Leo Tolstoi
Chadschi Murat
Leo Tolstoi

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Zehntes Kapitel

Als Chadschi Murat tags darauf bei Woronzow erschien, war der Empfangssalon des Fürsten von Menschen überfüllt. Der General mit dem aufgezwirbelten Schnurrbart, der am Tage vorher beim Statthalter zur Tafel geladen gewesen, war zur Abschiedsaudienz in Galauniform mit allen Orden erschienen. Ferner war da ein Regimentskommandeur, der vor das Kriegsgericht kommen sollte, weil er Verpflegungsgelder seines Regiments unterschlagen hatte. Ein reicher Armenier, ein Schützling des Doktor Andrejewskij, war gekommen, um seinen Branntweinpachtvertrag zu erneuern. Die ganz in schwarz gekleidete Witwe eines gefallenen Offiziers harrte des Augenblickes, da sie dem Statthalter die Bitte um Gewährung einer Pension oder um Unterbringung ihrer Kinder in einem Institut auf Kosten der Krone vortragen durfte. Ein bankerotter grusinischer Fürst war in der malerischen Tracht seiner Heimat erschienen, sich um die Pacht eines freigewordenen Kirchengutes zu bewerben. Ein Polizeikommissär war mit einem großen Aktenkonvolut unter dem Arme gekommen, das ein von ihm ausgearbeitetes neues Projekt zur Unterwerfung des Kaukasus enthielt. Ein tatarischer Chan endlich hatte sich einzig zu dem Zweck eingefunden, um zu Hause erzählen zu können, er sei beim Fürsten gewesen.

Alle wurden der Reihe nach empfangen, und der hübsche, blonde, jugendliche Adjutant geleitete einen nach dem andern in das Kabinett des Fürsten.

Als Chadschi Murat mit kräftigem Schritt, nur ganz leicht hinkend, den Empfangssalon betrat, wandten sich ihm sogleich alle Blicke zu, und er hörte, wie bald hier, bald dort sein Name geflüstert wurde.

Chadschi Murat trug über einem braunen, am Kragen mit einer schmalen silbernen Borte verzierten Beschmet eine lange weiße Tscherkeska. An den Beinen trug er schwarze Strumpfschafte und ebensolche Überschuhe über den glatt anliegenden Pantoffeln; auf seinem Kopfe saß die Lammfellmütze mit dem Turban – demselben Turban, den er seinerzeit, als er sich Schamyl anschloß, aufgesetzt hatte, und um dessentwillen General Klugenau ihn dann später auf die Denunziation Achmet Chans hin hatte festnehmen lassen. Kühn und sicher schritt Chadschi Murat über das Parkett des Empfangssalons hin, wobei sein in den Hüften schlank erscheinender Oberkörper leicht nach dem einen, etwas kürzeren Beine hinüberwippte. Seine weit auseinanderstehenden Augen blickten ruhig vorwärts und schienen niemanden zu sehen.

Der hübsche Adjutant begrüßte Chadschi Murat und bat ihn, so lange Platz zu nehmen, bis er ihn dem Fürsten gemeldet hätte. Chadschi Murat lehnte jedoch ab, sich zu setzen – die Hand an den Griff seines Dolches legend und das Bein zur Seite setzend, blieb er stehen und blickte mit geringschätziger Miene auf alle Anwesenden.

Der Dolmetscher, Fürst Tarchanow, trat auf Chadschi Murat zu und begann ein Gespräch mit ihm. Chadschi Murat gab nur widerwillige kurze Antworten. Aus dem Kabinett des Statthalters trat ein kumykischer Fürst, der sich über einen russischen Kommissar beschwert hatte, und gleich darauf rief der Adjutant Chadschi Murat auf. Er geleitete ihn bis zur Tür des Kabinetts und ließ ihn eintreten.

Woronzow empfing Chadschi Murat an der Ecke seines Schreibtisches stehend. Das greise weiße Gesicht des Oberstkommandierenden zeigte diesmal nicht dieselbe lächelnde Miene wie gestern, sondern hatte eher einen strengen und feierlichen Ausdruck.

Als Chadschi Murat in das große Zimmer mit dem riesigen Schreibtisch und den von grünen Portieren umrahmten großen Fenstern trat, legte er seine sonnenverbrannten kleinen Hände auf jene Stelle der Brust, an der die beiden Seiten seiner weißen Tscherkeska sich kreuzten, und im kumykischen Dialekt, den er geläufig sprach, begann er langsam, klar vernehmlich, mit ehrerbietig gesenkten Augen:

»Ich begebe mich hiermit unter den hohen Schutz des großen Zaren und Eurer Durchlaucht. Ich verspreche, dem weisen Zaren bis zum letzten Blutstropfen treu zu dienen, und hoffe im Kriege mit Schamyl, der mein Feind so gut wie der Eurige ist, Euch von Nutzen zu sein.«

Woronzow hörte die von dem Dolmetscher übertragenen Worte und blickte Chadschi Murat an, während dieser ihm ins Gesicht sah.

Die Augen der beiden Männer trafen sich und sagten einander gar vieles, was sich mit Worten nicht ausdrücken ließ, und was jedenfalls mit der Kundgebung nicht übereinstimmte, die der Dolmetscher soeben übertragen hatte. Sie sagten einander, ohne den Mund zu öffnen, die ganze unverhüllte Wahrheit: Woronzows Augen sagten, daß er nicht ein einziges Wort von alledem glaube, was Chadschi Murat soeben gesprochen, daß er ganz genau wisse, jener sei ein Feind alles Russischen und werde es immer bleiben, und wenn er sich jetzt unterwerfe, so geschehe es nur, weil er sich nicht anders zu helfen wisse. Und Chadschi Murat begriff seinerseits vollkommen, daß Woronzow alles dies wisse, und fuhr doch fort, ihm seine Ergebenheit zu beteuern. Seine Augen sagten, daß es diesem Greise besser anstehe, an den Tod zu denken als an den Krieg, daß er, obschon alt, doch noch immer ein durchtriebener Fuchs sei, vor dem man auf der Hut sein müsse. Und Woronzow war sich darüber klar, daß der andere ihn durchschaute, aber sein Mund sprach zu Chadschi Murat nur Worte, die ihm durch die Rücksicht auf den kriegerischen Erfolg geboten schienen.

»Sag' ihm,« sprach Woronzow zu dem Dolmetscher – er pflegte alle seine jungen Offiziere zu duzen – »daß unser Herrscher ebenso gnädig und mild wie mächtig ist, und daß er auf meine Fürsprache hin ihm voraussichtlich verzeihen und ihn in seine Dienste nehmen wird. Hast du es ihm übersetzt?« fragte er und sah Chadschi Murat dabei an. »Teile ihm nun mit, daß er bis zum Eintreffen der allergnädigsten Entschließung meines Gebieters hier unter meiner Obhut verbleiben wird, und daß ich bemüht sein werde, ihm den Aufenthalt bei uns angenehm zu machen.«

Chadschi Murat legte nochmals die Hände mitten auf seine Brust und sprach irgend etwas in raschem Tempo.

Der Dolmetscher übertrug seine Worte: er habe auch früher schon, als er im Jahre 1839 über Awarien gebot, den Russen treu gedient und keinen Verrat an ihnen geübt, und er wäre nie von ihnen wieder abgefallen, wenn nicht sein Feind Achmet Chan gewesen wäre, der sein Verderben wollte und ihn bei General Klugenau verleumdet hätte.

»Ich weiß, ich weiß,« sagte Woronzow, obschon er das, was er zu wissen vorgab, längst vergessen hatte. »Ich weiß das alles,« wiederholte er, während er Platz nahm und Chadschi Murat ersuchte, sich auf einen an der Wand stehenden niedrigen Diwan zu setzen. Doch Chadschi Murat setzte sich nicht, sondern machte mit seinen kräftigen Schultern eine Bewegung, die besagen sollte, daß er es nicht für angemessen halte, in Gegenwart eines so hochgestellten Mannes überhaupt zu sitzen.

»Achmet Chan sowohl, wie Schamyl waren beide meine Feinde,« fuhr er, zu dem Dolmetscher gewandt, fort. »Sag' dem Fürsten, Achmet Chan sei gestorben, ohne daß ich an ihm hätte Rache nehmen können, doch Schamyl sei noch am Leben, und ich wolle nicht sterben, ohne ihm heimgezahlt zu haben, was er mir angetan.« Er biß die Zähne aufeinander und legte die Stirn in Falten, als er dieses sprach.

»Ja, ja,« entgegnete Woronzow ruhig. »Wie will er's denn aber dem Schamyl heimzahlen?« wandte er sich zum Dolmetscher. »Sag' ihm doch, daß er sich setzen soll.«

Chadschi Murat weigerte sich abermals, sich zu setzen, und als er nun gefragt wurde, was ihn eigentlich bewogen habe, zu den Russen überzugehen, antwortete er, es sei der Wunsch gewesen, ihnen bei der Niederwerfung Schamyls zu helfen.

»Sehr schön, sehr schön,« entgegnete Woronzow. »Und was gedenkt er zu diesem Zwecke zu tun? So nimm doch Platz, nimm Platz!« wandte er sich zu Chadschi Murat selbst.

Chadschi Murat setzte sich endlich und führte nun aus, was er vorhätte: die Russen sollten ihm nur Soldaten genug mitgeben und ihn an die lesghische Linie schicken, dann verbürge er sich dafür, daß ganz Daghestan sich erheben und Schamyl nicht länger imstande sein würde, sich zu halten.

»Das ist gut, das scheint kein übler Plan,« sagte Woronzow. »Ich werde über die Sache nachdenken.«

Der Dolmetscher übersetzte Chadschi Murat Woronzows Worte.

Chadschi Murat sann ein Weilchen nach.

»Sag' dem Sardar auch noch,« sprach er dann, »daß meine Familie sich in den Händen meines Feindes befindet, und daß, solange dies der Fall ist, mir die Hände gebunden sind und ich den Russen nicht dienen kann. Er würde mein Weib, meine Mutter, meine Kinder töten, wenn ich jetzt ohne weiteres gegen ihn ziehen wollte. Wenn aber der Fürst die Meinigen befreit, indem er sie gegen Gefangene, die er selbst gemacht hat, eintauscht, dann werde ich Schamyl vernichten, oder ich will des Todes sein.«

»Gut, gut,« sagte Woronzow. – »Wir wollen das alles in Erwägung ziehen. Jetzt soll er zum Chef unseres Stabes gehen und ihn über die Sachlage sowie über seine eigenen Absichten und Wünsche informieren.«

Damit endete die erste Zusammenkunft zwischen Chadschi Murat und Woronzow.

Am Abend desselben Tages wurde in dem neuen, im orientalischen Geschmack dekorierten Theater eine italienische Oper gegeben. Woronzow saß in seiner Loge, als im Parterre die auffällige Gestalt des hinkenden Chadschi Murat im Schmucke des Turbans erschien. Er war in Begleitung des ihm beigegebenen Adjutanten Woronzows, des jungen Loris Melikow, im Theater erschienen und hatte in der ersten Parkettreihe Platz genommen. Mit der dem orientalischen Muselmann eigenen Würde hatte Chadschi Murat dem ersten Akt beigewohnt – ohne jeden Ausdruck des Staunens, mit vollkommen gleichgültiger Miene. Im Zwischenakt erhob er sich, musterte in aller Ruhe die Zuschauer und verließ, während alle Augen auf ihn gerichtet waren, das Theater.

Am folgenden Tage, einem Montag, fand, wie gewöhnlich, beim Statthalter eine Abendunterhaltung statt. In dem großen, hell erleuchteten Saale erklangen die munteren Weisen, die ein im Wintergarten hinter einer Wand von grünen Gewächsen verborgenes Orchester spielte. Junge und nicht mehr ganz junge Frauen in Kleidern, die Hals, Arme und Brust frei ließen, wirbelten mit Männern in bunten Uniformen, die sie umschlungen hielten, durch den Saal. Lakaien in roten Fräcken, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen standen am Büfett, schenkten den Herren Champagner ein und präsentierten den Damen Konfekt. Die Gemahlin des Sardars ging, trotz ihres Alters gleichfalls halb entblößt, zwischen den Gästen umher, lächelte ihnen verbindlich zu und ließ auch Chadschi Murat, der mit derselben Gleichgültigkeit wie gestern im Theater die Gäste musterte, durch den Dolmetscher ein paar freundliche Worte sagen. Nach der Fürstin traten auch die anderen halbnackten Frauen auf Chadschi Murat zu, standen, ohne eine Spur von Scham zu empfinden, vor ihm und richteten lächelnd alle dieselbe Frage an ihn: wie ihm das, was er hier sehe, wohl gefalle. Auch der Statthalter selbst, der diesmal an seiner Uniform goldene Achselstücke und Epauletten und um den Hals das weiße Kreuz an einem breiten Bande trug, kam auf ihn zu und stellte ihm die gleiche Frage, offenbar in der Überzeugung, die auch alle übrigen Fragesteller teilten, daß alles das, was Chadschi Murat hier sah, ihm unbedingt gefallen mußte. Chadschi Murat gab Woronzow die gleiche Antwort, die er auch den anderen erteilt hatte: daß es bei ihnen zu Hause so etwas nicht gebe, womit er unentschieden ließ, ob er das, was er sah, für schön oder häßlich hielt.

Chadschi Murat machte den Versuch, auf dem Balle mit Woronzow über die Auswechselung der Seinigen zu reden, doch Woronzow tat, als höre er nicht, und ließ ihn stehen. Loris Melikow erklärte darauf Chadschi Murat, daß der Ballsaal nicht der geeignete Ort sei, um über die Angelegenheit zu reden.

Als es zwei Uhr schlug, sah Chadschi Murat, um die Zeiten zu vergleichen, auf die Uhr, die ihm der junge Woronzow verehrt hatte, und fragte Loris Melikow, ob er nun wohl gehen könne. Loris Melikow meinte, es stehe dem nichts entgegen, doch sei es besser, er warte noch ein Weilchen. Gleichwohl brach Chadschi Murat auf und begab sich in dem Phaeton, der ihm zur Verfügung gestellt war, nach dem ihm zugewiesenen Quartiere.


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