Leo Tolstoi
Chadschi Murat
Leo Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Die Kameraden hatten den verwundeten Awdjejew nach dem Lazarett gebracht, das in einem kleinen, mit Brettern gedeckten Hause am Eingang der Festung lag. Sie hatten ihn dort in dem gemeinsamen Krankensaal auf eins der freien Betten gelegt. In dem Saale befanden sich vier Kranke; einer von ihnen litt am Typhus und hatte ein glühend rotes Gesicht, ein zweiter war bleich, hatte dunkle Ringe um die Augen und gähnte beständig in Erwartung eines Fieberanfalles, und die beiden letzten waren bei einem drei Wochen vorher stattgehabten Überfall blessiert worden; der eine hatte einen Schuß durchs Handgelenk bekommen und ging umher, während der andere, im Rücken verwundet, auf seinem Bett saß. Alle, bis auf den Typhuskranken, umringten den neu Hereingebrachten und fragten die Träger aus.

»Manchmal kommen die Kugeln so dicht, als wenn Erbsen gesät würden, und keiner wird getroffen, und diesmal sind höchstens fünf Schüsse gefallen, und da hatte er auch schon was weg«, erzählte einer der Soldaten, die Awdjejew gebracht hatten.

»Wem's eben beschieden ist . . .«

»Oh, oh!« ächzte Awdjejew, obschon er den Schmerz zu verbeißen suchte, laut auf, als er auf das Bett gelegt wurde. Sobald er niedergelegt war, zog er die Brauen finster zusammen und stöhnte nicht mehr, nur seine Fußsohlen zuckten beständig. Er hielt die Hände auf der Wunde und blickte starr vor sich hin. Der Arzt kam und ließ den Kranken umwenden, um zu sehen, ob die Kugel nicht am Rücken herausgekommen sei.

»Was ist denn das da?« fragte der Arzt und zeigte auf eine Anzahl langer weißer Narbenstreifen, die sich kreuzend über den Rücken und das Gesäß des Verwundeten hinliefen.

»Das ist von früher, Euer Hochwohlgeboren«, brachte Awdjejew mühsam hervor.

Es waren die Narben, die von der Spießrutenstrafe herrührten, der er damals, als er das Geld vertrunken hatte, unterzogen worden war.

Awdjejew wurde wieder auf den Rücken gelegt, und der Arzt stocherte eine ganze Weile mit der Sonde in seinem Leibe herum, bis er die Kugel endlich gefunden hatte. Doch wagte er nicht, sie herauszuholen, sondern begnügte sich damit, die Wunde zu verbinden und ein Pflaster darauf zu legen, worauf er sich entfernte.

Während die Wunde untersucht und verbunden worden war, hatte Awdjejew mit aufeinandergepreßten Zähnen und geschlossenen Augen dagelegen. Als der Arzt sich entfernt hatte, öffnete der Verwundete die Augen und blickte erstaunt um sich. Seine Blicke waren auf die Kranken und den Feldscher gerichtet, doch schien er sie nicht zu sehen, sondern auf etwas anderes, das ihn in Erstaunen setzte, zu schauen.

Der Unteroffizier Panow kam mit einem zweiten Kameraden namens Seregin, um nach ihm zu sehen. Awdjejew blieb liegen, ohne sich zu rühren, und schaute nur immer voll Erstaunen vor sich hin. Seine Augen waren zwar auf die Kameraden gerichtet, doch konnte er sie lange nicht erkennen.

»Willst du nicht eine Nachricht nach Hause schicken, Petra?« fragte ihn Panow.

Awdjejew sah ihn an, ohne zu antworten.

»Ich frage dich, ob du nicht die Deinigen benachrichtigen willst«, fragte Panow noch einmal und berührte seine kalte, knochige Hand.

Da erst schien Awdjejew zum Bewußtsein zu erwachen.

»Du bist es . . ., Antonytsch?« fragte er mit matter Stimme.

»Ja. Ich wollte dich fragen, ob du nicht den Deinigen eine Nachricht schicken mochtest. Seregin wird den Brief schreiben.«

»Du wirst schreiben . . . Seregin . . .« sagte Awdjejew, während er seine Augen mühsam nach Seregin wandte. »Schreib so: ›Euer Sohn Petrucha . . . wünscht Euch . . . langes Leben.‹ Ich hab' den Bruder . . . beneidet . . . hab's dir ja gesagt . . . Und jetzt bin ich froh . . . er lebt . . . und mag weiter leben. Gott segne ihn, ich bin froh. Schreib das.«

Dann schwieg er eine ganze Weile und sah Panow an.

»Hast du . . . den Pfeifenkopf gefunden?« fragte er plötzlich.

Panow antwortete nicht sogleich.

»Den Pfeifenkopf, den Pfeifenkopf, sag' ich . . ., hast du den gefunden?« wiederholte Awdjejew.

»Ja, er war in meinem Quersack.«

»So, so . . . Nun, jetzt reicht mir eine Kerze . . ., ich werde gleich sterben«, sagte Awdjejew.

In diesem Augenblick trat Poltorazkij in den Krankensaal, um nach seinem Soldaten zu sehen.

»Nun, Bruder, wie geht es dir? Nicht zum besten?« begann er.

Awdjejew schloß die Augen und schüttelte den Kopf. Sein knochiges Gesicht war bleich und hatte einen strengen Ausdruck.

Er antwortete nicht auf die Frage des Vorgesetzten, sondern wiederholte nochmals, zu Panow gewandt:

»Gib mir . . . eine Kerze, ich werde sterben.«

Man gab ihm eine brennende Kerze in die Hand, doch seine Finger schlossen sich nicht mehr, man mußte ihm die brennende Kerze zwischen die Finger schieben und sie da festhalten. Poltorazkij ging hinaus, und fünf Minuten später legte der Feldscher das Ohr an Awdjejews Herz und erklärte, daß er tot sei.

In dem Berichte, der über die Affäre an den Oberstkommandierenden nach Tiflis gesandt wurde, ward auch Awdjejews Tod erwähnt. Die betreffende Stelle lautete:

»Am 23. November verließ die zweite Kompagnie des Kurinischen Regiments die Festung, um im Walde Holz zu schlagen. Am hellichten Tage griff plötzlich eine ansehnliche Schar von Bergbewohnern die bei der Arbeit befindlichen Soldaten an. Die Vorposten zogen sich zurück, worauf die zweite Kompagnie den Feind mit dem Bajonett angriff und zurückschlug. Diesseits wurden zwei Soldaten leicht verwundet und einer getötet. Die Bergbewohner verloren gegen hundert Mann an Toten und Verwundeten.«


 << zurück weiter >>