Leo Tolstoi
Chadschi Murat
Leo Tolstoi

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Neuntes Kapitel

Michail Semjonowitsch Woronzow war der Sohn des russischen Gesandten in London und hatte in England seine Erziehung erhalten. Unter den russischen hohen Beamten seiner Zeit zeichnete er sich vorteilhaft durch eine umfassende europäische Bildung aus, war ein Mann von großem Ehrgeiz, freundlich und umgänglich im Verkehr mit Tieferstehenden und ein gewandter Höfling im Umgang mit Höhergestellten. Er konnte sich das Leben ohne Macht und Gewalt auf der einen und dienstwillige Unterordnung auf der anderen Seite nicht vorstellen. Er besaß alle erdenklichen hohen Würden und Orden, galt als ein ausgezeichneter Soldat und hatte sogar die Truppen Napoleons bei Craonne geschlagen. Er war im Jahre 1852 bereits hoher Siebziger, doch war er körperlich noch durchaus rüstig, hatte einen kräftigen, elastischen Gang und war vor allem noch immer der kluge, feine Kopf, der sich in seiner einflußreichen Stellung zu halten und seine Popularität zu bewahren wußte. Er war selbst sehr reich, hatte eine reiche Frau – sie stammte aus dem gräflichen Hause Branicki – und besaß als Statthalter von Kaukasien große Einkünfte. Einen beträchtlichen Teil seines Einkommens verwandte er für die Erhaltung seines Palais in Tiflis und des herrlichen Parkes, den er am Südufer der Krim angelegt hatte. –

Am Abend des 4. Dezember 1852 hielt vor seinem Palais ein mit drei Pferden bespannter Kurierpostwagen. Der von der Reise ermüdete, ganz mit Staub bedeckte Offizier, der dem Statthalter die Meldung des Generals Koslowskij, die Nachricht vom Übertritt Chadschi Murats zu den Russen, überbrachte, stieg, die steif gewordenen Beine kräftig streckend, an den Wachen vorüber die Freitreppe des Statthalterpalais hinan. Es war gegen sechs Uhr abends, und Woronzow war soeben im Begriff, zu Tisch zu gehen, als ihm die Ankunft des Kuriers gemeldet wurde. Woronzow empfing diesen sogleich und kam daher einige Minuten zu spät zum Diner. Als er den Salon betrat, wandten die etwa dreißig geladenen Tischgäste, die teils um die Fürstin Jelisaweta Xaverjewna herumsaßen, teils da und dort zu Gruppen zusammengetreten waren, sich sogleich dem Eintretenden zu. Woronzow trug seine gewöhnliche dunkle Uniform, die keine Epauletten, sondern nur einfache Achselschnüre und als Ordenszier nur ein einziges weißes Kreuz am Halse aufwies. Sein glattrasiertes Fuchsgesicht lächelte verbindlich, während die leicht zusammengekniffenen Augen die Anwesenden musterten. Mit raschen, weichen Schritten trat er ein, entschuldigte sich bei den Damen, daß er zu spät gekommen, begrüßte die Herren, trat auf die grusinische Fürstin Manania Orbeliani, eine etwa fünfundvierzigjährige, üppige, hochgewachsene Schöne von orientalischem Typus, zu und reichte ihr den Arm, um sie zu Tisch zu führen. Die Fürstin Jelisaweta Xaverjewna selbst nahm den Arm eines außerhalb in Garnison liegenden, rothaarigen Generals mit aufgezwirbeltem Schnurrbart. Der Fürst von Grusinien reichte seinen Arm der Gräfin Choiseul, einer intimen Freundin der Fürstin. Der Hausarzt, Andrejewskij, die Adjutanten und die übrigen Herren folgten teils mit, teils ohne Damen den beiden Paaren. Die mit langen Livreeröcken, Strümpfen und Schnallenschuhen aufgeputzten Lakaien waren den Gästen beim Niedersetzen behilflich, während der Haushofmeister mit feierlicher Miene die dampfende Suppe aus der silbernen Terrine auf die Teller goß.

Woronzow nahm mitten an der langen Tafel Platz. Ihm gegenüber saß die Fürstin, seine Gemahlin, mit dem General, während die schöne Orbeliani zu seiner Rechten und eine schlanke, junge Grusinierin aus fürstlichem Geschlecht, dunkeläugig, rotwangig, beständig lächelnd und mit blitzendem Schmuck angetan, zu seiner Linken saß.

»Excellentes, chère amie«, antwortete Woronzow auf die Frage seiner Gemahlin, was für Nachrichten ihm der Kurier gebracht habe. »Simon a eu de la chance

Und er erzählte so laut, daß alle, die am Tische saßen, es hören konnten, daß der berühmte Chadschi Murat, der tapferste Unteranführer Schamyls, sich den Russen ergeben habe und heute oder morgen in Tiflis eintreffen werde. Für alle Anwesenden außer ihm selbst war die Nachricht eine Überraschung; er selbst wußte, daß Unterhandlungen betreffs der Übergabe bereits seit längerer Zeit geführt worden waren.

Alle Tischgäste, selbst die jungen Adjutanten und Beamten, die unten an der Tafel saßen und eben noch über irgend etwas leise gelacht hatten, verstummten plötzlich und hörten zu.

»Und Sie, General, sind Sie diesem Chadschi Murat jemals begegnet?« fragte die Fürstin ihren Nachbar, den rothaarigen General, als der Fürst zu sprechen aufgehört hatte.

»Gewiß, mehr als einmal, Fürstin!«

Und der General erzählte, wie Chadschi Murat im Jahre 1843, nach der Einnahme von Gergebil durch die Bergbewohner, auf eine russische Heeresabteilung unter General Passek gestoßen sei, und wie er fast unter ihren Augen den Oberst Solotuchin getötet habe.

Woronzow hörte mit leutseligem Lächeln zu, wie der General erzählte, und war anscheinend durchaus nicht unzufrieden damit. Plötzlich jedoch nahm sein Gesicht einen zerstreuten und müden Ausdruck an.

Der General, der recht ins Plaudern hineingekommen war, berichtete jetzt, wie er zum zweiten Male mit Chadschi Murat zusammengetroffen sei.

»Er war es ja, wie sich Ew. Durchlaucht erinnern werden, der damals bei der Expedition gegen Schamyls Hauptfestung Dargo die Truppen in einen Hinterhalt lockte, daß sie nur mit Mühe herausgehauen werden konnten«, sagte der General.

»Wo war das?« fragte Woronzow und blinzelte mit den Augen.

Der wackere General hatte die Unvorsichtigkeit begangen, eine Affäre aufs Tapet zu bringen, bei der eine ganze Heeresabteilung, mit Woronzow selbst an der Spitze, schmählich zusammengehauen worden wäre, wenn nicht rechtzeitig Entsatz eingetroffen wäre. Alle Anwesenden wußten, daß jene von Woronzow befehligte Expedition, bei der die Russen zahlreiche Tote und Verwundete und eine Anzahl von Geschützen verloren, ein wenig ehrenvolles Blatt in der Geschichte der kaukasischen Feldzüge bildete. Es war denn auch üblich, sobald jemand diese Expedition in Woronzows Gegenwart erwähnte, dies nur in demselben Sinne zu tun, in dem auch Woronzow selbst damals seinen Bericht an den Zaren abgefaßt hatte, dem die Angelegenheit als ein glänzender Erfolg der russischen Waffen dargestellt worden war. Wenn der General jetzt davon sprach, daß jene Abteilung »herausgehauen« worden sei, so war damit gesagt, daß jene Affäre, weit davon entfernt, eine glänzende Waffentat zu sein, vielmehr ein böser Fehlgriff war, der viele Leute das Leben kostete. Alle begriffen sogleich, daß hier ein schlimmer Verstoß gegen den Takt vorlag, und so stellten sich denn die einen, als hätten sie nichts von der Ungeschicklichkeit des Generals gemerkt, während die anderen voll Schrecken der Dinge harrten, die nun weiter kommen würden. Nur einige wenige wechselten still lächelnd vielsagende Blicke miteinander. Von alledem merkte der General mit dem aufgezwirbelten Schnurrbart nicht das Geringste, und als der Statthalter jene Frage nach dem »Wo?« gestellt hatte, antwortete er ganz ruhig und harmlos:

»Na, eben dort, wo Durchlaucht so böse in der Klemme saßen!«

Er war von dem einmal aufgenommenen Thema nicht mehr abzubringen und erzählte ganz ausführlich, wie geschickt dieser Chadschi Murat die Abteilung mitten entzwei geschnitten habe, so daß, wenn sie nicht »herausgehauen« worden wäre – er wiederholte immer wieder das Wort »herausgehauen« –, nicht ein Mann sich hätte retten können. Und er hätte immer weiter und weiter erzählt, wenn nicht Manana Orbeliani, in richtiger Erkenntnis der Situation, ihn unterbrochen und nach der Beschaffenheit seines Tifliser Quartiers gefragt hätte. Der General ließ seinen Blick ganz verdutzt über die Anwesenden schweifen und begegnete dem Auge seines am Ende der Tafel sitzenden Adjutanten, der ihn mit bedeutsamem Blicke durchdringend ansah. Da merkte er plötzlich, was er angerichtet. Ohne der Fürstin zu antworten, blickte er in mürrischem Schweigen auf seinen Teller und begann das ihm vorgesetzte, raffiniert zubereitete, nach Aussehen und Geschmack ihm unbekannte Gericht hastig herunterzuschlingen.

Peinliche Verlegenheit malte sich auf allen Gesichtern, aber der grusinische Fürst, der an der anderen Seite der Fürstin Woronzow saß und ein überaus glatter Schmeichler und Höfling, wenn auch sonst ein recht beschränkter Kopf war, wußte der beklemmenden Stimmung geschickt ein Ende zu machen. Er begann, als ob er gar nichts gemerkt hätte, mit lauter Stimme zu erzählen, wie Chadschi Murat seinerzeit die Witwe Achmet Chans von Mechtulinsk entführt habe: »Mitten in der Nacht brach er ins Dorf ein, nahm mit, was er mitnehmen wollte, und jagte mit seiner Schar davon.«

»Warum hatte er es gerade auf diese Frau abgesehen?« fragte die Fürstin.

»Er hatte mit ihrem Gatten in Feindschaft gelebt und ihn verfolgt, konnte seiner jedoch bis zum Tode des Chans nicht habhaft werden, und so rächte er sich an der Witwe.«

Die Fürstin übersetzte seine Erzählung ihrer alten Freundin, der Gräfin Choiseul, die neben dem grusinischen Fürsten saß, ins Französische.

»Quelle horreur!« rief die Gräfin entsetzt, schloß die Augen und schüttelte den Kopf.

»Es war nicht allzu schlimm,« sagte Woronzow lächelnd. »Man hat mir erzählt, daß er seine Gefangene durchaus respektvoll und ritterlich behandelt und später freigelassen habe.«

»Ja, nachdem sie ein Lösegeld erlegt hatte.«

»Nun, das ist doch selbstverständlich. Immerhin hat er sich edel gegen sie benommen.«

Diese Worte des Fürsten gaben für die weitere Unterhaltung über Chadschi Murat den Ton an. Die Höflingsschar begriff, daß dem Fürsten Woronzow durchaus damit gedient war, wenn der Person Chadschi Murats eine recht große Bedeutung beigelegt würde.

»Ganz erstaunlich, welche Waghalsigkeit dieser Mensch besitzt! Ein höchst merkwürdiger Mensch!«

»Und was sagen Sie dazu, daß er im Jahre 1849 am helllichten Tage in den Flecken Temirchanschura einbrach und die Läden ausplünderte?«

Ein am Ende der Tafel sitzender Armenier, der um jene Zeit in Temirchanschura gelebt hatte, erzählte allerhand Einzelheiten über diesen Handstreich Chadschi Murats.

Chadschi Murats Taten bildeten auch weiterhin den einzigen Gesprächsstoff an der Mittagstafel. Alle rühmten um die Wette seine Tapferkeit, Klugheit und Großmut. Irgend jemand erzählte, er habe einmal sechsundzwanzig Gefangene auf einmal töten lassen; doch auch dafür fand man Rechtfertigungsgründe: was sollte man schon sagen, à la guerre comme à la guerre

»Entschieden ein großer Mann!«

»Hätte seine Wiege in Europa gestanden, dann wäre er vielleicht ein neuer Napoleon geworden,« meinte der grusinische Fürst, der bei aller Beschränktheit so trefflich zu schmeicheln verstand.

Er wußte, daß jede Erwähnung Napoleons, dessen Truppen Woronzow geschlagen, dem Fürsten, der für diese Waffentat das weiße Kreuz an seinem Halse erhalten hatte, stets angenehm im Ohr klang.

»Nun, wenn auch nicht gerade ein Napoleon, so doch jedenfalls ein ganz tüchtiger Kavalleriegeneral,« meinte Woronzow.

»Vielleicht kein Napoleon, aber doch immerhin ein Murat.«

»Er heißt ja auch Chadschi Murat,« bemerkte ein Witzbold.

»Jetzt, da Chadschi Murat sich ergeben hat, wird wohl auch Schamyls Ende bald gekommen sein,« sagte einer der Gäste.

»Sie spüren jedenfalls, daß nun aller Widerstand vergeblich ist,« meinte ein anderer. In dem Wörtchen »nun« lag eine Anspielung auf das Regime Woronzow.

»Tout cela est grâce à vous,« sagte Manania Orbeliani.

Fürst Woronzow bemühte sich, die Wogen der Schmeichelei, die über ihm zusammenzuschlagen begannen, ein wenig zurückzudämmen. Immerhin waren alle diese glatten Reden, die in sein Ohr klangen, ihm nicht unangenehm, und als er vom Tisch aufstand und seine Dame in den Salon zurückführte, befand er sich in der allerbesten Stimmung.

Als nach dem Diner im Salon der Kaffee gereicht wurde, war der Fürst gegen alle ganz besonders herablassend und trat unter anderem auch an den General mit dem aufgezwirbelten roten Schnurrbart heran, um ihm zu verstehen zu geben, daß er seine Ungeschicklichkeit nicht bemerkt habe.

Nachdem der Fürst mit jedem seiner Gäste ein freundliches Wort gewechselt hatte, setzte er sich an den Kartentisch. Er spielte nur sein altgewohntes L'hombre. Seine Partner waren der grusinische Fürst, ferner ein armenischer General, der das Spiel eigens beim Kammerdiener des Fürsten gelernt hatte, und als vierter Mann der Hausarzt Doktor Andrejewskij, der beim Fürsten einen großen Einfluß besaß.

Schon hatte Woronzow die goldene Tabakdose mit dem Porträt Alexanders I. neben sich hingelegt, den Umschlag des eleganten Kartenspiels aufgerissen und die Karten ausgeteilt, als sein italienischer Kammerdiener Giovanni ihm auf silbernem Präsentierteller einen Brief überbrachte.

»Noch ein Kurier, Durchlaucht!«

Woronzow legte die Karten hin, entschuldigte sich bei den Mitspielern, öffnete den Brief und begann zu lesen.

Der Brief war vom Sohne des Fürsten. Er schilderte den Übertritt Chadschi Murats und den Zusammenstoß mit Meller Sakomelskij.

Die Fürstin trat hinzu und fragte, was der Sohn schreibe.

»Immer noch dasselbe Thema. Il a eu quelques désagréments avec le commandant de la place. Simon a eu tort. But all is well, that ends well,« sagte er, gab den Brief seiner Frau und wandte sich den ehrerbietig wartenden Spielpartnern zu, die er die Karten aufzunehmen bat.

Nach dem ersten Spiel öffnete Woronzow die Tabakdose und tat etwas, was er immer nur dann zu tun pflegte, wenn er in besonders guter Laune war: er nahm mit dem Zeigefinger und Daumen seiner runzeligen weißen Greisenhand eine Prise französischen Schnupftabaks aus der Dose, führte sie zu seiner Nase empor und stopfte beide Nasenlöcher damit voll. –


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