Ludwig Thoma
Altaich
Ludwig Thoma

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Fünftes Kapitel

»Wer nach Altaich fahrt, aussteigen!« rief der Schaffner, als der Personenzug in Piebing hielt. Er öffnete die Türe eines Wagens zweiter Klasse und fragte:

»De Herrschaft'n fahr'n nach Altaich?«

»Jawollja – spricht Olja«, antwortete ein beleibter Herr, der in einem hellen Staubmantel steckte und eine Reisemütze trug.

Er kletterte ziemlich behende aus dem Wagen und rief:

»Nanu! Wo is denn 'n Träger?"

»Koan Träger gibt's da net«, sagte der Schaffner. »Aber i hilf Eahna scho, und der Stationsdiener tuat aa mit.«

Der Herr sprach in den Wagen hinein.

»Also Kinner, kommt mal raus! Hier sind wir richtig.«

Eine stattliche Dame und nach ihr ein schlankes, hübsches Mädchen von etwa zwanzig Jahren kamen aus dem Coupé ...

»Stine!« rief die Dame. »Reichen Sie das Gepäck heraus!«

Die Zofe, eine stattliche, hochgewachsene Blondine, nahm eine Reisetasche aus dem Netze und eine Hutschachtel und eine kleinere Tasche, dann einen Plaid mit Schirmen und Stöcken, und noch eine Hutschachtel.

Der Schaffner nahm ihr die Gepäckstücke ab und stellte sie behutsam nieder.

Dann pfiff er dem Stationsdiener, der gemächlich herankam.

»De Herrschaft'n fahr'n nach Altaich. Hilfst eahna 's Gepäck danach in 'n Zug eini toa.«

»Is scho recht. Mir hamm no lang Zeit; der Altaicher is no gar net einag'fahr'n.«

Der Herr im Staubmantel überzeugte sich, daß auch das große Gepäck ausgeladen worden war, drei Koffer und zwei umfangreiche Hutschachteln.

Dann schritt er neben seinen Damen auf und ab und betrachtete die Gegend ganz so kritisch, wie man es von dem Rentier Gustav Schnaase aus Berlin erwarten durfte.

Hinter dem kleinen Bahnhofe führte eine mit Birken eingefaßte Straße nach einem größeren Orte, von dem man etliche Gebäude, anscheinend Brauereien, und mehrere Kirchen sah.

Die kleineren Häuser versteckten sich hinter Laubbäumen. Bis an den Ort heran schoben sich bewaldete Hügel, an deren Fuß ein Fluß zu sein schien; man konnte das aus den Weiden schließen, die seinem Laufe folgten.

Im ganzen ein hübsches, friedliches Bild. Das helle Grün der abgemähten Wiesen stieß an gelbe Kornfelder. Die Halme bewegten sich im Winde, und so liefen die Schatten bis zu den Weiden hin, machten Schwenkungen und verloren sich in der Ferne.

»Sagen Sie mal, was ist das für'n Ort?« fragte Schnaase den Stationsdiener und deutete auf Piebing.

»Dös? Dös is Biewing.«

»Und wo liegt Altaich?«

Der Stationsdiener deutete mit dem Daumen halbrechts. »Dort hint'n.« Schnaase sah scharf nach der Richtung hin.

Felder. Weiter entfernt Hügel, die sich ineinander schoben.

»Dort hinten? Na, sagen Sie mal, wo sind denn nu Ihre Alpen?«

»Alp'n?«

»Ja. Ihr Gebirge?«

Der Stationsdiener schüttelte den Kopf.

»Von koan Gebirg woas i nix.«, sagte er und ging weg.

»Nanu, Karline, siehste? Was ich mir schon den ganzen Weg hierher dachte, die Brüder haben uns geleimt mit dem Inserat. Aber mir haben schon die Kinkerlietzken nich gefallen. Nu wart mal auf dein Alpenglühen!«

»Ich finde es lächerlich, wie du seit München immer und ewig das gleiche sagst. Warte doch mal ab. Und übrigens stand im Inserat: Voralpen. Was hat es für'n Zweck, daß du mir die Laune verderben willst?«

»Will ich doch gar nich. Ich konstatiere einfach die Tatsache, und ich bin nu mal nich blind gegen die Tatsachen. Wenn es heißt Voralpen, dann müssen doch mindestens hinten die Alpen sein, und zwar in der Nähe und so, daß man se sieht. Nich wahr? Denn tausend Kilometer vor den Alpen, is am Ende Schöneberg ooch.«

»Du kannst ja deine scharfsinnigen Bemerkungen machen, wenn wir erst mal in Altaich sind. Ich sehe nich ein, warum du schon vorher nörgelst.«

Schnaase wollte erwidern, als sein Blick auf die Altaicher Lokomotive fiel, die schnaubend und pustend mit zwei kleinen Wagen dahinter einfuhr.

»Heiliger Bimbam!« rief er. »Das is ja die Olle von Potzdam, mit der Großvater das erste Mal fuhr. Die wurde doch Anno Null ausrangschiert, wie der große Wind war! Also das is se jetzt?«

Freilich hatte die Lokomotive nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Maschine des zwanzigsten Jahrhunderts, aber es war doch beleidigend, wie sich der fremde Herr vor sie hinstellte und ein lärmendes Gelächter aufschlug.

Der Führer schob sein rußiges Gesicht aus dem Verschlage und maß den Spötter mit bösen Blicken.

Schnaase gab nicht acht darauf und rief immer wieder: »Nee, so was lebt nicht mehr! Nu sieh mal den Schornstein! Es is die Olle von Potzdam . . .«

Endlich ging er weg und stieg mit Frau, Tochter und Stine in einen von den kleinen Wagen, wo er wieder Anlaß zur lauten Heiterkeit fand.

»Ich will dir mal was sagen, Karline, nu bin ich im Bilde, und die Sache gefällt mir schon besser. Nach den Waggons zu schließen, kommen wir in patriarchalische Zustände, und wenn Schwindel dabei is, denn is es wenigstens keen moderner Schwindel. Sieh dir die Bänke an und den Ofen! 'n richtig gehenden Ofen haben se drin! Kinner, was sagt ihr nu?«

»Ich sage, du sollst nicht ewig kritisieren. Daß es nich der Hamburger Schnellzug is, weiß ich auch. Und wenn ich Stadtbahn haben will oder Untergrundbahn, denn bleibe ich eben zu Hause.«

»Will ich doch gar nich! Nee, im Jejenteil! Spaß beiseite, Ernst in die Tasche, ich fasse Zutrauen zu den Leuten und der Umgegend. Wo man sonne Bahnen hat, da laß dich ruhig nieder! Da is noch Biedersinn und Zurückgebliebenheit.«

»Nu halte nich fortwährend Reden, Gustav!«

»Verstehe mich richtig, Karlineken! Du meinst immer, ich nörgle; ich spreche aber meine volle Zufriedenheit aus. 'n Ort, zu dem man mit sonner Bahn fährt, kennt keine Schwindelpreise und Ausbeutung und Fremdenindustrie. Die Leute sind primitiv. Und primitiv is jut. Ich bin ausgesöhnt mit der Gegend, und wenn se uns, oder vielmehr, wenn se dir, Karline, auf den Leim gelockt haben mit ihre Voralpen oder Hinteralpen, dann sage ich einfach, es is Inserat. Und Inserat is erlaubter Schwindel. Wenn ich ne Wohnung an der Hedemannstraße inseriere, mache ich so ooch schöner, wie se is.«

Herr Schnaase hatte keine Zuhörerinnen, da sich seine Frau unwillig abgewandt hatte und Henny und Stine zum Fenster hinaussahen.

Das hätte ihn nicht abgehalten, weiter zu reden, aber die Umgebung erregte seine Neugierde, und da der Zug noch immer hielt, stand er auf und stellte sich auf Plattform hinaus.

Er sah, wie der Stationsdiener zwei schäumende Maßkrüge zur Lokomotive hinaufreichte, wie der Führer und der Heizer sie nahmen, und wie sie sich nach etlichen kräftigen Schlucken mit dem Stationsdiener unterhielten.

Da alle drei zu ihm hinsahen und dann ein dröhnendes Gelächter aufschlugen, konnte er glauben, daß sie sich über ihn unterhielten und einige Nord- und Südgegensätze gefunden hatten.

Er nahm es den primitiven Leuten nicht übel, und daß sie schon wieder Bier tranken, fand er originell. Es entsprach auch den Schilderungen, die man ihm von Bayern gemacht hatte.

Er war so guter Laune, daß er jetzt den Markt Piebing mit Wohlwollen betrachtete.

Er zählte. Eine, zwei, vier Brauereien in dem kleinen Nest! Donnerwetter! Die Brüder hier mußten aasig picheln, wenn sich die rentieren konnten.

Na, man sah's ja.

Der Lokomotivführer reichte dem Stationsdiener die zwei leeren Maßkrüge hinunter und wischte sich mit der rußigen Hand den Schnauzbart ab.

»Ochott!« rief Stine und prallte vom Fenster zurück. »Was sind das für Leute!«

Henny fragte, was denn los wäre. Aber Stine sträubte sich zu erzählen. »Ochott! Neun!« rief sie mehrmals.

Dann sagte sie, daß der Mann, der die Bierkrüge trug, stehen geblieben sei und sich – ochott! fui! – in die Finger – neun! – geschneuzt habe.

»Und denn fuhr er sich mit der andern Hand, in der er doch die Krüge trug, unter der Nase lang – so ...«

Stine machte es nach und verzog ihr hübsches Gesicht vor Abscheu.

Henny sagte, man werde sich hier vermutlich an einiges gewöhnen müssen. Sie habe ganz den Eindruck.

Darin erblickte Frau Schnaase eine Opposition gegen ihre Pläne und Wünsche, denn von ihr war der Vorschlag ausgegangen, und sie hatte es durchgesetzt, daß man nach Altaich reiste.

»Ich verbitte mir diese Bemerkungen, Henny. Wenn Papa und ich mal nach Bayern wollten, dann werden wir wissen, warum. Und wenn wir nich schon wieder nach Zoppot gingen, dann hatten wir unsere Gründe dagegen. Und Stine! Wenn Sie den Anblick nich ertragen können, dann setzen Sie sich nich ans Fenster! Übrigens in Klein-Kummerfelde kann ja auch mal so was vorkommen. Nich?«

Stine widersprach, und Henny war schockiert.

Herr Schnaase kam von der Plattform herein und wollte sich über seine Beobachtung auslassen, aber seine Frau schnitt ihm das Wort ab, und dann setzte sich der Zug in Bewegung.

Er fuhr durch ein fruchtbares Land, das sich wohlig im Sonnenschein ausbreitete und dem Betrachter alles mögliche von einst und jetzt erzählte.

Von Arbeit, die in uralten Formen geschieht und die Geschlechter von Menschen unverändert erhält; von Freuden, die sich ewig gleich wiederholen in den stattlichen Wirtshäusern, vor denen geputzte Maibäume stehen; vom mühseligen und vom lustigen Leben, das in den kleinen Kirchen den ersten Segen empfängt, und daneben unter den Kreuzen zur Ruhe kommt.

Kleine Wege liefen neben der Bahn her, huschten über Brücken, versteckten sich hinter Stauden und Bäumen, kletterten die Hügel hinauf und schlichen sich verstohlen in grüne Wälder.

Ein Schloß stand hinter einem Weiher und schaute verächtlich über niedere Häuser weg. Es konnte vielleicht die Zeit nicht vergessen, da es ein gräfliches Lustheim war, mit Genien und Wappen über dem Tore, mit einem auf französische Art geputzten Garten dahinter.

Es hörte in seinen Träumen die Fontäne plätschern, die ihr Wasser übermütig in die Höhe schleuderte und zurückfallen ließ auf einen gravitätischen Neptunus und einige niedere Wassergötter. Es träumte von gezierten Schiffen, die auf dem Wasser fuhren, von tapfermütigen Rittern gelenkt, die den preiswürdigen Damen ihre brennende Passion erklärten.

Es dachte an vergangene Zeit und schämte sich der Gegenwart, die es zu einem Kinderasyle gemacht hatte. Seine Pracht mußte untergehen, aber in den niedern Häusern mit den strohgedeckten Dächern hatte sich nichts verändert.

Schnaase, der den Kopf zum Fenster hinaus hielt, mochte, wenn auch nicht das, so doch allerlei denken, und Gedanken sprach er aus.

»Karline, ich warte nu schon die ganze Zeit und sehe nich die Spur von Industrie. Nischt wie Bauernhäuser un Kirchen un Kirchen un Bauernhäuser. Die ganze Neuzeit mit ihrem kolossalen Fortschritt ist in diese Gegend überhaupt noch nich vorjedrungen. Nich ein Fabrikschlot, nich ein Etablissemank, und wenn ich an so ne Fahrt denke, wie von Berlin nach Leipzig oder Hannover oder nach Halle, denn frage ich mich, wie is es möglich, daß der moderne Geist einfach wie vor ner Schranke halt gemacht hat, und wie is es möglich ...«

»Gott Gustav! Das sagt doch schon Baedecker, daß man in der Fremde nich die gleichen Verhältnisse suchen soll, wie zu Hause.«

»Ich lasse mir von Baedecker nicht das Denken verbieten, und wenn ich vor ner rätselhaften Erscheinung stehe, dann such ich eben nach ner Erklärung. Als denkender Mensch, nich wahr?«

»Du bringst dich doch bloß um den Genuß, weiter nischt. Mir is es doch wirklich mehr wehrt, daß die Gegend hübsch ist.«

»Hübsch ... na ... ja.«

»Fängst du schon wieder an? Ich finde diese kleinen Dörfer und überhaupt alles ganz entzückend.«

»Meinetwegen. Aber Enttäuschung is es und bleibt es, wenn ich mich auf Alpen vorbereite ... na, laß mal! Ich weiß ja, was du sagen willst, und ich nörgle nich. Ich konstatiere aber die einfache Tatsache, daß hier nich die Spur von Industrie zu sehen ist. Da! Vier, fünf Häuser mit Strohdächern, un daneben wieder ne Kirche! Nee, das is nu mal ne andre Welt.«

Der Zug hielt oft. Hie und da vor einem kleinen Bahnhofe, manchmal auf dem freien Felde. Dann stand auf einer hölzernen Tafel das Wort »Haltestelle«, und eine kleine Hütte aus Wellblech war der Warteraum. Beim Halten und Anfahren prallten die Wagen so aufeinander, daß man von den Bänken gehoben wurde.

Und einmal fiel Stine einem gegenübersitzenden Landmanne, der in Zeidolfing eingestiegen war, auf den Schoß.

»Ochott! Neun!« rief sie schmerzlich aus und schob sich den Hut wieder gerade. »So fährt man doch nich!«

»Er werd eahm net gnua Dampf hamm; er ziahgt eahm a weng hart o«, sagte der Zeidolfinger.

Stine blickte ihn ratlos an. Sie konnte kein Wort verstehen.

»Er werd eahm z'weng Dampf hamm«, wiederholte der Mann freundlich, aber es konnte sich keine Unterhaltung entspinnen.

Man fuhr noch eine Weile durch das Vilstal, und endlich schnaufte die Lokomotive sehr erschöpft im Bahnhofe von Altaich.

Schnaase stieg rasch aus und sah sich nach einem Hoteldiener um.

Es waren aber nur zwei Leute da.

Der Bahnvorstand Heigelmoser und der Stationsdiener Simmerl.

Heigelmoser grüßte ritterlich, setzte seinen Kneifer zurecht und ging zur Lokomotive vor, was er sonst nie tat, und richtete im Befehlstone Fragen an den Lokomotivführer Schanderl, der so verblüfft war, daß er anständig und freundlich antwortete.

Hinterdrein glaubte er, daß der Adjunkt übergeschnappt wäre.

Er wußte nicht, was er für eine unwürdige Rolle hatte spielen müssen, damit der Heigelmoser sich vor der eleganten jungen Dame ein Ansehen geben konnte.

Schnaase wandte sich an den Stationsdiener.

»Sagen Sie mal, wer schafft denn hier das Gepäck ins Hotel?«

Simmerl schaute ihn verständnislos und gleichgültig an.

Er brummte, daß er von keinen Hotel nichts wisse.

»Wir wollen doch hier ... du hast den Namen aufgeschrieben, Karline ...«

»Hotel zur Post« las Frau Schnaase aus ihrem Notzbuche vor.

»Von da Post is neamd da. Von da Post kimmt überhaupts neamd ...«

»Ja, sollen wir unser Gepäck selbst auf der Karre hinbringen? Heiliger Bimbam, nu wird mir die Bummelei aber doch zu stark! ...«

Heigelmoser eilte heran und klappte die Absätze zusammen.

»Bahnvorstand Heigelmoser ...«

»Sehr angenehm; mein Name ist Schnaase. Sagen sie mal, Herr Bahnvorsteher ...«

»Die Herrschaften wollen Ihr Gepäck in die ›Post‹ schaffen lassen?«

»Aber natürlich! Ich verstehe nur nich ...«

»Die Herrschaften sind vermutlich zum Kuraufenthalt eingetroffen?«

»Jawollja ... aber sagen Sie mal, was sind denn das für Zustände? Es muß doch jemand vom Hotel am Zuge sein ...«

Heigelmoser lächelte.

»Die Leute sind der Situation noch nicht so gewachsen ...«

»Nanu! Wenn man schon die größten Inserate losläßt ...«

»Vielleicht kann das Gepäck einstweilen hier eingestellt werden, und dann holt man es von der ›Post‹ ab?«

»Also gut. So wird's wohl gehen, Karline?«

Frau Schnaase nickte. Henny fing belustigt den huldigenden Blick des Adjunkten auf.

Das spornte ihn zu neuer Liebenswürdigkeit an.

»Das kleine Gepäck lasse ich den Herrschaften gleich besorgen. Das können ja Sie tragen«, sagte er zum Stationsdiener.

Simmerl, dem sein Vorgesetzter gar zu geschäftig vorkam, war unwirsch.

»I?« fragte er.

»Nehmen Sie's nur und begleiten Sie die Herrschaften!«

»Ja, i muaß do de zwoa Kaibln ei'lad'n vom Hartlwirt z' Tandern ...«

»Die laden Sie später ein!«

Simmerl fand, daß sich der Herr Adjunkt ein wenig krautig machte, und er hätte sich am liebsten widerhaarig benommen, aber eine Ahnung, daß bei der Geschichte etliche Maß Bier herausschauen könnten, stimmte ihn versöhnlich.

Er nahm eine Hutschachtel und zwei Taschen und ging voran. Stine folgte mit dem andern Gepäck. Hinter ihr hing die Familie Schnaase, die sich freundlich von Heigelmoser verabschiedet hatte.

»Was er für verliebte Nasenlöcher machte!« sagte die Tochter.

»Henny! Wenn uns schon jemand freundlich entgegenkommt ...«

»Gott, Mama! Hältst du es für nötig, bei jeder Gelegenheit erzieherisch zu wirken? Ich gestehe dir offen, daß ich keinen Geschmack daran finde.«

Frau Schnaase, die auf der staubigen Straße bei der prallen Hitze genau so schlecht gelaunt wurde, wie ihre Tochter, wollte heftig erwidern, aber der Vater nahm das Wort.

»Kinner! Mir geht allmählich 'n Seifensieder auf. Dieses biedere, um verschiedene Jahrhunderte zurückgebliebene, schlichte Volk hat uns Berliner auf unserem ureigensten Gebiet geschlagen, nämlich auf dem Gebiete des Zeitungs- und Inseratenwesens! Allerhand Achtung vor dem geriebenen Jungen, der das, was wir hier sehen, mit fetten Buchstaben ausgerechnet in einem Berliner Blatte als Höhenluftkurort ausschreiben ließ. Der Mann hat Mut und Phantasie, und die Art, wie er uns eingewickelt hat, imponiert mir. Wenn ich'n Berliner Inserat lese, bin ich vorsichtig, und kommt's recht dick, dann denke ich mir: Scheibe mein Herzken. Aber wenn das Auge mitten unter den großstädtischen Schwindelannoncen ganz unvermutet auf so ne angeprießene bayrische Oase fällt, dann riecht's förmlich nach Natur und Treuherzigkeit, und kein Mensch denkt an Schwindel, und man malt sich ne Idylle aus, man gibt noch selbst was dazu, weil man glaubt, dieses schlichte Volk hat gar nicht den Mut, ordentlich aufzutragen. Man denkt, es is zu schüchtern, zu naiv. Un denn eilt man auf Flügeln des Vertrauens her und sieht, was einem die Brüder als Höhenluftkurort in den Voralpen angedreht haben ...«

»Ich gehe keinen Schritt mehr weiter«, sagte Frau Schnaase, deren Antlitz von Sonnenhitze und Empörung glühend rot geworden war.

Sie blieb stehen, und man sah es ihr an, daß eine übermächtige Bitterkeit in ihr aufgequollen war.

»Nanu, Olleken!« rief ihr Mann etwas erschrocken aus.

»Ich gehe keinen Schritt mehr weiter. Ich habe es satt, mich von dir und Henny quälen zu lassen ...«

»Aber Mama!«

»Ja! Quälen und peinigen ...«

Frau Schnaase kämpfte mit den Tränen.

»Ihr tut ja gerade so, als ob ich verantwortlich wäre für alles, was euch nicht gefällt. Nein! Fällt mir doch gar nicht ein! Ich tue einfach nicht mehr mit. Sag' dem Mann, er soll das Gepäck zurücktragen! Wir nehmen den nächsten Zug. Ich fahre heim, und könnt ja tun, was ihr für gut findet ...«

»Aber Karline, nu beruhige dich wieder! Du bist 'n bißchen nervös geworden ...«

»Ich? Ihr natürlich nicht!«

»Wir ooch. Es fällt mir doch nich im Schlafe ein, dich zu kränken oder dich verantwortlich zu machen ... Nee! Und sieh mal zu, wir gehen jetzt ruhig ins Hotel, und denn ruhen wir uns aus ... nich wahr? Und denn sehen wir schon, was zu tun ist ...«

»Also gut! Ich gehe noch mal mit. Aber, Gustav, das sage ich dir, wenn du noch mal auf mir piekst, dann packe ich sofort.«

»Bong! Nu komm aber. Wir wollen doch nicht hier auf der Straße ... Der Kerl spitzt schon die Löffel ...«

Die Familie legte den letzten Teil des Weges schweigend zurück, und in Schnaase erregte alles, was er nun unterdrücken mußte, einen heftigen Zorn.

Unterm Tore der »Post« standen der Blenninger Michel und sein Hausknecht Martl. Sie hielten eine Siesta ab, indem sie nichts sprachen und abwechselnd aufs Pflaster spuckten. Sie wurden empfindlich gestört. Zuerst mußten sie erstaunen über die Prozession, die hinterm Simmerl von der Bahn herauf kam, dann mußten sie ihre Stellung räumen, weil die Leute offenbar in die »Post« kamen, und dann trat der dicke Herr auf den Blenninger zu und sagte in einer unangenehmen scharfen Sprache:

»Der Mann behauptet, daß Sie der Posthalter sind.«

Michel schaute mit unerschütterlicher Ruhe in die Augen des Fremden und antwortete langsam: »I bin da Posthalter – jawoi ...«

»So? Na, dann will ich Ihnen mal was sagen. Wenn Sie Ihren famosen Voralpenkurort schon ausschreiben, wissen Sie, wenn Sie schon das Geld für Inserate ausgeben, dann können Se sich auch den Luxus gestatten und 'n Hoteldiener auf die Bahn schicken, nich wahr? Das is nämlich so Usus in Europa, wissen Se, und zu Europa gehören Sie am Ende ooch noch, nich wahr? Das is nämlich keine Manier, wissen Se, daß man Gäste anlockt, und denn läßt man sie auf der Bahn stehen und zwingt die Damen, die staubige Straße da heraufzupaddeln. Das können Sie machen, wissen Se, mit Ihren ausgewachsenen Rabattentretern, aber nich Damen, nich wahr? Dieses Mindestgrad von Kultur müssen Se hier ooch noch leisten, verstehen Se, oder lotsen Se die Leute nich her in Ihre Schwindelalpen und schicken Se ganz einfach 'n Wagen an die Bahn. Das wollte ich Ihnen zunächst mal sagen, verehrter Herr!«

Die Wirkung auf den Posthalter war sehr stark.

Zuerst schaute er harmlos und interessiert dem Herrn auf den Mund und bewunderte ihn, daß er die Worte so schnell hintereinander ausstoßen konnte, aber allmählich zog er den Kopf ein und schielte verlegen zum Martl hinüber, der mit weit aufgerissenen Augen den Vorgang beobachtete, und dann nahm der Blenninger die Mütze ab, kratzte sich hinter den Ohren und sagte, als Schnaase fertig war: »Ja ... ja ... und nacha wollen S' wahrscheinli dableib'n?«

»Das kommt auf verschiedenes an, nich wahr? So Noblenz-Coblenz lassen wir uns nich mehr auf den Leim locken, aber jedenfalls müssen wir jetzt 'n paar Zimmer haben ...«

Der Posthalter ersah die Gelegenheit zur Flucht, und um seinen Rückzug zu decken, schrie er in die Gaststube hinein:

»D' Fanny soll kemma! Herrschaft'n san da ... machts amal, daß d' Fanny außa kimmt!«

Dann schlüpfte er schneller, als es seine Gewohnheit war, in die Gaststube, wo er sich auf das Ledersofa am Ofen in einen ganz sicheren und gedeckten Winkel setzte. Er holte sich mit einer schwerfälligen Bewegung eine Zigarre aus der Tasche, und indes er den Rauch nachdenklich vor sich hinblies, hörte er wie von ferne noch einmal das Schnellfeuer des Berliners.

»Ja, Herrschaftssax'n! ... Resi! Sag' da Köchin, sie soll ma'r an Kaffee einaschick'n ... ja, Kreuzbirnbaum und Hollerstaud'n! Ja Herrschaftseit'n überanand! ...«

Martl ließ seinen Herrn im Stich, als er merkte, daß sich die Geschichte auf ihn und den neumodischen Bahnhofsdienst hinüberreiben konnte.

Er zog sich zurück und entwischte in das Kutscherstübl zu seiem Freunde Hansgirgl, der als Postillon täglich von Altaich nach Sassau fuhr.

Im Kutscherstübl, an dessen Wänden alle möglichen Pferdegeschirre hingen, roch es gemütlich nach geschmiertem Leder. Ein Backsteinkäs, von dem der Hansgirgl bedächtig ein Stück nach dem andern herunterschnitt, und ein gebeizter Rettich gaben ihre Düfte darein.

Martl setzte sich an den Tisch, und Hansgirgl schob ihm schweigend den Maßkrug zum Willkommen hin. Da tat der Martl einen tiefen Zug, und wie er sich hernach den Schnauzbart abwischte, schaute er mit gläsernen Augen geradeaus.

»Saggera! Saggera!« sagte er.

»Magst koan Kas?« fragte Hansgirgl.

»Na. Koan Kas mog i jetzt net.«

Aber ein Bier mochte er, und er nahm den Maßkrug und tat wieder einen tiefen Zug.

»Saggera! Saggera!«

Er mußte an das Erlebnis unterm Tore denken und es innerlich verarbeiten.

Der Hansgirgl dachte an nichts.

Er aß ein Stück Brot und ein Stück Käs und etliche Blattl vom Rettich und fing die Reihenfolge wieder von vorne an.

Die beiden kannten einander so gut, daß ihnen das Beisammensein auch ohne Dischkrieren genügte. Aber den Martl trieb es doch, sein Erlebnis zu erzählen; er stieß seinen Freund mit dem Ellenbogen an.

»Da Blenninga is heint unter de Breiß'n eini kemma ... Mei Liaba, den hat's dawischt ...«

»Da Blenninga?«

»Ja.«

Martl trank.

Hansgirgl stützte das Messer auf den Tisch und schaute verloren vor sich hin.

Dann fragte er: »Was hat denn der Blenninga mit die Breiß'n z' toa?«

»Ja no ... A Summafrischla. Woaßt scho, mit dera neumodisch'n Gaudi kemman allerhand Leut' daher.«

»A so moanst? A Summafrischla?«

Hansgirgl war mit dem Käs fertig und wischte sein Messer umständlich am Einwickelpapier ab, und dann trank er auch einmal.

»So ... so ... A Summafrischla«, wiederholte er.

»Dös ko'st da fei net denga, wia der Breiß an Posthalter z'sammbiss'n hat ... . mei Liaba!«

»Geh?«

»A so hat er'n scho nieda gredt, daß nix zwoats net gibt.«

»Ah! Zwegn was nacha?«

»Ja, woaßt scho. Der Breiß is mit 'n Zug kemma, und drei Weibsbilder hat a bei eahm g'habt, und weil neamd auf da Bahn g'wen is, weil ma's net g'schmeckt hat, net? Da is da Breiß belzi worn, un da is eahm unta da Haustür da Posthalta in Wurf kemma. Und hat'n scho g'habt aa und nimma auslass'n, mei Liaba! ...«

»Geh?«

Hansgirgl stand schwerfällig auf und ging mit dem leeren Maßkrug zum Fenster hin. Er pfiff gellend durch die Finger.

Ein Stallbub lief über den Hof und nahm den Maßkrug.

»Holst a Maß! Aba net wieda z'erscht a Quartl abatrinka . . . Mistbua! Sinscht schlag' i da'r amal 's Kreiz o ...«

»Rotzbua!«, brummte er noch, wie er sich wieder neben Martl hinsetzte. »... So ... so? An Blenninga hat der Breiß dabiss'n?«

»Ah ... mei Liaba! Da ko'st da nix denga, wia'n der z'sammpackt hat. Und wia g'schwind daß der Mensch g'redt hat! An Stallkübl voll Wassa wannst nimmst und giaßt'n oan übern Kopf aus, nacha is aa net anderst. Zu'n Schnaufa kimmst d' nimma, wia di der z'sammpackt ...«

»Geh?«

Sie saßen in Gedanken verloren nebeneinander, bis Seppl die frische Maß brachte.

Dann prüfte Hansgirgl mißtrauisch den Inhalt und trank einmal richtig, und auch Martl nahm wieder einen tiefen Zug.

»So ... so? Ja, was hat'n nacha da Blenninga g'sagt?«

»G'sagt! Der is nimma zum Sag'n kemma, mei Liaba! Was glaabst denn, wia der Breiß g'redt hat! An Vozz hat er überhaupts nimma zuabracht. Grad auf und o is ganga, und 's Biß hat er eahm zoagt, wia da Hund an da Kett'n ...«

»Geh?«

»Wann a d' as sag, an Stallkübi voll Trank balst über oan ausschüttst, is aa net anderst ...«

Martl hatte sich genug erzählt, und Hansgirgl sich genug gehört. Sie hatten was zum Nachsinnieren und wunderten sich und tranken schweigend eine Maß dazu.

sie hätten noch etliche getrunken und nachsinniert, aber ein paar Weibsbilder, die der Teufel immer herführen muß, wenn es einmal gemütlich wird, schrien im Hof herum nach dem Martl. Da stand er mißmutig auf und ging.

»Kinner«, sagte Schnaase und wischte sich mit der Serviette behaglich den Mund ab, »Kinner, wenn ich so an allens denke, was wir eben gegessen haben, dann sage ich allerhand Achtung, und wir dürfen uns nicht überstürzen mit der Abreise ...«

»Wenn du das gleich gedacht hättest, wäre uns manches erspart geblieben ...«

»In gewisser Beziehung sollst du mal recht behalten, Karline, aber 'n bißchen warst du selbst schuld an dem Klamauk ... Nanu, reg' dich nur nicht auf! Ich weiß schon, die Hauptschuld trifft mich. Wie wir die Straße lang gezoddelt sind, überkam mir der Gedanke, daß man sich eigentlich nicht als Kesekopp von den gerissenen Ureinwohnern betimpeln lassen soll. Und unter dem Eindrucke, Karline, habe ich den verehrten Gastgeber 'n bißchen auf den Zug gebracht. Da war mir nu gleich leichter, und denn haben wir Zimmer bekommen, die in ihrer Art nicht übel sind, wenn's auch nich so is wie bei Adlong ... was sagste, Henny?«

»Ich finde, daß man auf gewisse Ansprüche nicht verzichten kann. Kein laufendes Wasser, kein Bad, und ... na ja! ...«

»Hier sind doch Heilbäder. Wenn wir sie regelmäßig gebrauchen, können wir die anderen entbehren«, sagte Frau Schnaase.

»Vorerst wissen wir das nur aus dem Inserat, Karline, un Inserat is Schwindel. Ich will dir nich zu nahe treten, aber hoffentlich is es mit den Heilbädern nich so oder ähnlich wie mit den Voralpen. Aber Mama hat recht, Henny, man muß die Dinge nehmen, wie sie sind. Und wenn kein laufendes Wasser im Zimmer ist, dann hat eben die Bedienung mehr Unannehmlichkeiten, aber nich du. Und was den ... na ja ... betrifft, der Gegenstand is wohl zu delikat, als daß ich ihn hier näher in Betrachtung ziehe, aber ich will dir nur sagen, du mußt mal 'n bißchen groß denken. Und dabei kannste sehen, wie die Alten sungen, denn der Siegeszug des ›W.C.‹ durch Berlin is noch nicht so lange her ...«

»Vielleicht läßt du das Thema wirklich fallen, Gustav?«

»Ganz, was ich sage. Der Gegenstand is zu delikat. Ich möchte also nur betonen, Henny, daß man über Kleinigkeiten die Hauptsache nich aus dem Auge verlieren soll. Un die Hauptsache is das hier . . .«

Schnaase klopfte auf den Tisch – »diese Schnitzel und die süße Speise ... Kinner, das war ein A ... und deswegen sage ich, wir dürfen uns kein abschließendes Urteil bilden, und wir wollen mal sehen, ob sich auch in den Preisen die gewisse Solidität bemerkbar macht. Fräulein, kommen Sie mal her!«

Resi kam langsam an den Tisch heran, und weil sie von den fremden Frauenzimmern Scheu hatte, suzzelte sie verlegen durch die Zähne.

Die Schnaaseschen achteten nicht so darauf wie Stine, die für solche Unans ... ständigkeiten ein scharfes Auge hatte.

»Fräulein, rechnen Sie mal zusammen!« Resi zog einen Bleistift aus ihrem falschen Zopfe und netzte ihn mit der Zunge.

»Viermal Schnitzel macht zwoa Mark vierzgi und zwanzgi is zwoa Mark sechzgi und viermal Supp'n is sechzgi, san drei Mark zehni ... na ... drei Mark zwangzi ...«

Sie schrieb die Zahl auf die Tischplatte, denn einen Block hatte sie sich noch immer nicht angeschafft, trotz aller Ermahnungen des Herrn Natterer.

»Drei Mark zwansgi und vier Rahmstrudel hamm S' g'habt, is a Mark zwanzgi, mach vier Mark vierzgi, und g'rösti Kartoffi hätt i bald vagess'n, san vierzgi, macht vier Mark achtzgi, und Bier hamm S' g'habt zwoa Halbi und zwoa Quartl, san sechsadreißgi, und wia viel Brot?«

Schnaase hatte aus dem schauderhaften Deutsch nur die Worte vier Mark und achzig aufgefangen; sie stimmten ihn fröhlich, und er rief wohlwollend: »Brot? Rechnen Sie, so viel Sie wollen, sagen wir pro Nase zwei ... also acht, verehrte Hebe!«

»Acht Brot san vierazwanzgi ...«

Resi wischte mit dem nassen Finger eine Zahl aus, schrieb eine neue hin und rechnete angestrengt ... Vier und sechs ... san zehni ... bleibt oans ...

Zuletzt kam die Zahl »fünf Mark vierzgi« heraus.

Schnaase gab ihr sechs Mark und sagte, so sei es nun recht, was einen starken Eindruck auf Resi machte.

Als sie ihre Ledertasche zuklappte und wegging, sah sich Schnaase vorsichtig um und flüsterte:

»Karline! Sechs Märker! Nu denk' mal an Zoppot oder an die Schweiz. Nee, Kinner, wir wollen die Natur hier mit wohlwollenden Augen betrachten, und wenn sie nich unter allem Muff is, denn bleiben wir ... Was machst du für'n Flunsch, Henny?«

»Gott, ich weiß ja, wie das bei uns ist! Wir können nie hingehen, wo andere Leute sind ... Das ist doch unsere Romantik ...«

»Wenn du mich meinst«, sagte Frau Schnaase, »dann will ich dir mal was sagen. Meine Romantik ist, daß ich mich erholen will, und vielleicht habe ich 'n Recht darauf, nich wahr? Und wenn ich schon das ganze Jahr die Leute aus der Kantstraße und vom Kurfürstendamm genießen muß, dann möchte ich im Sommer 'n paar Wochen für mich sein ...«

»Mama hat recht. Ich bin ihr geradezu dankbar, daß sie mit dem gewissen Instinkte und ganz ohne Baedeker diese Oase der reellen Preise gefunden hat. Und das hat nu gar keinen Wert, Henny, daß du immer noch bei deinem gewissen ›na ja‹ bleibst und über Mängel an Kultur trauerst ...«

»Nu laß das, Gustav! Jedenfalls sind wir hier, und wir werden nich ohne Grund weggehen. Vielleicht kann Henny zur Abwechslung auch mal Rücksicht nehmen auf meine Wünsche.«

Die Familie erhob sich, und Herr Schnaase sagte, er wolle auch mal mit dem Wirt 'n versöhnliches Wort sprechen.

»Fräulein, rufen Sie den Herrn Posthalter!«

Das ging nicht so leicht, denn der Blenninger Michel war über den Hof in einen geschützen Winkel entflohen. Er saß unter einer Hollerstaude hinterm Wagenschupfen, und beim Bienensummen und Fliegenbrummen war ein eingeschlafen.

Die Resi rief der Fanny und die Fanni der Zenzi, und man suchte den Herrn im Stall und in den Städeln, und erst der Seppl, der die Gewohnheiten des Posthalters kannte, lief zu der Hollerstauden und weckte den Michel auf.

»Was gibt's? Füri kemma soll i? Zwegn was?«

»Zu de Herrschaft'n, de wo heut kemma san ...«

Der Blenninger gähnte und stierte schlaftrunken von sich hin.

»Heut ... kemma san?«

Allmählich wurde ihm die Erinnerung wach an einen Menschen, der furchtbar schnell geredet hatte.

»Ah ... der sell? Was wui der scho wieda?«

Er stand aber doch auf und ging langsam und verdrossen über dem Hof.

Im Torweg stand Schnaase, der trotz des Vorsatzes, liebenswürdig zu sein, ungeduldig geworden war.

»Na endlich! Also verehrtester Herr Posthalter, ich möchte Ihnen zunächst das Kompliment machen, daß wir mit Ihrer Küche sehr zufrieden waren, und dann möchte ich Ihnen mitteilen, daß wir hier bleiben werden ... zunächst mal ne Woche, wenn die Verpflegung auf der gleichen Höhe bleibt, wahrscheinlich länger ...«

»So?« sagte der Blenninger.

»Natürlich, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, wenn Sie die Zimmer frei haben ...«

»Warum net?«

»Wie?«

»Warum nacha net?« wiederholte Michel. »De Zimma san scho frei.«

»Schön! Also das wäre abgemacht, was?«

»Vo mir aus.«

»Ja, wenn Sie einverstanden sind, und wenn also die Sache in Ordnung is, denn müssen Sie schon die Liebenswürdigkeit haben, unser Gepäck herschaffen zu lassen ...«

Schnaase geriet unwillkürlich in einen gereizten Ton. Er konnte sich nicht so ohne weiteres in das Phlegma des Blenninger Michel schicken.

»Eahna Gepäck?«

»Jawollja ... unser Gepäck. Wir haben nämlich die Hauptsache noch auf der Bahn stehen. Wir sind nicht bloß mit Hemdkragen und Zahnbürste gereist ...«

»Auf da Bahn drunt'n? Da muaß i's halt an Martl sag'n, daß a mit 'n Karr'n abi fahrt ...«

»Vielleicht haben Sie die Güte, ja? ...«

Der Blenninger hatte sie und auch das Bedürfnis nach Ruhe. Er ging in die Küche und sagte der Sephi, sie solle es dem Martl sagen.

Davon kam das Geschrei der Weibsbilder, das Martl aus seiner Gemütlichkeit aufstörte.

Herr Schnaase ging zu seinen Damen, die vor dem Tore standen. Man wollte auf einen Spaziergang den Markt und seine versprochene Schönheit kennen lernen.

Schnaase war etwas verärgert.

»Na, fassungslos vor Entzücken war der Lulatsch nich, wie ich ihm das sagte, daß wir hier bleiben wollen. Die Art Leute is mir rätselhaft ...«

»Man muß sie eben nehmen, wie sie sind ...«

»Nimm se! Das is doch das, was ich sage. Man kann se nich nehmen. Betrachte dir mal den Menschen, wenn ich mit ihm spreche. Ich bin aufgeregt und ärgerlich, er merkt's nich. Ich bin liebenswürdig und sage ihm was Angenehmes, er merkt's nich. Er kuckt an mir vorbei in de Luft, und wenn er schon mal Antwort gibt, denn is es so, daß ich mich frage: wozu redste eigentlich, Schnaase? Nee! Wenn sie alle so sind ... !«

Sie waren nicht alle so.

Ein ganz anders geartetes, der Kultur sich viel mehr annäherndes Individuum eilte gerade jetzt über den Marktplatz und zog vor der Berliner Familie mit auffälliger Ehrerbietung den Hut, verbeugte sich öfters, lächelte ein herzliches Willkommen und ging eilig weiter.

»Nanu!« sagte Schnaase und drehte sich nach diesem Vertreter der Zivilisation um.

Auch das Individuum blieb nach einigen Schritten stehen und drehte sich nach den vornehmen Fremden um.

Er grüßte wiederum und verschwand im Torwege.

»Nanu!« sagte Schnaase und schritt etwas erleichtert neben Karoline her.

Natterer, der durch seine Höflichkeit eine ungünstige Meinung über die Altaicher gemildert hatte, stürmte in die Gaststube.

»Wo is der Herr Blenninger?«

»Hö ... hö!« machte der Posthalter, der keine Aufgeregtheit leiden mochte.

»Also Blenninger, das geht einfach nicht mehr! Wenn der Dichter net zufällig in mein Laden kommen wär, hätt' ich überhaupt nix erfahren, daß wieder eine Familie eintroffen is; dir is ja net der Müh' wert, daß d' mir a Nachricht gibst!«

»Dös hättst scho no z' wiss'n kriagt. So wer's net pressier'n.«

»Ich muß doch an Überblick hamm! Ich muß doch die Kurlisten führ'n! Oder führst as vielleicht du?«

»Gwiß net«, sagte der Blenninger ruhig und steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Also muß Ordnung sei, net wahr? Und überhaupt müssen Formulare her, verstanden, wo die eintreffenden Kurgäst eingschrieben wär'n ...«

»Was hast denn für an Schmarrn?«

»Bei dir waar alles a Schmarrn! Bloß die Einnahmen net, gel? Wer hat denn d' Leut herbracht? Wenn i net ganz anderne Tendenzen hätt' als wie du, nacha waar heut no koa Kurgast in Altaich ...«

»Is ja recht. Ma laßt dir Dei Ehr ...«

»Ich brauch' keine Ehr. Ich arbeite für das Gemeinwohl, und weil ich erkannt habe, daß jetzt die Epoche is, wo man Altaich als Kurort heben kann ...«

»Also, vo mir aus. Du bist derjenige, wo ...«

»Ich brauch keine Anerkennung, sag i. Aber Ordnung will i hamm, und de Formular müss'n druckt wer'n ...«

»Druckst d'as halt ...«

Der tiefe Frieden, den Blenninger ausstrahlte, wirkte auf Natterer, und er sagte ruhiger, daß er seine Notizen machen wolle. »Hamm sich die Herrschaft'n schon ei'gschrieb'n?«

»Ko scho sei ...«

Fanny kam mit dem Fremdenbuche, das gleich wieder den Unwillen Natterers erregte.

Blenninger hatte das alte, vor vielen Jahren angelegte Buch behalten, weil es nicht bis zur letzten Seite beschrieben war.

Und so standen in der ersten Hälfte unter Geschäftsreisenden, durchziehenden Krattlern, Marktbesuchern auch Handwerksburschen aus aller Herren Länder.

Und dicht unter einem Gottfried Schulze, Töpfergehilfen aus Perleberg, kamen der Oberinspektor Dierl aus München, der Oberleutnant von Wlazeck aus Salzburg, der Kanzleirat Schützinger aus München und, noch frisch mit Streusand bedeckt: Rentier Gustav Schnaase aus Berlin mit Frau, Tochter und Zofe ...

»Hm! Rentier ... Zofe ... Das müssen feine Leute sein . . .«

»Wenn S' dös Ziefer erst sehg'n, de Zof'n«, sagte Fanny, »da wern S' a Freud hamm. De geht am ebna Bod'n, als wenn s' Stieg'n steiget, und bal ma s' was fragt, versteht s' oan net. Aba de werd si schneid'n, wenn s' glaabt, i trag ihr 's Wassa nach! De schaffet alle Aug'nblick was o'! Und wia sa sie gstellt, wenn 's was sagt! D' Aug'n druckat s' zua, de Loas, de greisliche ...«

»Fanny«, sagte Natterer, »so derfen S' net red'n. De Leut san was Fein's g'wöhnt. Und vergessen S' net, daß da a guats Trinkgeld rausschaugt ... Was is sag'n will, Michel, i hab Durscht. Geh ma in Gart'n hintri und trink'n a frische Maß.«

Damit war der Blenninger einverstanden, und sie setzen sich unter die drei Kastanienbäume, die in einer Ecke des Hofes ihren Schatten über drei Tische und etliche Bänke warfen.

Nur selten kam ein Gast dorthin.

Die Bauern blieben in der Stube, und die Marktbürger gingen an schönen Abenden in den Blenninger Keller.

Natterer sah es ungern, daß der Platz vernachlässigt war, und daß die Hühner Tische und Bänke verunreinigt hatten.

»Sollt aa net sein, Michel, oder jedenfalls, es sollt nimma sein. Du muaßt di überhaupts mehr an den Gedanken g'wöhnen, daß jetzt eine andere Epoche für Altaich komma is, wie ma sagt. Da g'höret'n gedeckte Tisch her und Palmen, vastehst? In Kübeln, wia ma's in die Hotel siecht.«

Der Blenninger gab ihm keine Antwort. Er blies bedächtig den dicken Schaum von seiner frischen Maß und schnaufte wohlgefällig, nachdem er getrunken hatte.

Natterer machte es ihm nach.

Diese echtesten Genüsse bleiben von den Zeitepochen ungerührt.


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