihe ich Dir, da ich weiß, daß Ihr Bergbewohner überhaupt sehr mißtrauisch seid. Wenn Dein Gewissen rein ist, wenn Du den Turban nur um Deines Seelenheils willen aufgesetzt hast, dann bist Du im Recht und kannst der russischen Obrigkeit und auch mir offen ins Auge sehen. Jener Mensch, der Dich so schwer beleidigt hat, soll, dessen versichere ich Dich, schwer bestraft werden, auch Dein Vermögen soll Dir zurückgegeben werden, und Du wirst sehen und erkennen, was das russische Gesetz bedeutet. Um so mehr, als die Russen die Dinge anders ansehen als Ihr, in ihren Augen nämlich bist Du dadurch, daß irgendein Schurke sich so schändlich gegen Dich benommen hat, durchaus nicht entehrt. Ich selbst habe den Gimrinzern erlaubt, den Turban zu tragen, und nehme ihre Angelegenheiten wahr, wie es sich gehört; ich wiederhole also, daß Du gar nichts zu befürchten hast. Komm zu mir mit dem Manne, den ich jetzt zu Dir sende; er ist mir treu ergeben, er ist nicht der Sklave Deiner Feinde, sondern der Freund eines Mannes, der bei seiner Regierung großes Gewicht hat.«

Nochmals forderte dann der General Chadschi Murat auf, zu ihm zu kommen.

»Ich glaubte diesen Worten nicht,« sagte Chadschi Murat, als Loris Melikow den Brief zu Ende gelesen hatte, »und ich ging nicht zu Klugenau. Ich hatte vor allem an Achmet Chan Rache zu nehmen, und dazu hätten die Russen mir nicht verholfen. Damals umringte gerade Achmet Chan mit seinen Leuten unser Dorf Zelmes und wollte mich gefangen nehmen oder töten. Ich hatte zu wenig Leute und konnte ihn allein nicht zurückschlagen. Um jene Zeit nun kam zu mir ein Bote mit einem Briefe von Schamyl. Er versprach mir Hilfe gegen Achmet Chan, den er töten wollte, und bot mir die Herrschaft über ganz Awarien an. Ich überlegte lange und ging schließlich zu Schamyl über. Und von dieser Zeit an lag ich beständig mit den Russen in Fehde.«

Chadschi Murat ließ nun einen Bericht über alle seine kriegerischen Unternehmungen folgen. Es waren ihrer gar viele, und Loris Melikow kannte sie zum Teil schon. Alle seine Angriffe und Überfälle zeichneten sich durch eine ungewöhnliche Kühnheit und Schlagfertigkeit aus, und der Erfolg war ihm stets treu gewesen.

»Eine Freundschaft hat zwischen mir und Schamyl niemals bestanden,« sagte Chadschi Murat zum Schluß seiner Erzählung, »er fürchtete mich vielmehr und bedurfte zugleich meiner. Da geschah es nun, daß mich jemand fragte, wer nach Schamyl Imam werden solle. Ich antwortete, derjenige werde Imam sein, der den schärfsten Säbel habe. Diese Worte wurden Schamyl hinterbracht, und er trachtete fortan, mich loszuwerden. Er schickte mich nach Tabarasan. Ich zog dahin und erbeutete tausend Schafe und dreihundert Pferde. Da erklärte er, ich hätte seinen Befehl nicht richtig ausgeführt, entsetzte mich meines Amtes als Nahib und befahl mir, ihm alles Geld zu übersenden. Ich schickte ihm tausend Goldstücke, er aber sandte seine Muriden zu mir und beraubte mich meines ganzen Vermögens. Er forderte mich auf, zu ihm zu kommen, doch ich wußte, daß er mich töten wollte, und ging nicht hin. Er wollte mich nun mit Gewalt festnehmen lassen, doch ich schlug seine Leute zurück und ging zu Woronzow. Nur meine Familie konnte ich nicht mit mir nehmen. Meine Mutter, meine Frau und meine Kinder sind in seinen Händen. Sag' dem Sardar, daß, solange meine Familie sich dort befindet, ich nichts zu unternehmen vermag.«

»Ich werde es ihm sagen,« versetzte Loris Melikow.

»Nimm dich meiner an, bemühe dich für mich. Was mein ist, soll auch dein sein, nur tritt mir bei dem Fürsten für mich ein. Ich bin gefesselt und gebunden, und Schamyl hält das Ende des Strickes in der Hand.«

Mit diesen Worten endete Chadschi Murat seinen Bericht an Loris Melikow.


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