Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

63. Kapitel

In dem wir eine alte Bekannte treffen

So ein höfliches Benehmen, wie es Lord Tapeworm an den Tag legte, verfehlte nicht seine günstige Wirkung auf Mr. Sedley, und am nächsten Morgen beim Frühstück gab Joseph seiner Ansicht Ausdruck, daß Pumpernickel doch das angenehmste Städtchen sei, das sie auf ihrer Reise gefunden hätten. Josephs Motive und Listen waren leicht zu durchschauen, und Dobbin lachte sich als echter Heuchler ins Fäustchen, als er aus der Kennermiene des Zivilisten und aus der Gesprächigkeit, womit er sich über Schloß Tapeworm und die übrigen Glieder der Familie ausließ, entnahm, daß Joseph an diesem Morgen schon seinen Adelskalender durchforscht hatte. Ja, er hatte sogar bereits den ehrenwerten Grafen von Bagwig, den Vater Seiner Lordschaft, gesehen. Er war überzeugt davon, daß er ihn schon getroffen hatte – beim – beim Empfang bei Hofe. Ob sich Dobbin nicht daran erinnern könne. Als dann der Diplomat, getreu seinem Versprechen, die Gesellschaft besuchte, empfing ihn Joseph mit einer Begrüßung und Ehrenbezeigungen, wie sie dem kleinen Gesandten selten zuteil wurden. Als Seine Exzellenz kam, gab er Kirsch einen Wink, worauf der Diener, vorher gut instruiert, hinausging und für ein Frühstück sorgte, bestehend aus kaltem Fleisch, Gelees und anderen Delikatessen. Als er es auf Tabletts hineingebracht hatte, bestand Mr. Joseph darauf, daß sein edler Gast unbedingt daran teilnehmen müsse.

Solange Tapeworm die leuchtenden Augen von Mrs. Osborne bewundern konnte (ihre frische Gesichtsfarbe ertrug das Tageslicht vortrefflich), hatte er nichts gegen eine Einladung zum längeren Bleiben in Mr. Sedleys Wohnung einzuwenden. Er stellte ihm ein paar scharfsinnige Fragen über Indien und die Tempeltänzerinnen dort, erkundigte sich bei Amelia nach dem Knaben, der bei ihr gewesen sei, und machte der erstaunten kleinen Frau Komplimente über das ungeheure Aufsehen, das sie im Theater erregt hatte. Dobbin versuchte er durch Gespräche über den letzten Krieg und die Heldentaten des Pumpernickelschen Truppenkontingents unter dem Befehl des Erbprinzen, des jetzigen Herzogs von Pumpernickel, zu fesseln.

Lord Tapeworm hatte ein gut Teil der Familiengalanterie geerbt, er befand sich in dem glücklichen Glauben, daß jede Dame, der er freundliche Blicke zuwarf, sich in ihn verlieben müsse. Er verließ Emmy in der Überzeugung, daß sie von seinem Witz und seinen Reizen völlig geschlagen sei, und begab sich nach Hause, um ihr ein hübsches kleines Billett zu schreiben. Sie war ganz und gar nicht hingerissen, sondern nur verblüfft über sein Grinsen, sein geziertes Lächeln, sein parfümiertes Batisttaschentuch und seine hochhackigen Lackstiefel. Sie verstand kaum die Hälfte der Komplimente, die er ihr machte, hatte sie doch in ihrer geringen Erfahrung mit der Menschheit noch nie einen professionellen Galan kennengelernt. Sie betrachtete den Lord eher als komisch denn als angenehm, und wenn sie ihn auch nicht bewunderte, so wunderte sie sich doch über ihn. Joseph dagegen war entzückt. »Wie leutselig der Lord doch ist«, sagte er. »Wie gütig es doch von dem Lord ist, daß er mir seinen Arzt schicken will. Kirsch, Sie werden sofort unsere Karten bei Graf von Schlüsselback abgeben. Es wird dem Major und mir höchst angenehm sein, so bald wie möglich unsere Aufwartung bei Hofe zu machen. Legen Sie meine Uniform zurecht, Kirsch – auch die Uniform des Majors. Als Zeichen der Höflichkeit sollte jeder englische Gentleman in den Ländern, die er besucht, den dortigen Herrschern und den Repräsentanten seines eigenen Landes seine Aufwartung machen.«

Tapeworms Arzt, Doktor von Glauber, Leibarzt Seiner Durchlaucht des Herzogs, überzeugte Joseph schnell, daß die Pumpernickeischen Mineralquellen und seine ärztliche Spezialbehandlung dem Bengalen unfehlbar wieder zur Jugend und Schlankheit verhelfen würden. »Im vergangenen Jahr«, sagte er in nicht ganz englischem Englisch, »kam General Bulkeley, ein englischer General, hierher, der doppelt so dick war wie Sie, mein Herr. Nach drei Monaten habe ich ihn ganz gertenschlank wieder entlassen, und bereits nach zwei Monaten hatte er mit der Baronin Glauber getanzt.«

Josephs Entschluß stand fest. Die Mineralquellen, der Doktor, der Hof und der Gesandte überzeugten ihn, und er nahm sich vor, den Herbst in dieser herrlichen Gegend zu verbringen. Seinem Versprechen getreu, stellte der Gesandte am nächsten Tage Joseph und den Major Viktor Aurelius XVII. vor. Zur Audienz geleitete sie Hofmarschall Graf von Schlüsselback.

Sie wurden sofort zum Diner bei Hofe eingeladen, und als ihre Absicht, in der Stadt zu verweilen, bekannt wurde, machten die vornehmsten Damen des Ortes Mrs. Osborne sehr bald ihre Aufwartung. Da keine von ihnen, wie arm sie auch sein mochte, unter dem Rang einer Baronin war, kannte Josephs Begeisterung keine Grenzen. Er schrieb seinem Klubkameraden Chutney, daß die indischen Beamten in Deutschland hoch im Kurs ständen, daß er seinem Freund, dem Grafen von Schlüsselback, zeigen werde, wie man Wildschweine auf indische Art mit dem Speer jage, und daß seine erlauchten Freunde, der Herzog und die Herzogin, die Güte selbst seien.

Auch Emmy wurde der hohen Familie vorgestellt, und da an gewissen Tagen Trauerkleidung bei Hofe nicht zulässig ist, erschien sie in einem rosa Kreppkleid mit einer Diamantbrosche, die ihr Bruder ihr geschenkt hatte. Sie sah in dieser Aufmachung so hübsch aus, daß der Herzog und der ganze Hof (der Major, der sie fast noch nie im Ballkleid gesehen hatte und schwor, sie sehe wie kaum fünfundzwanzig aus, gar nicht mitgerechnet) sie über alle Maßen bewunderten.

In dieser Kleidung tanzte sie mit Major Dobbin bei einem Hofball die Polonaise, und Mr. Joseph hatte bei diesem einfachen Tanz die Ehre, die Gräfin von Schlüsselback zu führen, eine alte Dame, die zwar einen Buckel, dafür aber sechzehn adlige Vorfahren hatte und mit der Hälfte aller Fürstenhäuser in Deutschland verwandt war.

Pumpernickel liegt inmitten eines schönen Tales, durch das sich ein glitzerndes fruchtbarkeitspendendes Flüßchen, die Pump, schlängelt. Irgendwo – ich habe leider keine Karte zur Hand und kann den genauen Ort nicht bezeichnen, vereinigt sie sich mit dem Rhein. An einigen Stellen ist sie breit genug für eine Fähre, an anderen kann sie eine Mühle treiben. In Pumpernickel selbst hatte die vorvorletzte Durchlaucht, der große und berühmte Viktor Aurelius XIV., eine prachtvolle Brücke erbaut, auf der sich seine eigene Statue erhebt, umgeben von Wassernymphen und Symbolen des Sieges, des Friedens und des Überflusses. Sein Fuß ruht auf dem Nacken eines niedergeworfenen Türken. Die Historie berichtet, daß er bei der Entsetzung Wiens durch Sobieski im Gefecht mit einem Janitscharen diesen durchbohrt habe. Gänzlich unbewegt jedoch von dem Todeskampf des geschlagenen Mohammedaners, der sich unter seinen Füßen in gräßlicher Weise krümmt, lächelt der Fürst milde und deutet mit seinem Feldherrnstab zum Aureliusplatz, wo er angefangen hatte, einen neuen Palast zu erbauen. Hätte der hochherzige Fürst nur die Mittel gehabt, das Gebäude zu vollenden – es wäre ein Wunder seines Zeitalters geworden. Aus Mangel an Bargeld wurde der Bau von Monplaisir (Montblaisir sprechen es die braven Deutschen aus) nicht vollendet. Das Schloß mit Park und Garten befindet sich jetzt in einem ziemlich verfallenen Zustand, und es ist kaum mehr als zehnmal so groß, wie es für den Hofstaat des regierenden Fürsten nötig wäre.

Die Gärten hätten die von Versailles in den Schatten stellen sollen, und inmitten der Terrassen und Wäldchen stehen noch ein paar große allegorische Wasserkünste, die an Festtagen erstaunlich sprühen und spritzen und einen mit ihrem gewaltigen wäßrigen Aufruhr erschrecken. Es gibt dort auch eine Trophonioshöhle, in der vermittels einer künstlichen Vorrichtung die bleiernen Tritonen nicht nur Wasser speien, sondern auch aus ihren bleiernen Muscheltrompeten ein entsetzliches Stöhnen ertönen lassen. Weiterhin gibt es dort ein Nymphenbad und den Niagarafall, den die Leute aus der Umgebung unaussprechlich bewundern, wenn sie zum Jahrmarkt anläßlich der Eröffnung der Kammer in die Stadt kommen oder zu den Festen, die das glückliche Ländchen immer noch an dem Geburts- oder Hochzeitstage seiner fürstlichen Herrscher feiert.

Dann kommen sie aus allen Städten des Herzogtums, das sich fast zehn Meilen weit erstreckt – aus Bolkum, das an der Westgrenze Preußen Trotz bietet, aus Grogwitz, wo das Jagdschloß des Fürsten liegt und wo die Pump seine Besitzungen von denen seines Nachbarn, des Fürsten von Potzental, trennt, aus all den kleinen Dörfern, die neben diesen drei großen Städten das glückliche Fürstentum übersäen, und aus den Bauernhöfen und Mühlen entlang der Pump. Sie kommen truppweise in rotem Rock und Samtmütze oder mit Dreispitz und der Pfeife im Mund und strömen in die Residenz und genießen die Freuden des Jahrmarkts und der Festlichkeiten dort. Dann ist das Theater umsonst geöffnet, dann beginnen die Wasserkünste von »Montblaisir« zu spielen (zum Glück sind genug Zuschauer da, denn einer allein würde sich fürchten). Dann kommen Marktschreier und englische Reitkünstler (es ist bekannt, wie Seine Durchlaucht einst von einer Reiterin gefesselt worden war, und man glaubte sogar, la petite vivandiere, wie sie genannt wurde, sei eine Spionin in französischen Diensten gewesen). Dem entzückten Volk wird gestattet, alle Zimmer des großherzoglichen Palastes zu durchwandern und die glatten Fußböden, prächtigen Tapeten und die Spucknäpfe an den Türen all der unzähligen Gemächer zu bewundern. Es gibt in »Montblaisir« einen Pavillon, den Aurelius Viktor XV. – ein bedeutender Fürst, aber zu vergnügungssüchtig – errichten ließ. Er soll ein wahres Wunderwerk ausschweifender Eleganz sein. Er ist mit Darstellungen aus der Sage von Bacchus und Ariadne geschmückt, und der Tisch im Zimmer verschwindet oder erscheint mittels einer Winde, so daß der Gesellschaft ohne anwesende Diener aufgewartet wird. Die Herzogin Barbara, Witwe Aurelius' XV., eine strenge und fromme Fürstin aus dem Hause Bolkum, verschloß den Pavillon. Sie war während der glorreichen Minderjährigkeit ihres Sohnes Regentin des Großherzogtums, nachdem ihr Gemahl auf dem Höhepunkt seiner Vergnügungen dahingegangen war.

Das Theater von Pumpernickel ist in jenem Teil Deutschlands bekannt und berühmt. Es verlor ein wenig, als der gegenwärtige Herzog in seiner Jugend darauf bestand, seine eigenen Opern dort aufführen zu lassen, und eines Tages, als er an einer Probe teilnahm, soll er wütend über das zu langsame Dirigieren des Kapellmeisters aus seinem Orchestersitz aufgesprungen sein und ihm ein Fagott auf dem Kopf zerschlagen haben. Das Niveau sank auch, als die Herzogin Sophia Komödien schrieb, die sehr langweilig gewesen sein müssen. Jetzt führt der Herzog seine Musik jedoch in privatem Kreise auf, und die Herzogin bietet ihre Schauspiele nur den vornehmen Fremden dar, die ihren netten kleinen Hof besuchen.

Man lebt dort sehr gemütlich und glanzvoll. Wenn Bälle gegeben werden, so bedient ein scharlachgekleideter Diener in Spitzen jeweils vier Gäste, und seien auch vierhundert zum Essen geladen. Alles Tafelgeschirr ist von Silber. Feste und Vergnügungen finden ununterbrochen statt, und der Herzog hat seine Kammerherren und seine Stallmeister und die Herzogin ihre Kammerfrau und ihre Hofdamen, genau wie alle anderen viel fürstlicheren Fürsten.

Die Verfassung ist oder war ein gemäßigter Despotismus, eingeschränkt durch eine Kammer, die gewählt werden konnte oder nicht. Ich habe jedenfalls während meines Aufenthalts in Pumpernickel nie etwas Bestimmtes von einer Sitzung gehört. Der Ministerpräsident wohnte irgendwo im zweiten Stock, und der Minister des Auswärtigen hatte die behagliche Wohnung über Zwiebacks Konditorei. Die Armee bestand aus einem großartigen Musikkorps, das gleichzeitig auf der Bühne Dienst tun mußte. Es war köstlich, abends die würdigen Burschen geschminkt, in türkischen Kostümen und mit hölzernen Säbeln oder als römische Krieger mit Ophikleiden und Posaunen zu sehen, nachdem man ihnen früh auf dem Aureliusplatz gelauscht hatte, wo sie gegenüber dem Cafe auftraten, in dem wir frühstückten. Außer dem Musikkorps gab es noch einen prächtigen, umfangreichen Generalstab und, ich glaube, auch ein paar Mannschaften. Neben den regulären Schildwachen taten drei oder vier Mann in Husarenuniform am Palast Dienst. Ich habe sie aber nie zu Pferde gesehen. Aber au fait – was soll man auch im tiefsten Frieden mit Kavallerie? Und wohin, zum Teufel, sollten die Husaren auch reiten?

Jeder – jeder Adlige natürlich, denn man kann doch wohl kaum von uns verlangen, daß wir von den Bürgerlichen Notiz nehmen – machte Besuche in der Nachbarschaft. Ihre Exzellenz Frau von Wurst empfing einmal wöchentlich. Ihre Exzellenz Frau von Schnurrbart hatte ihren Abend, das Theater war zweimal in der Woche geöffnet, der Hof geruhte einmal zu empfangen, und so konnte das Leben dort wirklich eine ununterbrochene Kette von Vergnügungen in der bescheidenen Pumpernickelschen Weise sein.

Es läßt sich allerdings nicht leugnen, daß es in der Stadt auch Fehden gab. Die Politik schlug hohe Wellen, und die Parteien kämpften erbittert. Es gab die Strumpffpartei und die Lederlungpartei, die eine unterstützte unser Gesandter, die andere der französische Geschäftsträger Monsieur de Macabau. Madame Strumpff war zweifellos die größte Sängerin der beiden und kam um drei Töne höher als ihre Rivalin Madame Lederlung. Die Parteinahme unseres Gesandten für die Strumpff bewirkte jedoch, daß er bei jeglicher Meinungsäußerung sofort den Widerspruch des französischen Diplomaten erntete.

Jedermann in der Stadt gehörte der einen oder der anderen Partei an. Die Lederlung war sicherlich ein hübsches Geschöpfchen, und ihre Stimme (das heißt, was sie davon besaß) war sehr süß. Zweifellos war auch die Strumpff nicht mehr in ihrer ersten Jugend und Schönheit und bestimmt etwas zu dick; wenn sie zum Beispiel in der letzten Szene der »Nachtwandlerin« im Nachthemd mit der Lampe in der Hand aus dem Fenster klettern und die Planken des Mühlbachs überschreiten mußte, dann konnte sie sich kaum durch das Fenster zwängen, und die Planken krachten und bogen sich unter ihrer Last. Aber wie sie das Finale der Oper schmetterte und mit welchem Gefühlsausbruch sie sich in Elvinos Arme stürzte  – fast erstickte sie ihn! Die kleine Lederlung dagegen – doch Schluß mit diesen Klatschgeschichten! Die Sache war die, daß diese beiden Sängerinnen die jeweilige Flagge der französischen und der englischen Partei in Pumpernickel waren, und die Gesellschaft teilte sich in die Anhänger dieser beiden großen Nationen.

Wir hatten auf unserer Seite den Minister des Innern, den Oberstallmeister, den Privatsekretär des Herzogs und den Hofmeister des Prinzen, während zur französischen Partei der Minister des Auswärtigen gehörte und die Gemahlin des Generalfeldmarschalls, der schon unter Napoleon gedient hatte, und der Hofmarschall und seine Frau, die glücklich war, die neuesten Pariser Modelle zu erhalten. Sie bezog sie nebst ihren Hüten stets durch Monsieur de Macabaus Kurier. Sein Kanzleisekretär war der kleine Grignac, ein junger Bursche von satanischer Bosheit, der in alle Alben der Stadt Karikaturen von Tapeworm zeichnete.

Ihr Hauptquartier und ihre Table d'hôte befanden sich im »Pariser Hof«, dem zweiten Gasthof der Stadt, und obwohl natürlich die Herren im öffentlichen Leben höflich zueinander sein mußten, so hieben sie doch mit rasiermesserscharfen Epigrammen aufeinander ein, etwa so, wie ich in Devonshire zwei Ringer gesehen habe, die sich gegenseitig die Schienbeine zerschlugen und doch mit keiner Miene ihren Schmerz verrieten. Weder Tapeworm noch Macabau schickten je eine Depesche an ihre Regierung ohne eine wütende Attacke gegen den Rivalen. Auf englischer Seite hieß es dann etwa: »Die Interessen Großbritanniens an diesem Ort und in ganz Deutschland sind gefährdet, wenn der gegenwärtige französische Gesandte weiter im Amt bleibt. Dieser Mensch besitzt einen schändlichen Charakter und scheut keine Lüge und kein Verbrechen, um seine Ziele zu erreichen. Er vergiftet die Stimmung des Hofes gegen den englischen Gesandten und stellt das Verhalten Großbritanniens im abscheulichsten und schändlichsten Licht dar. Unglücklicherweise beschützt ihn ein Minister, dessen Unwissenheit und Mängel ebenso notorisch sind, wie sein Einfluß verhängnisvoll ist.« Auf französischer Seite dagegen hieß es: »Monsieur de Tapeworm fährt in seiner dummen arroganten Inselpolitik und in den gemeinen Lügen gegen die größte Nation der Welt fort. Gestern soll er verächtlich von Ihrer Königlichen Hoheit der Herzogin von Berri gesprochen haben. Bei früherer Gelegenheit beleidigte er den tapferen Herzog von Angoulême und wagte anzudeuten, daß Seine Königliche Hoheit der Herzog von Orleans sich gegen den erlauchten Thron der Französischen Lilien verschworen habe. Überall dort, wo seine dummen Drohungen keine Furcht erregen, verstreut er sein Gold. Durch beides hat er gewisse Kreaturen am hiesigen Hof gewonnen. Mit: einem Wort, in Pumpernickel wird erst Ruhe herrschen, Deutschland erst dann still, Frankreich geachtet und Europa zufrieden sein, wenn diese giftige Viper zertreten ist« und so weiter. Hatte die eine oder die andere Seite eine besonders scharfe Depesche losgelassen, so konnte man sicher sein, daß die Einzelheiten bald durchsickerten.

Ehe der Winter weit vorgerückt war, wußte man doch tatsächlich zu berichten, daß Amelia einen Abend vorsah, an dem sie in allem Anstand und in größter Bescheidenheit Gesellschaft empfing. Sie hatte einen Französischlehrer, der ihr wegen der Reinheit ihres Akzents und ihrer leichten Auffassungsgabe Komplimente machte. Sie hatte schon vor langer Zeit einmal Französisch gelernt und sich später die Anfangsgründe der Grammatik beigebracht, damit sie George darin unterrichten konnte. Madame Strumpff gab ihr Gesangsunterricht, und sie sang so gut und sicher, daß die Fenster des Majors, der gegenüber unter dem Ministerpräsidenten wohnte, stets offenstanden, damit er dem Unterricht lauschen konnte. Einige deutsche Damen – sie sind sehr sentimental und wenig anspruchsvoll im Geschmack – verliebten sich sofort in sie und duzten sie. Dies sind unwichtige Einzelheiten, aber sie melden von glücklichen Zeiten. Der Major machte sich zu Georges Tutor und übte mit ihm Cäsar und Mathematik. Sie hatten auch einen Deutschlehrer, und abends ritten sie neben Emmys Kutsche her. Sie selbst war zu ängstlich zum Reiten und schrie jedesmal entsetzt auf, wenn sie zu Pferde saß und die geringste Unregelmäßigkeit vorkam. So fuhr sie im Wagen und nahm gewöhnlich eine ihrer lieben deutschen Freundinnen mit, während Joseph auf dem Rücksitz schlief.

Er verliebte sich in die Gräfin Fanny von Butterbrod, ein sanftes, zärtliches, bescheidenes junges Geschöpf. Sie war zwar Gräfin und Stiftsdame, hatte aber ein Vermögen von kaum zehn Pfund pro Jahr. Fanny ihrerseits erklärte, daß der Himmel ihr keine größere Freude gewähren könne, als Amelias Schwester zu werden, und Joseph hätte eine Grafenkrone und ein gräfliches Wappen neben seines auf den Kutschenschlag und seine Gabeln setzen können. Aber – aber andere Ereignisse traten ein, als die großen Festlichkeiten anläßlich der Vermählung des Erbprinzen von Pumpernickel mit der lieblichen Prinzessin Amalie von Homburg-Schlippenschloppen veranstaltet wurden.

Bei dieser Gelegenheit entwickelte man eine Pracht, wie die kleine deutsche Stadt sie seit den Tagen des verschwenderischen Viktor XIV. nicht erblickt hatte. Alle benachbarten Fürsten, Fürstinnen und Großen wurden zu dem Fest eingeladen. Der Bettenpreis in Pumpernickel stieg ins ungeheuerliche, und die Armee war völlig überfordert, die Ehrenwachen all der Hoheiten, Durchlauchten und Exzellenzen zu stellen, die aus allen Richtungen ankamen. Die Prinzessin wurde in der Residenz ihres Vaters dem stellvertretenden Grafen von Schlüsselback angetraut. Es wurden Haufen Schnupftabakdosen verschenkt (wie wir vom Hofjuwelier erfuhren, der sie verkaufte und später wieder kaufte), und der Pumpernickelsche Sankt-Michaels-Orden wurde scheffelweise an den Hofadel verteilt, während Körbe voll Bänder und Sterne des Sankt-Katharinenrad-Ordens von Schlippenschloppen an unseren Hof kamen. Der französische Gesandte erhielt beide. »Er ist mit Bändern bedeckt wie ein Pfingstochse«, sagte Tapeworm, dem seine Dienstvorschriften nicht gestatteten, Auszeichnungen anzunehmen. »Meinetwegen soll er die Orden haben, auf wessen Seite ist der Sieg?« Tatsächlich war es ein Triumph der britischen Diplomatie, denn die französische Partei hatte mit allen Mitteln versucht, die Heirat mit einer Prinzessin des Hauses Potztausend-Donnerwetter durchzusetzen, wogegen wir natürlich opponierten.

Alles war zu den Hochzeitsfeierlichkeiten geladen. Man hatte Girlanden und Triumphbogen über die Straße gespannt, um die junge Braut zu begrüßen. Der große Sankt-Michaels-Brunnen spie Wein, der allerdings ungewöhnlich sauer war, während der auf dem Artillerieplatz von Bier schäumte. Die großen Wasserkünste spielten, und im Park und in den Gärten hatte man Kletterstangen für das glückliche Landvolk errichtet, von denen sie nach Belieben Uhren, silberne Gabeln und Preiswürste an roten Bändern herabholen konnten. Georgy erklomm zum Jubel der Zuschauer eine Stange, erwischte eine Wurst, riß sie ab und glitt mit der Schnelligkeit eines Wasserfalls wieder herab. Er hatte es aber nur um des Ruhmes willen getan. Der Knabe gab die Wurst einem Bauernburschen, der sie beinahe bekommen hätte und jetzt heulend am Fuße der Stange stand, weil er keinen Erfolg gehabt hatte.

In der französischen Gesandtschaft hatten sie sechs Lampions mehr zur Illumination als wir, aber unser Transparent, auf dem dargestellt war, wie das junge Paar ankam und die Zwietracht flüchtete (deren Gesicht eine drollige Ähnlichkeit mit dem französischen Gesandten besaß), lief dem französischen Bild den Rang ab und verschaffte Tapeworm zweifellos die Beförderung und den Bath-Orden, die ihm danach zuteil wurden.

Es kamen eine Menge Fremde zu den Feierlichkeiten und natürlich auch Engländer. Außer den Hofbällen wurden auch noch öffentliche Bälle im Rathaus und in der Redoute gegeben. Im Rathaus hatte man für die Zeit der Festwoche einer der großen deutschen Gesellschaften von Ems oder Aachen Erlaubnis gegeben, ein Zimmer für Trente-et-quarante und Roulette einzurichten. Den Beamten und Bewohnern der Stadt waren diese Spiele verboten, aber Fremde, Bauern, Damen und auch sonst alle, die Geld verlieren oder gewinnen wollten, waren zugelassen.

Unter den vielen kam auch der kleine Taugenichts Georgy Osborne zum Ball ins Stadthaus. Seine Verwandten waren zum großen Hoffest gegangen, und er befand sich in Begleitung von seines Onkels Diener, Herrn Kirsch. George hatte ja stets die Taschen voll Taler. Er hatte früher einmal in einen Spielsaal geblickt – in Baden-Baden; er war damals an der Hand Dobbins und hatte natürlich nicht spielen dürfen. Deshalb drängte er sich eifrig zu diesem Teil der Unterhaltung und lungerte an den Tischen umher, wo Croupiers und Pointeurs bei der Arbeit waren. Auch Frauen spielten. Einige von ihnen waren maskiert; die Ausschweifung war ihnen in dieser wilden Karnevalszeit gestattet.

Eine Frau mit hellem Haar und tief ausgeschnittenem, keineswegs neuem Kleid, mit einer schwarzen Maske, durch deren Augenschlitze ihr Blick seltsam funkelte, saß mit einer Karte und einer Nadel und ein paar Gulden vor sich an einem Roulettetisch. Wenn der Croupier Farbe und Zahl ausrief, stach sie regelmäßig sorgfältig ein Loch in die Karte und setzte nur dann, wenn Rot oder Schwarz ein paarmal herausgekommen waren. Sie bot einen merkwürdigen Anblick.

Trotz aller Sorgfalt und Mühe mutmaßte sie jedoch falsch, und die letzten beiden. Gulden folgten einander unter dem Rechen des Croupiers, als er mit unerbittlicher Stimme Farbe und Zahl ausrief. Sie seufzte, zuckte die Schultern, die bereits etwas zu weit aus dem Kleid hervorblickten, stieß die Nadel durch die Karte in den Tisch und trommelte eine Weile darauf herum. Dann sah sie sich um und erblickte Georges ehrliches Gesicht, das auf die Szene starrte. Der kleine Bengel! Was hatte er hier zu suchen?

Sie sah den Knaben unter der Maske hervor mit funkelnden Augen durchdringend an und fragte: »Monsieur n'est pas joueur?«

»Non, Madame«, entgegnete der Knabe. Aus seinem Tonfall mußte sie erkannt haben, wo er herkam, denn sie fuhr mit leichtem Akzent auf englisch fort: »Sie haben wohl noch nie gespielt – wollen Sie mir einen kleinen Gefallen tun?«

»Welchen bitte?« fragte Georgy und wurde erneut rot. Herr Kirsch war beim Rouge et noir beschäftigt und sah seinen jungen Herrn nicht.

»Spielen Sie dies für mich, bitte – setzen Sie es auf irgendeine Nummer, auf irgendeine.« Während dieser Worte zog sie aus ihrem Busen eine Börse und entnahm ihr ein Goldstück – die einzige Münze darin. Sie drückte sie George in die Hand, und der Knabe tat lachend, was ihm aufgetragen war.

Die Zahl kam natürlich heraus. Es heißt ja, daß es eine Macht gibt, die das für Anfänger so einrichtet.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie und zog das Geld zu sich heran. »Ich danke Ihnen. Wie heißen Sie?«

»Osborne«, sagte Georgy. Dabei wühlte er in seinen Taschen nach Talern und wollte eben einen Versuch machen, als der Major in Uniform und Joseph in der Aufmachung eines Marquis vom Hofball kamen. Andere Leute, die diesen Ball langweilig gefunden und den Spaß im Stadthaus vorgezogen hatten, hatten den Palast schon eher verlassen; aber vielleicht waren der Major und Joseph auch schon zu Hause gewesen und hatten die Abwesenheit des Knaben bemerkt, denn Dobbin ging unverzüglich auf ihn zu, ergriff ihn bei der Schulter und zog ihn energisch weg von der Stätte der Versuchung. Dann sah er sich im Raum um und erblickte Kirsch bei der bereits erwähnten Beschäftigung. Er ging zu ihm und fragte ihn, wie er es wagen könne, Mr. George an so einen Ort zu führen.

»Laissez-moi tranquille«, sagte Herr Kirsch, sehr erregt von Spiel und Wein. »II faut s'amuser, parbleu. Je ne suis pas au service de Monsieur.«

Da der Major den Zustand des Mannes erkannte, wollte er sich nicht weiter mit ihm einlassen, und er begnügte sich damit, George wegzuziehen und Joseph zu fragen, ob er mitkomme. Dieser stand dicht bei der maskierten Dame, die jetzt mit einigem Glück spielte, und sah interessiert zu.

»Willst du nicht lieber mit George und mir mitkommen, Joseph?« fragte der Major.

»Ich werde noch etwas bleiben und mit dem Halunken Kirsch nach Hause gehen«, antwortete Joseph, und aus denselben Gründen der Zurückhaltung, die er glaubte vor dem Jungen haben zu müssen, wollte Dobbin Joseph keine Vorstellungen machen. Er verließ ihn also und ging mit Georgy heim.

»Hast du gespielt?« fragte der Major draußen, als sie auf dem Heimweg waren.

»Nein«, antwortete der Knabe.

»Gib mir dein Ehrenwort als Gentleman, daß du es nie tun wirst.«

»Warum?« fragte der Junge. »Es scheint doch Spaß zu machen.« Nun erklärte ihm der Major beredsam und eindringlich, warum er es nicht sollte, und er hätte ganz gern seine Lehren durch das Beispiel von Georgys eigenem Vater bekräftigt, aber er wollte nichts sagen, was das Andenken des anderen hätte verdunkeln können. Nachdem er ihn heimgebracht hatte, ging er ins Bett, und bald darauf sah er Georgys Licht in dem kleinen Zimmer neben Amelias verlöschen. Eine halbe Stunde später folgte Emmys Licht. Ich weiß nicht, weshalb es der Major so genau bemerkte.

Joseph war am Spieltisch zurückgeblieben; er war zwar kein Spieler, aber der kleinen Aufregung dieses Vergnügens von Zeit zu Zeit nicht abgeneigt, und in den gestickten Taschen seiner Hofweste klimperten ein paar Napoleons. Er setzte einen über die schöne Schulter der kleinen Spielerin vor ihm hinweg, und sie gewannen. Sie rückte ein wenig, um ihm an ihrer Seite Platz zu machen, und nahm den Saum ihres Kleides von einem leeren Stuhl herunter.

»Kommen Sie und bringen Sie mir Glück«, sagte sie, wieder mit ausländischem Akzent, ganz anders als das reine englische »Dankeschön«, mit dem sie Georges Coup für sie begrüßt hatte. Der dicke Herr sah sich um, ob ihn auch niemand von Rang beobachtete, setzte sich nieder und murmelte: »Ach, wirklich, nun ja, Gott behüte mich. Ich habe immer Glück. Ich werde Ihnen sicher auch Glück bringen« – und andere schmeichelhafte und verwirrte Aussprüche. »Spielen Sie oft?« fragte die fremde Maske.

»Mal ein paar Napoleons«, erwiderte Joseph mit überlegener Miene und warf ein Goldstück hin.

»Sie spielen nicht, um zu gewinnen«, meinte die Maske mit ihrem hübschen französischen Akzent. »Ich auch nicht. Ich spiele, um zu vergessen, aber ich kann es nicht. Ich kann die alten Zeiten nicht vergessen, Monsieur. Ihr kleiner Neffe ist das Ebenbild seines Vaters, und Sie – Sie haben sich nicht verändert –, ja, doch, auch Sie sind anders geworden. Alle verändern sich, alle vergessen, keiner hat ein Herz.«

»Guter Gott, wer sind Sie nur?« fragte Joseph verwirrt.

»Können Sie es nicht erraten, Joseph Sedley?« sprach die kleine Frau mit trauriger Stimme, nahm ihre Maske ab und blickte ihn an. »Sie haben mich vergessen.«

»Gütiger Himmel! Mrs. Crawley!« stieß Joseph hervor.

»Rebekka!« sagte die andere und legte ihre Hand auf seine; aber obwohl sie ihn ansah, verfolgte sie doch aufmerksam das Spiel.

»Ich wohne im ›Elefanten‹«, fuhr sie fort. »Fragen Sie nach Madame von Raudon. Ich habe heute meine liebe Amelia gesehen. Wie hübsch sie aussieht und wie glücklich, und Sie auch! Alle, nur ich nicht, ich bin elend und unglücklich, Joseph Sedley!« Und während sie sich mit einem zerrissenen Spitzentüchelchen über die Augen fuhr, schob sie wie zufällig mit einer Armbewegung ihr Geld von Rot auf Schwarz. Rot kam von neuem heraus, und sie verlor ihren ganzen Einsatz.

»Kommen Sie«, sagte sie, »kommen Sie ein wenig mit mir hinaus; wir sind doch alte Freunde, nicht wahr, lieber Mr. Sedley?«

Herr Kirsch, der inzwischen seine ganze Barschaft verloren hatte, folgte seinem Herrn hinaus in den Mondschein; die Illumination verlöschte langsam, und das Transparent über der englischen Gesandtschaft war kaum noch zu erkennen.


 << zurück weiter >>