Ludwig Thoma
Altaich
Ludwig Thoma

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Fünfzehntes Kapitel

Das Gewitter hatte schwere Wolken zusammengeschoben, die sich am anderen Morgen träge über Altaich hinwälzten.

Flatternde Fetzen hingen von ihnen herunter, streiften den Knauf des Kirchturms und die Wipfel der Tannen im Sassauer Walde.

Wenn der Regen kurze Zeit aussetze, fiel er gleich wieder mit verstärkter Wut über den Ort her.

»Brav! So mag i 's ...« sagte Dierl, der griesgrämig zusah, wie es von oben goß, von unten spritzte, aus Dachrinnen gurgelte, und in vielgeteilten Bächen den Marktplatz hinunterfloß.

»Bravo! Aber dös Wetter kann mi net lang tratzen. Wenn's net bald aufhört, fahr' i in d' Stadt und spiel' mein Tertl.«

Der Kanzleirat, der neben ihm stand, gähnte. Das trübselige Wetter zeigte ihm wieder einmal, daß Landaufenthalt und Ruhe recht eingebildete Werte waren. Man lügt sich selber an mit diesem Aufatmen nach der Last des Dienstes. In Wirklichkeit bildet eine geregelte Beschäftigung den Inhalt des Lebens, und wo sie fehlt, tritt peinliche Leere ein.

Wäre Urlaub nicht eine staatliche Einrichtung gewesen, von der man Gebrauch machen mußte, um den Schein der Übermüdung zu wahren, dann hätte sich Herr Schützinger nie von seiner Kanzlei, seinen Akten und dem anheimelnden Geruche des handgeschöpften Papiers getrennt.

Jedes Jahr hatte er das gleiche Gefühlt, als stände er im Urlaub außerhalb der kreisenden Staatsmaschine und entbehrte die gewohnte rotierende Bewegung.

Und immer wieder verlockte ihn das Beispiel der Vorgesetzten, sich von seinem Behagen loszureißen, um einige Wochen Strafhaft auf dem Lande auszuhalten.

Er war gerade dabei, von seiner Rückkehr in die Kanzlei zu träumen, und er hörte im Geiste den alten Oberschreiber Schmiedinger sagen: »Gott sei Dank, daß S' wieder da san, Herr Rat!«, als ihn ein seltsames Ereignis in lebhafte Unruhe versetzte.

Fanny kam mit einem umfangreichen Pack die Stiege herunter und hielt verdrossen Ausschau nach dem Wetter. Dabei murrte sie darüber, daß man sie und nicht die preußische Hopfenstange bei dem Regen in die Ertlmühle hinunterschicke. Dierl, der immer und überall für unterdrückte Dienstmädchen Partei ergriff, stellte Fragen an sie, und da hörte nun der Kanzleirat, daß Herr Schnaase spät in der Nacht heimgekehrt war, und daß es was gegeben haben müsse, denn die Berliner hätten ihre Rechnung verlangt und wollten Knall und Fall abreisen.

Schützinger wurde von einem heftigen Schrecken ergriffen.

Schnaase war von ihm weg zum Stelldichein gegangen. Das stand fest, denn er hatte das eigene Geständnis des Mannes gehört. Ein Stelldichein hält man während eines scharfen Gewitters nicht im Freien ab; man läßt sich dabei nicht bis auf die Haut durchnässen, so daß man bei fremden Leuten einen Anzug borgen muß. Da lag etwas vor. Da war etwas Peinliches geschehen.

Hatte Schnaase fliehen müssen? War er entdeckt worden?

Die schnelle Abreise sprach dafür. Hatte ihn am Ende der wütende Schlosser in den Bach geworfen?

Die Angst, daß er als Mitschuldiger in die Geschichte verwickelt werden könnte, stieg riesengroß im Kanzleirat empor.

Es gab einen Skandal. Es hatte wahrscheinlich schon einen gegeben, denn Schnaase floh.

Noch gestern hatte er kein Wort vom Abreisen verlauten lassen, noch gestern hatte er – ja, das fiel ihm siedheiß ein – noch gestern hatte Schnaase von dem Sommerfeste gesprochen, das er arrangieren wollte – und heute reiste er ab!

Wenn es einen Skandal gab, kam alles an den Tag, auch der Besuch bei dem zweifelhaften Frauenzimmer, und es wurde publik, daß ein höherer Beamter mit dabei gewesen war.

Schützinger wollte Fanny ausfragen und ganz unbefangen ein Gespräch beginnen.

Aber er schnitt bloß eine Grimasse und brachte keinen Ton aus der vertrockneten Kehle hervor.

Da hatte er es jetzt!

Seit jenem Besuche war er eine innerliche Unruhe nie mehr losgeworden. Er hatte sich's immer wieder gesagt, daß es töricht und verwegen gewesen war.

Er hatte sich auch vorgenommen, unter keinen Umständen die kompromittierende Bekanntschaft fortzusetzen.

Jetzt war es ohne sein Zutun doch noch zum Krach gekommen.

Die Haut prickelte ihm, aber er zwang sich zur Ruhe, um noch mehr zu erfahren.

Dierl machte ihn nervös mit seinen grobschlächtigen Vermutungen über die Ursachen des Kleiderwechsels. Er konnte das nicht mehr anhören. Nach einem flüchtigen Gruße schlich er die Treppe hinauf und schloß sich in sein Zimmer ein. Niedergeschlagen setzte er sich ans Fenster und versuchte seine Gedanken zu ordnen.

War es nicht das richtige, Herrn Schnaase zu bitten, daß er, komme was wolle, keinesfalls von jenem Besuche etwas sage? Er verließ das Zimmer und kämpfte mit seinem Entschlusse, bei Schnaase anzuklopfen, als der Ersehnte auf den Gang heraustrat.

»'n Morgen, Herr Rat! Haben Se schon gehört, daß wir reisen ...« Er unterbrach sich, weil ihn Schützinger erschrocken anstarrte und ihm sonderbare Zeichen machte.

»Nanu, was is?«

»Ich weiß alles ...« flüsterte der Rat.

In diesem Augenblick öffnete Frau Karoline die Türe und rief erregt:

»Gustav! Henny weiß bestimmt, daß du die Schlüssel gehabt hast ...«

»Denn sind se im Nachttisch«, erwiderte er.

Er war etwas verwirrt.

Karoline konnte doch was merken, wenn sie den Knautschenberger so geheimnisvoll tun sah.

Was wollte denn der? Ihn ausfragen?

»Entschuldigen Sie«, sagte er kurz, »Sie sehen, ich habe wirklich keine Zeit, 'n Morgen!«

Damit drehte er ihm unwillig den Rücken.

Schützinger sah betrübt, daß er auf eine Aussprache mit dem begreiflicherweise erregten und verstörten Manne nicht rechnen konnte.

Er faßte einen raschen Entschluß, ging in sein Zimmer und packte. Nur fort von hier! So schnell als möglich!

Bei Hobbes machte sich reges Treiben bemerkbar.

Natterer, der im Laden stand, hörte über der Decke schwere, gleichmäßige und eilende, leichte Tritte. Die schweren rührten vom Professor her, der in seiner Studierstube auf und ab schritt und das Werk der letzten Wochen überdachte.

Es war gut, und mußte so, wie es war, stehen bleiben und in die fernste Zukunft wirken.

Die eilenden Schritte machte Frau Mathilde, die alles Mitgebrachte in zwei große Koffer packte.

Eine lederne Handtasche stand auf dem Tische; sie gehörte für das Manuskript, das für sich allen und ja nicht mit anderen Dingen vermengt nach Göttingen geschafft werden mußte. Es ging auf die elfte Stunde.

Man mußte noch die Miete bezahlen, dann in der Post zu Mittag essen, und kurz nach zwölf ging der Zug.

Mathilde schloß die Koffer ab und kam in den Laden herunter, wo sie die Rechnung prüfte und die Miete, wie den ausstehenden Betrag für Kieler Sprotten beglich.

»Es ist wirklich schad'«, sagte Natterer, »daß die Herrschaften wegfahren und unser schönes Fest net mitmachen.«

»Zu schade«, erwiderte Frau Professor. »Aber Horstmar drängt, denn Sie vers ... stehen, nachdem nun doch sein Werk fertiges . . . stellt ist ...«

»Gel'n S', das Werk! I hab' zu meiner Wally g'sagt – Wally, geh außa, d' Frau Professa is da! –, i hab' zu ihr g'sagt, da wer'n mir no öfta dran denk'n, daß da Herr Professa bei uns a Werk g'schrieb'n hat.«

Mathilde lächelte.

Der gute Mann sagte in seiner naiven Art eine Wahrheit, die größer war, als er sich's wohl träumen ließ.

Was er heute so nebenher und zufällig wußte, erfuhr morgen die ganze gebildete Welt, und die vergaß es nie mehr, daß in einem bescheidenen Hinterstübchen zu Altaich an der Vils die »Phantasie als das an sich Irrationale« beendet worden war.

Aber wer konnte die Bedeutung dieses Geschehens den Leutchen klarmachen?

Mathilde schwieg und lächelte.

»O mei!« rief die eintretende Wally. »Is 's wirkli wahr? Gengan S' heut scho? No natürli, bei dem Weda ...«

»I sag' grad' der Frau Professa, wie schad' 's is, daß de Herrschaf'n unser Fest net mitmach'n.«

»Freili, enker Fest ... Hätt' 's as denn net früher halt'n kinna? Na hätt' da Herr Professa no was g'habt davo ...«

»I hätt's ja auf 'n Samstag scho ang'setzt, aber da Herr Schnaase hat's net zulass'n. Er hat drauf bestand'n, daß 's um acht Tag verschob'n werd, weil er a b'sondere Nummer fürs Programm hätt', hat er g'sagt ...«

»Derweil gengan die Herrschaft'n«, jammerte Wally. »Aba natürli, da Herr Professa werd halt Schul' halt'n müass'n ...«

»Sei Werk hat er aa firti«, sagte Natterer.

»Ahan ... 's Werk. No ja, da werd er froh sei, daß er dös weg hat. Dös laßt si denga. Er is ja so fleißi g'wen, und oft hab i zu mein Mann g'sagt, wenn's Liacht brennt hat bis zwölfi, wia 's eahm no net z' fad werd, de lange Schreiberei, hab' i g'sagt ... no ja ... jetz is er Gott sei Dank firti, und Sie möcht'n hoam und Eahna Ordnung hamm, und da Herr Professa werd Schul' halt'n muass'n ... dös läßt si denga ...«

Mathilde lächelte wieder.

Es ließ sich noch anderes denken. Unendlich Höheres, aber es ließ sich nicht darüber s ... sprechen.

»Also nich wahr, Sie sorgen dafür, daß Ihr Mädchen die Koffer pünktlich an die Bahn bringt? Wir sehen uns noch, bevor wir zur Post hinübergehen ...«

Mathilde nickte freundlich und ging hinauf in die Studierstube.

Der feierliche Augenblick war gekommen, da man das Manuskript einpacken mußte. Horstmar nahm es aus der Kommode und wog es beglückt in den Händen.

Die Frau Professor schlug es in starkes Papier ein und wickelte eine Schnur darum.

Tildchen hielt die Ledertasche geöffnet, und dann wurde das Manuskript langsam und sorgfältig versenkt. Mathilde klappte zu und reichte dem Gatten die Hand.

Es stand mitten im Zimmer und blickte ängstlich auf den lederen Schrein, der sein Köstlichstes barg.

»Nu wollen wir aber gehen«, drängte Mathilde.

Sie steckte ihren versonnenen Horstmar in einen Mantel, drückte ihm einen Regenschrim in die Hand, und indes sie die Ledertasche in die Linke nahm, hing sie sich mit der Rechten in seinen Arm ein. Sie gingen.

Aber unter der Türe wandten sich Herr und Frau Hobbe und Tildchen noch einmal um und umfaßten mit einem Blick den stillen Raum, der die Wiege einer neuen kunstgeschichtlichen Epoche geworden war. Dann erst schritten sie die Treppe hinunter. An der Haustüre standen Natterer und seine Wally.

»Glückliche Reise!« sagte der Hausherr. »Schad, schad, Herr Professa, daß Sie unsa Fest nimmer mitmach'n ... Vielleicht kommen S' im nächst'n Jahr wieda und schreib'n a neu's Werk ...«

»Eahna Ruah hamm S' ja bei uns, und dös Zimma hint naus lass'n ma tapezier'n«, sagte Frau Wally.

»Wir werden ja sehen«, erwiderte Mathilde.

Hobbe aber hörte nicht, was die Leute sprachen.

Unruhig fragte er seine Frau: »Hast du es?«

»Ja, Horstmar«, sagte sie und hob die Ledertasche in die Höhe.

»Und nun Adieu!«

»Adjö! Adjö!« jauchzte Tildchen.

Natterer verbeugte sich, Wally nickte freundlich, und beide blickten der Familie Hobbe nach.

Von drüben kam Fanny mit hochgehobenen Röcken herüber.

Sie trat in den Laden ein und legte ein Paket auf die Buddel.

»An schön Gruaß von Herrn Schnaase, und da schickt er Eahna de Programm und de Schreibereien ...«

Natterer öffnete die blauen Aktendeckel und sah erstaunt die Protokolle, Entwürfe und Festprogramme des Altaicher Fremdenkomitees.

»Zu was bringen S' denn dös?« fragte er.

»Da Herr Schnaase schicht's Eahna, weil er heut abreist ...«

»Wer reist ab?«

»De Berliner Herrschaft ...«

»Der Herr Schnaase?«

»Ja. Heut z' Mittag.«

»Das is ja der höhere Blödsinn!« rief Natterer. »Wenn mir 's Fest am Samstag hamm!«

»Frag'n S' 'n halt selber, wenn S' as net glaab'n. Für was san nacha d' Koffa packt, und z'weg'n was muaß i den ganz'n Vormittag umanandlaffa? Ja ... also ... Eahnere Papier' hamm S' ... b'füad Good! I hab' koa Zeit net zum Hersteh' ...«

Sie eilte hinaus.

»Das is ja der höhere Blödsinn!« wiederholte Natterer.

»Wally! Geh in Lad'n rei! I muaß zum Blenninger nüber ... das is ja der höhere ...«

»Was hast denn?«

»Nix hab' i. Laß ma do du mein Ruah!« Er stülpte seinen Hut auf und lief ohne Schirm im strömenden Regen zur Post hinüber.

Er traf den Blenninger Michel in der Küche, wohin er sich vor dem Lärm der Berliner geflüchtet hatte.

»Was hat denn da enker Fanny für an Unsinn daherbracht?« fragte Natterer ungestüm. »Daß da Herr Schnaase heut furtfahrt?«

»Ja.«

»Was ja?«

»Furt fahrt er.«

»Das is ja a Mist! Das is der reinste Blödsinn. Gestern war er bei mir, und mir hamm mitanand beschloss'n, daß unser Fest am Samstag stattfind'n soll. Da werd er heut wegfahr'n.«

Der Blenninger zerlegte ruhig seine Leberknödel.

»Red' do! Woher habt's denn ös den Schmarrn, den einfältig'n? Wer sagt denn dös überhaupts?"

»Er.«

»Wer er?«

»Da Schnaase.«

Natterer sah, daß er von dem phlegmatischen Menschen nichts Rechtes erfahren konnte.

»Wo is der Herr Schnaase?«

»Drin.«

»In der Gaststub'n?«

»Ja.«

»Nacha geh' i nei ... oder na, geh' du nei und sag' eahm ...«

»I geh' net nei.«

»Den G'fall'n, moan i, kunnst d' mir erweis'n, für dös, daß i dir 's Haus voller Fremde herbracht hab' ...«

»I mag dös G'surrm net«, sagte der Posthalter und blieb sitzen. Die Kellnerin kam gerade ans Fenster, und Natterer wandte sich an sie.

»Passen S' auf ... sagen S' dem Herrn Schnaase, er möcht' an Aug'nblick in Gang raus kommen ... ich muß'n dringend sprechen, sagen S' ihm ...«

Die Kellnerin richtete es aus, und Schnaase folgte etwas unwillig dem Ersuchen.

Er kam mit vollen Backen kauend, die Serviette vorgebunden, in den Hausgang.

»Brr! Donnerwetter, das zieht abscheulich! Mit was kann ich dienen, Herr Präsident?«

»Sie entschuldigen, Herr Schnaase, daß ich Sie da belästigen muß. Aber die Fanny, 's Zimmermädel, bringt so a dumms G'red daher, daß Herr Schnaase heut abreisen ...«

»Stimmt.«

»Ja ... i ...«

»Das dumme Gerede stimmt, verehrter Herr Präsident. In ner Stunde fahren wir ab.«

»Ja, jetzt weiß i net, was i sag'n soll ... Was is denn nacha mit unsern Fest?«

»Mit unsern Fest – nischt. Soweit ich in Betracht komme. Aber Ihr Fest können Se ruhig abhalten.«

»Aber Sie hamm 's doch selber verschob'n! Weg'n der besondern Nummer, die wo Sie in petto hamm.«

»Hatte, müssen Se sagen, Herr Natterer. Die Nummer liegt nu wirklich im betto. Die Primadonna is unpäßlich. Tut mir leid, aber das kommt bei den besten Ensembles vor ... Es is nu mal nich zu ändern.«

»Jetzt weiß i nimmer, was i sag'n soll. Es war do all's ausg'macht ...«

»Und wär' auch fein geworden, lieber Natterer. Wir hätten das schon gedeichselt. Aber die Pflicht ruft, und da is nischt gegen zu machen. Auf jedem Fall wünsche ich Ihnen viel Vergnügen un besten Erfolg ... Nu entschuldigen Se mich aber, es zieht verdeibelt, un ich habe so wie so 'n Schnuppen, un meine Leute warten. Also auf Wiedersehen! Meine Stimme im Afko trete ich hiemit feierlich an Sie ab. Mahlzeit!«

Natterer sah dem freundlichen Manne ingrimmig nach.

Mit Wut im Herzen ging er aus der Post.

»Sprecher, miserabliger! Spruchbeutel, nixnutziger!« murmelte er vor sich hin.

Daheim packte er die Statuten, Gründungsprotokolle, Sitzungsprotokolle, die Programmentwürfe und Briefe samt dem blauen Aktendeckel, der die Aufschrift Afko trug, zusammen und eilte in die Küche.

Er drängte Wally vom Herde weg und warf die Arbeit vieler Stunden, die Beweise seiner Mühen ums öffentliche Wohl , zornig ins Feuer.

»Was tuast denn?« rief die erschrockene Frau.

»Aus is und gar is, und g'redt werd gar nix ...«

»San dös de Papiera von ...«

»Aus is, hab' i g'sagt, und koa Frag' gibt's net.«

Er ging hinaus und warf die Türe schmetternd hinter sich zu.

»Siehste«, sagte Schnaase, als er sich wieder neben Karoline setzte, »nu hätten wir doch noch ne Woche hier bleiben sollen. Die italienische Nacht kann ohne uns nich stattfinden ...«

»Hat man dich deshalb hinausgerufen? So ne Zumutung!«

»Rege dich nich unnütz uff! Ich habe natürlich abgewunken. Und ich muß sagen, wie der Mann klein wurde, das hat mir ne gewisse Befriedigung verschafft. Denn nu biste gerächt, Karline. Weil er dich doch wirklich unerhört betimpelt hat mit seine Voralpen und Höhenluft. Nu wollen wir zahlen ...«

Die Familie brach geräuschvoll auf. Fanny mußte kommen, und Stine wurde noch mal hinaufgeschickt, um die kleine Tasche zu holen, und die Handschuhe und ... »Stine! Stine! Fräulein Henny hat ihren Schleier auf dem Sofa liegen ...«

Was die Person bloß hatte?

Den ganzen Morgen ging sie mürrisch herum, und rot geweinte Augen hatte sie, und als man so und so oft nach ihr gerufen hatte, fand man sie in ihrem Zimmer weinend beim Briefeschreiben.

Ach ja! Was wußte die Familie Schnaase von einem gebrochenen Herzen oder von dem Liebreiz eines altbayrischen Schlossers und Piganiers, den Stine Jeep aus Kleinkummerfelde – ochott! – nu so ganz ohne Abschied und letzte Zärtlichkeit verlassen mußte, und den sie nur mehr brieflich ermahnen konnte, treu zu bleiben und jeden Tag eine Postkarte zu schreiben?

Die Familie Schnaase wußte nicht, wie Scheiden und Meiden der armen Stine so weh tat.

Doch hörten auch Karoline und Henny schwere Abschiedsseufzer.

Herr von Wlazeck sagte ihnen, daß er fassungslos sei.

»Ich bidde, meine Damen, das is doch ein Schlag aus heiterm Himmel! Wie ich heite herunter gekommen bin und diese schlimme Nachricht erfahren habe, war ich färmlich beteibt. Man fühlt die Greße des Glickes erst, wenn es entschwindet. Ich kann jetzt mit dem bekannten Dichter sagen, daß die schönen Tage von Aranjuez vorieber sind. Sie gehen und ieberlassen den Armen der Pein, das heißt der Gesöllschaft des Herrn Dierl. Das ist grausam! Gestatten wenigstens diese Blumen. Es war alles, was hier aufzutreiben war ...«

Schnaase suchte derweilen den Posthalter Blenninger, von dem er noch nicht Abschied genommen hatte. Aber er war nirgends zu finden, und als Fanny zuletzt den Hansgirgl fragte, wo denn der Herr bloß sein könnte, wurde sie mit auserlesener Grobheit abgewiesen.

Der Blenninger saß aber im Stalle auf der Futterkiste, und er hatte dem Hansgirgl befohlen, das Geheimnis zu wahren, weil er verborgen bleiben wollte, denn das Gesurrm konnte er nicht anhören.

»Das is wieder mal echt!« sagte Schnaase, der selbst im Hofe Umschau hielt.

Da trat der Kanzleirat heimlich und rasch an ihn heran und drückte ihm einen Zettel in die Hand. Bevor sich Schnaase von der Überraschung erholt hatte, war Schützinger weggeeilt.

Er schlich auf Seitenwegen zum Bahnhofe. Seinen Koffer hatte er Martl gegeben.

Schnaase öffnete den Zettel und las: »Schonen Sie mich!«

»Nanu! Verrückt und drei macht neine. Der hat'n Triller.«

»Nischt zu machen. Der Posthalter bleibt unsichtbar«, sagte Schnaase. »Dieses Gegenteil von einem Europäer is wenigstens konsequent.«

»Mach' endlich zu!« rief Karoline ungeduldig. »Hobbes sind schon an die Bahn, und du stehst noch hier und wartest.«

»Also los! So leb denn wohl, du stilles Haus, un Fräulein Fanny, sagen Sie dem Posthalter, ich hätte mir zu gerne noch mal seine ansprechenden Züge ins Gedächtnis geprägt, aber es hat nicht sollen sein. Und sagen Se ihm, ich werde ihn rekommandieren als Gasthof zum bair'schen Hiesel oder zum Kanadier ohne übertünchte Höflichkeit, und paßt mal Obacht, denn fängt's erst an mit de Fremden aus preußisch Berlin! Au reservoir! Adchees Kinner! ...«

Er winkte fröhlich mit der Hand und eilte seinen Damen nach, die mit Herrn von Wlazeck schon vorausgegangen waren.

Am Bahnhof kam noch ein herzlicher Abschied vom Martl, der die Koffer hingefahren hatte.

Zuerst erhielt er ein Trinkgeld, und es fiel so aus, daß er zufrieden brummte und die Haube rückte.

Und dann sagte Schnaase:

»Sehen Se, verehrtester Herr Urbayer, das mit'm Gepäck haben Se nu schon raus, daß man's bringt und holt. Mit der Zeit werden Se auch noch begreifen, daß man für schwarze Stibel schwarze Wichse un für gelbe Stiefel gelbe Wichse nimmt, und wenn Se das erst richtig intus haben und von Ihrem Herrn Posthalter noch 'n Happen Liebenswürdigkeit abkriegen, denn werden Se 'n großartiger Hotelportier, und wenn der Posten bei Adlong frei wird, will ich Sie gerne empfehlen. Leben Se wohl und grüßen Se die andern Indianer!«

Martl zug die Oberlippe in die Höhe und sein Schnurrbart sträubte sich. Aber er fand keine rasche Antwort, und zum Überlegen ließ ihm der damische Hund keine Zeit, denn er stieg gleich ein.

Kurz bevor der Zug abfuhr, schlich der Kanzleirat heran, nahm seinen Koffer von Martl in Empfang und setzte sich abseits in den zweiten Wagen.

Ängstlich spähte er durchs Fenster, ob nicht doch noch der wütende Schlosser herbeieilte und auch von ihm Rechenschaft verlangte.

Er atmete auf, als sich der Zug in Bewegung setzte, und als sich Täler und Hügel zwischen ihn und die Stätte seiner Verfehlung legten.

Es war eben doch ewas anderes, einem Ministerialrat frivole Geschichten nachzuerzählen, als sie selbst zu erleben. Indessen Martl seinen Karren mißmutig heimschob und darüber nachdachte, was er den Berliner alles heißen hätte müssen, und indessen Herr von Wlazeck sich über die entsetzliche Leere klar wurde, die ihn angähnte und die einem Manne, der die Venus zum Leitstern erkoren hatte, so fühlbar sein mußte, indessen Stine mit umflorten Augen den Kirchturm, der so nahe bei einer gewissen Schlosserei stand, verschwinden, noch einmal auftauchen und wieder verschwinden sah, faßte Herr Schnaase das Gesamtergebnis zusammen.

»Und nu gib mal zu, Karline, eigentlich war's doch 'n Reinfall. Ich habe ja dir zuliebe geschwiegen, aber wenn ich an allens denke, dann frage ich mich, wie konnten wir auf das Schwindelinserat fliegen, und wie sind wir uns in diesem hinterbayrischen Nest vorgekommen?«

»Du hast mir zuliebe noch nie geschwiegen«, erwiederte Karoline. »Und wenn du schon nich imstande bist, den Zauber der Einsamkeit und des tiefen Friedens zu empfinden, so mußt du doch nich bei andern die gleiche Gefühllosigkeit suchen.«

»Aber nu biste doch gründlich entzaubert?« fragte Schnaase.

Da wandte sich Karoline von ihm ab und seufzte.

Denn schon auf der Fahrt nach Berlin war sie dabei, die Altaicher Tage zu einem entschwundenen Märchen zu gestalten und sich in Sehnsucht nach dem fernen Glücke einzuleben.

In der anderen Ecke des Wagens saßen Horstmar und Mathilde Hobbe; Tildchen ihnen gegenüber.

Sie sahen zum Fenster hinaus.

Äcker, Wiesen, Wälder huschten vorüber. Braune Flächen, grüne Flächen, Bäume.

Hier hausten Menschen im trostlosen Einerlei, gingen hinterm Pfluge, trieben Tiere, gingen zum Essen, gingen zum Trinken, Tag um Tag, Woche um Woche. Einmal in ihrem Leben fiel Helligkeit in dieses Dunkel.

Ein hoher Geist war unter sie getreten, aber sie wußten es nicht. Sie ahnten es nicht.

Horstmar fuhr aus tiefem Sinnen auf.

»Hast du es?« fragte er ängstlich.

»Ja Liebster«, antwortete Mathilde und deutete auf die Ledertasche an ihrer Seite.

Und dann blickte sie mißbilligend auf das große, hübsche Mädchen, das an einem Fenster stand und unweiblich vor sich hin pfiff.

An was Henny dachte?

An Altaich oder an Berlin?

An stilwidrige Beinkleider oder an Breeches?

Oder an einen Bräutigam und an eine große Wohnung in Charlottenburg, die man modern möblieren konnte?

Übrigens war es sonderbar, daß der dritte doch nicht gekommen war, nicht mal zum Abschiednehmen.

Und der Zug rollte weiter.

In Altaich aber kamen nach einer Regenwoche stille Spätsommertage. Es lag wie Feierabend über den abgeräumten Feldern, und was geblüht und Früchte getragen hatte, schien sich behaglich auszuruhen.

Wer es recht verstand, für den war's eine schöne Zeit.

Und Konrad verstand es und gewann die Heimat von einem Tag zum andern lieber.

Daheim aber, wo sich's an langen Abenden noch behaglicher saß, war ihm Michel ein guter Kamerad.

Der ging nach und nach aus sich heraus und erzählte bessere Geschichten als die vom Patrik Sgean, der am Kaninchenbau dem George Downie eins über den Kopf gegeben hatte. Und erzählte Geschichten von drangvollen Tagen, in denen es sich so nebenher zeigte, was er für ein furchtloser deutscher Mann gewesen war.

Aber das gehörte nicht daher.

Er fühlte sich glücklich bei der Arbeit und lachte fröhlich, wenn zuweilen ein Bauer kam, der einen leibhaftigen G'schlafenhandler sehen wollte.

In der Post war es wie vor dem Gesurrme der Fremdenzeit.

Laut und geschäftig am Schrannentag, schläfrig an den andern.

Alle Kurgäste und merkwürdigen Erscheinungen waren fortgezogen. Der Dichter Bünzli schied einen Tag nach der Familie Schnaase; er fuhr mit dem gleichen Zug wie Mizzi Spera, die sich auf dem Bahnhofe recht kurz von der weinenden Hallbergerin verabschiedete.

Bünzli soll in Winterthur wieder Gerstenschleim und Bärenzucker verkaufen und als ehemals lüderlicher Dichter in einem anreizenden Rufe bei den Mädchen stehen. Herr von Wlazeck kehrte tief verwundet nach Salzburg zurück, wo er an Swoboda und Plachian immer unangenehmere Feststellungen zu machen hat.

Als letzter zog Herr Inspektor Dierl von Altaich ab. Auch als der einzige, der wiederkommen wollte. Der Blenninger Michl steht an guten und schlechten Tagen unterm Haustor mit den Händen in den Hosentaschen, und wenn ihm Natterer unterkommt, verfehlt er nie, zu fragen:

»Was is na g'wen mit dein Summafest?«

Und jedesmal gibt es dem rührigen Manne einen Stich und erinnert ihn an die schlimmste Enttäuschung seines Lebens.

Für die Hebung des Fremdenverkehrs wollte er nie mehr einen Finger rühren.

Was hatte ihm seine Mühe eingebracht?

Spott und Undank.

Und dazu den unausrottbaren Haß des Hausknechts Martl. Der vergaß es dem hundshäuternen Kramer nie, was der ihm hatte antun wollen, und er sah nie ohne Ingrimm die damische Mütze am Nagel hängen mit der Aufschrift: »Hotel Post«. In ungetrübter Freundschaft aber lebte er mit Hansgirgl, der von Altaich nach Sassau und von Sassau nach Altaich fuhr und seinem Stutz zuweilen eins aufblies. Bald ein trauriges, bald ein lustiges Lied. Am liebsten einen Landlerischen:

»Zum Deandl bin i ganga
De ganze Wocha,
Am Samstag auf d' Nacht
Is ma d' Loata brocha.
Dudel-dudel-dudel-duduliäh
Dudel-dudel-duliäh!«

Und dann ereignete sich noch was Merkwürdiges.

Am Kirchweihmontag saß in Niedering draußen beim Wirt der Xaver einträchtig mit der Fanny beisammen.

Es ist was Spaßiges um ein Mädel und seinen ewigen Zorn. Aber es ist auch was Spaßiges um einen Piganier und seine ewige Treue.


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