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40. Kapitel

In dem Becky von der Familie anerkannt wird

Der Erbe von Crawley kam bald nach dieser Katastrophe nach Hause, und von dieser Zeit an regierte er in Queen's Crawley. Der alte Baronet lebte zwar noch mehrere Monate, gewann aber nie völlig den Gebrauch seines Verstandes oder die Sprache wieder, und die Verwaltung des Besitzes ging auf seinen ältesten Sohn über. Pitt fand ihn in einem merkwürdigen Zustand. Sir Pitt war beständig mit Käufen und Hypotheken beschäftigt gewesen; er hatte zwanzig Anwälte beschäftigt, und mit allen hatte er im Streit gelegen; Streitigkeiten und Prozesse mit seinen Pächtern; Prozesse mit den Advokaten; Prozesse mit den Bergbau- und Hafengesellschaften, deren Mitinhaber er war; Prozesse mit jedermann, der geschäftlich mit ihm zu tun gehabt hatte. Diese verwickelten Verhältnisse aufzuklären und den Besitz in Ordnung zu bringen war eine des genauen und ausdauernden Diplomaten von Pumpernickel würdige Aufgabe, und mit bewundernswertem Fleiß machte er sich an die Arbeit. Natürlich siedelte er seine ganze Familie nach Queen's Crawley um und unter ihnen natürlich Lady Southdown. Sie ging daran, die Gemeinde vor der Nase des Pfarrers zu bekehren, und zum Ärger der wütenden Mrs. Bute brachte sie ihre Pseudogeistlichen mit. Sir Pitt hatte noch keinen Kaufvertrag über die Pfründe von Queen's Crawley abgeschlossen; und Lady Southdown schlug vor, sie wolle selbst das Patronat übernehmen und die Pfarre einem ihrer jugendlichen Schützlinge geben, wenn sie erledigt sein würde. Der diplomatische Pitt erwiderte darauf kein Wort.

Mrs. Butes Absichten in bezug auf Betsy Horrocks kamen nicht zur Ausführung. Betsy stattete dem Southamptoner Gefängnis keinen Besuch ab. Sie verließ mit ihrem Vater das Herrenhaus, und er ergriff Besitz vom Gasthaus »Zum Wappen Crawleys« im Dorf, das er von Sir Pitt gepachtet hatte. Der ehemalige Butler hatte außerdem ein kleines Gütchen erworben, wodurch er Stimmrecht im Wahlflecken bekam. Der Pfarrer war ebenfalls stimmberechtigt, und diese beiden und noch vier andere bildeten die Wählerschaft, die die beiden Vertreter für Queen's Crawley im Parlament ernannten.

Zwischen den Damen im Pfarrhaus und im Schloß wurde zum Schein ein höflicher Verkehr aufrechterhalten, wenigstens zwischen den jüngeren, denn Mrs. Bute und Lady Southdown konnten sich bei ihren Begegnungen nie kampflos trennen, und allmählich hörten sie auf, einander zu besuchen. Die Lady blieb auf ihrem Zimmer, wenn die Damen aus dem Pfarrhaus ihre Verwandten besuchten. Wahrscheinlich mißfiel Mr. Pitt diese gelegentliche Abwesenheit seiner Schwiegermama gar nicht sehr. Er hielt die Familie Binkie für die bedeutendste und weiseste und interessanteste der Welt; die Lady und seine Tante hatten ihn lange unter ihrem Joch gehalten. Zuweilen dachte er aber doch, daß sie ihn zu sehr herumkommandiere. Es war zweifellos schmeichelhaft, für jung zu gelten, aber ihn mit sechsundvierzig Jahren wie einen Knaben zu behandeln war manchmal doch kränkend. Lady Jane dagegen gab ihrer Mutter in allen Stücken nach. Sie zeigte ihren Kindern ihre Liebe nur insgeheim und konnte noch von Glück sagen, daß Lady Southdowns vielfältige Aufgaben, ihre Konferenzen mit Geistlichen und ihr Briefwechsel mit allen Missionaren in Afrika, Asien, Australasien und so weiter die würdige Gräfin so stark beschäftigten, daß sie ihrer Enkelin, der kleinen Matilda, und ihrem Enkel, Master Pitt Crawley, nur einen kleinen Teil ihrer Zeit widmen konnte. Er war ein schwächliches Kind, und Lady Southdown hatte ihn nur durch ungeheure Quantitäten von Kalomel überhaupt am Leben halten können.

Sir Pitt zog sich in dieselben Gemächer zurück, wo einst Lady Crawley verlöscht war. Miss Hester, das beförderungsbeflissene Mädchen, pflegte ihn hier mit fleißiger Sorgfalt. Welche Liebe, welche Treue, welche Beständigkeit gleicht der einer gut entlohnten Wärterin. Sie glättet das Kopfkissen und bereitet Stärkungsmittel aus Pfeilwurzeln, steht nachts auf, erträgt Klagen und Nörgeleien, verlangt trotz strahlenden Sonnenscheins nicht, ins Freie hinauszugehen; sie schläft im Armstuhl und ißt ganz allein; sie verbringt lange, lange Abende mit Nichtstun und beobachtet nur die Kohlenglut und die im Topf wallenden Tränke des Kranken; sie liest die ganze Woche hindurch die Wochenzeitung; und »Der ernste Ruf des Gesetzes« oder »Die ganze Pflicht des Menschen« genügen ihr als Lektüre für ein ganzes Jahr – und wir schimpfen auch noch, wenn beim wöchentlichen Verwandtenbesuch bei ihr ein Fläschchen Branntwein in den Waschkorb geschmuggelt wird. Meine Damen, wo ist der Mann, dessen Liebe ein Jahr Krankenpflege bei dem geliebten Gegenstand überdauert? Eine Wärterin dagegen tut dies für zehn Pfund im Vierteljahr, und wir glauben noch, sie sei zu hoch bezahlt. Wenigstens murrte Mr. Crawley häufig, daß er Miss Hester halb soviel für die Pflege des Baronets, seines Vaters, zahlen mußte.

An sonnigen Tagen wurde der alte Herr in einem Stuhl auf die Terrasse geschoben – in demselben Stuhl, den Miss Crawley in Brighton gehabt hatte und der mit einem Teil von Lady Southdowns persönlicher Habe nach Queen's Crawley gebracht worden war. Lady Jane ging stets neben dem Alten her, und sie war ganz offensichtlich sein Liebling. Wenn sie hereinkam, nickte er ihr vielmals zu, lächelte, und wenn sie sich wieder entfernte, stieß er unartikulierte, flehende Klagetöne aus. Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, weinte und schluchzte er – worauf sich Hesters Gesicht und Verhalten – in Anwesenheit ihrer Herrin stets sanft und gütig – sofort änderte. Sie schnitt ihm Gesichter, ballte die Faust und schrie: »Halt den Mund, du dummer alter Narr«, dann rollte sie seinen Stuhl vom Feuer weg, in das er so gern blickte, worauf er nur noch mehr weinte. Denn das war alles, was; nach mehr als siebzig Jahren List und Kampf, Trinken und Ränkeschmieden, Sünde und Selbstsucht übriggeblieben war – ein weinerlicher idiotischer Alter, der wie ein kleines Kind ins Bett gebracht und herausgenommen und gewaschen und gefüttert werden mußte!

Schließlich kam ein Tag, an dem die Geschäfte der Wärterin ihren Abschluß fanden. Eines frühen Morgens, als Pitt Crawley im Studierzimmer über seinen Rechnungsbüchern saß, klopfte es an die Tür, und Hester trat mit einem Knicks herein und sagte:

»Bitte schön, Sir Pitt, Sir Pitt ist heute morgen gestorben, Sir Pitt. Ich war gerade beim Brotrösten, Sir Pitt, zu seinem Haferbrei, Sir Pitt, den er jeden Morgen pünktlich um sechs bekam, Sir Pitt, und – da war es mir, als wenn ich's stöhnen hörte, Sir Pitt – und – und – und ...« Sie knickste von neuem.

Weshalb wurde Pitts bleiches Gesicht plötzlich so rot? War es, weil er endlich Sir Pitt war mit einem Sitz im Parlament und ihm vielleicht künftige Ehrungen in Aussicht standen? Ich werde jetzt den Besitz mit dem Bargeld entlasten, dachte er und überschlug schnell die Hypotheken und die Verbesserungen, welche er anbringen würde. Er hatte das Geld seiner Tante nicht eher anwenden wollen, damit seine Ausgaben nicht umsonst gewesen wären, falls Sir Pitt sich wieder erholt hätte.

Im Schloß und im Pfarrhaus wurden alle Vorhänge herabgelassen, die Kirchenglocke läutete, und die Kanzel wurde schwarz verhängt; Bute Crawley ging nicht zu einer Jagdpartie, sondern ritt zu einem ruhigen Essen nach Fuddleston, wo man sich bei Portwein über seinen verstorbenen Bruder und den jungen Sir Pitt unterhielt. Miss Betsy, die sich inzwischen mit einem Sattler in Mudbury verheiratet hatte, weinte von Herzen. Mr. Glauber, der Arzt, kam mit den besten Empfehlungen und erkundigte sich nach der Gesundheit der Damen. Man sprach über den Todesfall in Mudbury und im »Wappen Crawleys«, dessen Wirt sich seit kurzem mit dem Pfarrer ausgesöhnt hatte; es war bekannt geworden, daß dieser gelegentlich die Gaststube betrat und Mr. Horrocks' Süßbier probierte.

»Soll ich deinem Bruder schreiben – oder tust du es?« fragte Lady Jane ihren Gatten, Sir Pitt.

»Ich natürlich werde ihm schreiben«, sagte Sir Pitt, »und ihn zur Beerdigung einladen; das gehört sich so.«

»Und – und – Mrs. Rawdon«, schlug Lady Jane schüchtern vor.

»Jane!« sagte Lady Southdown. »Wie kannst du nur daran denken?«

»Mrs. Rawdon muß natürlich auch eingeladen werden«, sagte Sir Pitt entschlossen.

»Nicht, solange ich im Hause bin!« rief Lady Southdown.

»Ich möchte Sie bitten, daran zu denken, meine Gnädigste, daß ich das Familienoberhaupt bin«, erwiderte Sir Pitt. »Bitte, Lady Jane, sei so gut, einen Brief an Mrs. Rawdon Crawley zu schreiben und um ihr Erscheinen bei diesem traurigen Ereignis zu bitten.«

»Jane, ich verbiete dir, die Feder zu ergreifen!« schrie die Gräfin.

»Ich glaube, ich bin das Familienoberhaupt«, wiederholte Sir Pitt, »und wie sehr ich auch jeden Umstand bedauern würde, der Sie, meine Gnädige, dazu bringen sollte, dies Haus zu verlassen, so muß ich doch fortfahren, nach meinem Ermessen darin zu herrschen.«

Lady Southdown erhob sich mit der Würde der Siddons als Lady Macbeth und befahl, ihren Wagen anspannen zu lassen. Wenn ihr Sohn und ihre Tochter sie aus dem Hause jagten, so würde sie ihren Kummer irgendwo in der Einsamkeit verbergen und darum beten, daß die beiden zu besseren Gedanken bekehrt würden.

»Wir jagen dich doch nicht aus dem Haus, Mama«, sagte die schüchterne Lady Jane flehend.

»Ihr ladet eine Gesellschaft ein, der keine christliche Dame begegnen sollte, und ich will morgen früh meine Pferde haben.«

»Bitte, Jane, sei so gütig, zu schreiben, was ich diktiere«, sagte Sir Pitt, stand auf und gab sich eine gebieterische Haltung, wie auf dem »Porträt eines Gentleman« in der Ausstellung. »Fang bitte an: Queen's Crawley, 14. September 1822 – Mein lieber Bruder!...«

Als Lady Macbeth, die auf ein Zeichen der Schwäche oder des Schwankens bei ihrem Schwiegersohn gewartet hatte, diese entschiedenen und schrecklichen Worte hörte, stand sie auf und verließ mit verstörtem Blick die Bibliothek. Lady Jane sah zu ihrem Mann auf, als wolle sie ihrer Mama gern folgen, um sie zu besänftigen, aber Pitt verbot ihr, sich von der Stelle zu rühren.

»Sie wird nicht gehen«, sagte er. »Sie hat ihr Haus in Brighton vermietet und ihr Einkommen vom letzten Halbjahr schon verbraucht. Eine Gräfin, die im Gasthaus lebt, ist so viel wie entehrt. Ich habe schon lange auf eine Gelegenheit gewartet – um diesen – diesen entscheidenden Schritt zu tun, meine Liebe; denn wie du einsehen mußt, es ist unmöglich, daß in einer Familie zwei Häupter regieren. Und nun, wenn du erlaubst, wollen wir mit dem Diktieren fortfahren. Mein lieber Bruder! Die traurige Nachricht, die ich pflichtgemäß meiner Familie mitteilen muß, ist wohl schon lange erwartet worden« und so weiter.

Mit einem Wort, nachdem Pitt zur Regierung gelangt und mit viel Glück oder vielmehr, wie er meinte, durch seine Verdienste fast das gesamte Vermögen erhalten hatte, das seine Verwandten erwartet hatten, entschloß er sich, seine Familie freundlich und achtungsvoll zu behandeln und Queen's Crawley wieder gesellschaftsfähig zu machen. Er gefiel sich in dem Gedanken, Herr des Hauses zu sein. Er nahm sich vor, den großen Einfluß, den ihm seine überragende Fähigkeit und seine Stellung in der Grafschaft schnell erringen mußten, zu benutzen, seinem Bruder eine gute Stelle zu verschaffen und seine Vettern anständig zu versorgen. Vielleicht fühlte er auch leise Gewissensbisse bei dem Gedanken, daß er jetzt der Besitzer all dessen war, worauf sie gehofft hatten. Im Laufe seiner kurzen Regierungszeit hatte sich seine Haltung geändert, und seine Pläne standen fest: er beschloß, gerecht und ehrlich zu herrschen, Lady Southdown abzusetzen und mit all seinen Blutsverwandten auf möglichst gutem Fuß zu stehen.

Er diktierte also einen Brief an seinen Bruder Rawdon – einen feierlichen, kunstvoll abgefaßten Brief mit tiefsinnigen Bemerkungen in verschnörkelter Ausdrucksweise. Die einfache kleine Sekretärin, die ihn auf Befehl ihres Mannes niederschrieb, erfüllte er mit Bewunderung. Was er doch für einen Redner abgeben wird, dachte sie, wenn er erst ins Unterhaus kommt (diesen Punkt wie auch Lady Southdowns Herrschaftsbestrebungen hatte Pitt zuweilen gegenüber seiner Frau im Bett angedeutet); wie weise und gut und was für ein Genie mein Mann ist! Ich bildete mir ein, er sei etwas kühl, aber wie gut er doch ist und was für ein Genie!

In Wirklichkeit hatte Pitt Crawley den Brief Wort für Wort auswendig gelernt und hatte ihn sich mit diplomatischer Heimlichkeit lange gründlich durchdacht, ehe er es für angemessen hielt, ihn seiner erstaunten Frau mitzuteilen.

Diesen Brief, mit breitem Trauerrand und schwarzem Siegel, schickte Pitt an seinen Bruder, den Oberst in London. Rawdon Crawley zeigte sich beim Empfang nicht übermäßig erfreut. Was nützt es, in dieses langweilige Nest zu fahren? dachte er. Ich kann es nicht vertragen, nach dem Essen mit Pitt allein zu sein, und die Pferde hin und zurück kosten uns zwanzig Pfund.

Er trug den Brief, wie alle Schwierigkeiten, in Beckys Schlafzimmer hinauf – mit ihrer Schokolade, die er ihr jeden Morgen zubereitete und hinaufbrachte.

Er stellte das Tablett mit dem Frühstück und dem Brief auf den Toilettentisch, an dem Becky saß und sich ihr blondes Haar kämmte. Sie nahm das schwarzgeränderte Schreiben, las es und sprang mit einem »Hurra« von ihrem Stuhl auf, wobei sie den Brief über ihrem Kopf schwenkte.

»Hurra?« sagte Rawdon fragend und blickte verwundert auf die kleine Gestalt, die im fliegenden Flanellschlafrock, mit aufgelösten goldenen Locken im Zimmer umhersprang. »Er hat uns nichts hinterlassen, Becky. Ich habe doch meinen Teil erhalten, als ich mündig wurde.«

»Du wirst nie mündig werden, du einfältiger alter Mann«, entgegnete Becky. »Lauf jetzt zu Madame Brunoy, denn ich muß ein bißchen Trauerkleidung haben; und kaufe du dir einen Trauerflor für den Hut und eine schwarze Weste – ich glaube, du hast keine –, sorge dafür, daß es uns morgen ins Haus gebracht wird, damit wir am Donnerstag abreisen können.«

»Du willst doch nicht etwa hinfahren«, fiel Rawdon ein.

»Natürlich will ich. Ich will, daß Lady Jane mich nächstes Jahr bei Hofe vorstellt. Ich will, daß dir dein Bruder einen Parlamentssitz verschafft, du dummer Alter. Ich will, daß Lord Steyne deine und seine Stimme erhält, mein lieber, einfältiger Alter, und daß du Staatssekretär für Irland oder Gouverneur in Westindien oder Schatzmeister oder Konsul oder so etwas Ähnliches wirst.«

»Die Postkutsche wird verdammt viel Geld kosten«, brummte Rawdon.

»Wir könnten in Southdowns Kutsche fahren, die muß zum Begräbnis ja doch hinaus, da er ja mit der Familie verwandt ist; aber nein – ich denke, wir fahren lieber mit der Postkutsche. Das wird ihnen besser gefallen. Es sieht bescheidener aus ...«

»Rawdon kommt doch natürlich mit?« fragte der Oberst.

»Nichts davon; warum sollten wir noch einen Platz bezahlen? Er ist zu groß, um noch zwischen dir und mir eingezwängt reisen zu können. Er soll ruhig hier im Kinderzimmer bleiben, und die Briggs kann ihm ein schwarzes Kittelchen machen. Geh nun und tu, was ich dir gesagt habe. Am besten erzählst du deinem Diener Sparks, daß der alte Sir Pitt tot ist und daß du ein hübsches Sümmchen bekommen wirst, wenn die Angelegenheit erst geordnet ist. Er wird es Raggles weitererzählen, der ja schon auf Geld gedrängt hat, und das wird den armen Raggles beruhigen.« Nach diesen Worten begann Becky ihre Schokolade zu schlürfen.

Als der treue Lord Steyne am Abend kam, fand er Becky und ihre Gesellschafterin, die niemand anders als unsere Freundin Briggs war, beim Zerschnippeln und Zerschneiden aller Arten von schwarzem Stoff, der sich für den traurigen Anlaß fand.

»Miss Briggs und ich sind in Kummer und Verzweiflung um den Tod unseres Papas versunken«, sagte Rebekka. »Sir Pitt Crawley ist gestorben, Lord. Den ganzen Morgen haben wir uns die Haare ausgerissen, und jetzt zerreißen wir unsere alten Kleider.«

»Oh, Rebekka, wie können Sie nur!« war alles, was die Briggs mit einem Augenaufschlag hervorbringen konnte.

»Oh, Rebekka, wie können Sie nur!« echote Lord Steyne. »So ist der alte Schuft also tot? Er hätte Peer werden können, wenn er seine Karte besser ausgespielt hätte. Mr. Pitt hätte ihn beinahe dazu gemacht, aber er wechselte die Partei immer zur Unzeit. Was für ein alter Silen er doch war.«

»Ich könnte Silens Witwe sein«, sagte Rebekka. »Wissen Sie noch, Miss Briggs, wie Sie durchs Schlüsselloch lugten und den alten Pitt vor mir auf den Knien sahen?« Unsere alte Freundin, Miss Briggs, errötete heftig bei dieser Erinnerung, und sie war froh, als ihr Lord Steyne befahl, hinunterzugehen und ihm eine Tasse Tee zu machen.

Die Briggs war der Hofhund, den sich Rebekka zur Bewachung ihrer Unschuld und ihres guten Rufes angeschafft hatte. Miss Crawley hatte ihr eine kleine Jahresrente ausgesetzt. Sie wäre gern in der Familie Crawley bei Lady Jane geblieben, die gegen sie und jedermann gütig war; aber Lady Southdown entließ die arme Briggs, so schnell es die Schicklichkeit nur gestattete; und Mr. Pitt, der sich durch die unangebrachte Großmut sehr geschädigt vorkam, die seine verstorbene Verwandte gegenüber einer Dame zeigte, welche nur zwanzig Jahre Miss Crawley treu gedient hatte, erhob keine Einwendungen gegen die Autoritätsbeweise der verwitweten Gräfin. Auch Bowls und die Firkin erhielten ihre Erbschaft und ihren Abschied, heirateten und eröffneten eine Pension, wie es Leute ihres Schlages meist tun.

Die Briggs versuchte, bei ihren Verwandten auf dem Lande zu leben. Aber bald fand sie das nach der besseren Gesellschaft, die sie gewöhnt war, unmöglich. Diese Menschen, kleine Geschäftsleute in einem Landstädtchen, zankten sich um Miss Briggs' jährliche vierzig Pfund ebenso erbittert und dabei offener wie die Verwandten von Miss Crawley um deren Erbschaft. Der Bruder der Briggs, ein radikaler Hutmacher und Kolonialwarenhändler, nannte seine Schwester eine geldprotzige Aristokratin, weil sie nicht einen Teil ihres Kapitals zur Ausrüstung seines Ladens leihen wollte. Wahrscheinlich hätte sie das auch getan, aber ihre Schwester, eine pietistische Schuhmachersfrau, lag im Streit mit dem Hutmacher und Kolonialwarenhändler, weil dieser eine andere Kirche besuchte, und sie bewies, daß er dem Bankrott nahe sei, und sie belegte Miss Briggs eine Weile mit Beschlag. Der pietistische Schuhmacher wollte gern, daß Miss Briggs seinen Sohn auf die Universität schicken und einen Gentleman aus ihm machen würde. Die beiden Familien zogen ihr einen bedeutenden Teil ihrer Privatersparnisse aus der Tasche. Schließlich floh sie, von den Verwünschungen beider verfolgt, nach London und beschloß, wieder in Dienste zu treten, die ihr unendlich weniger lästig erschienen als die Freiheit. Sie annoncierte daher in den Zeitungen, daß »eine Dame von angenehmen Manieren, an beste Gesellschaft gewöhnt, gern ...« und so weiter. Sie quartierte sich bei Mr. Bowls in der Half Moon Street ein und wartete auf das Ergebnis ihrer Anzeige.

So kam es, daß sie Rebekka wiedertraf. Mrs. Rawdons prächtige kleine Ponykutsche wirbelte eines Tages die Straße hinab, als Miss Briggs eben müde Mr. Bowls' Tür erreichte. Sie hatte einen anstrengenden Marsch in die Innenstadt zum Büro der »Times« hinter sich, wo sie ihre Annonce zum sechstenmal aufgegeben hatte. Rebekka kutschierte selbst und erkannte die Dame von angenehmen Manieren sofort, und da sie, wie wir gesehen haben, eine gutmütige kleine Frau war und die Briggs schätzte, ließ sie die Ponys vor der Tür halten, gab die Zügel dem Knecht, sprang heraus und hatte beide Hände der Briggs ergriffen, ehe die mit den angenehmen Manieren sich von dem Schock über das Wiedersehen mit ihrer alten Freundin erholt hatte.

Die Briggs weinte, und Becky lachte sehr und küßte die Dame, sobald sie in den Hausflur kamen und von da in Mrs. Bowls' Vorderzimmer mit den roten Moreenvorhängen und dem runden Spiegel mit dem angeketteten Adler darüber, der auf die Rückseite des Zettels im Fenster blickte, worauf man »möblierte Zimmer zu vermieten« lesen konnte.

Die Briggs erzählte ihre ganze Geschichte unter völlig unangebrachten Schluchzern und Ausrufen der Verwunderung, womit Frauen ihrer weichen Natur eine alte Bekannte begrüßen oder eine Begegnung auf der Straße beobachten; denn obwohl die Leute einander täglich treffen, so gibt es doch einige, die unbedingt ein Wunder dabei entdecken wollen. Sogar Frauen, die sich früher gehaßt haben, brechen in Tränen aus, wenn sie sich treffen, und gedenken jammernd der Zeit, wo sie sich zuletzt gezankt haben. Mit einem Wort, die Briggs erzählte ihre ganze Geschichte auf diese Weise, und Becky gab mit ihrer gewöhnlichen harmlosen Offenheit einen Bericht über ihr Leben.

Mrs. Bowls, die ehemalige Firkin, lauschte im Hausflur finster dem hysterischen Geheule und Gekichere, das man im Vorderzimmer vernehmen konnte. Sie hatte Becky nie leiden können. Seitdem sich das Ehepaar in London niedergelassen hatte, hatten sie häufig ihre früheren Freunde Raggles besucht. Der Bericht Raggles' über die Haushaltsführung des Obersten mißfiel ihnen. »Ich für mein Teil würde ihm nicht trauen, Ragg, mein Junge«, hatte Bowls bemerkt. Als daher Mrs. Rawdon aus dem Zimmer trat und darauf bestand, der ehemaligen Kammerfrau die Hand zu schütteln, begrüßte diese sie nur mit einem mürrischen Knicks, und ihre Finger lagen kalt und leblos wie Würstchen in Mrs. Rawdons Hand. Dann wirbelte Rebekka wieder nach Piccadilly, nachdem sie der nickend am Fenster, direkt unter dem Vermietanzeiger, lehnenden Miss Briggs ebenfalls mit süßem Lächeln zugenickt hatte, und im nächsten Augenblick befand sie sich im Park, mit einem halben Dutzend Stutzern zu Pferde hinter ihrem Wagen.

Als Becky entdeckte, wie ihre Freundin gestellt war und daß es ihr bei der hübschen Erbschaft von Miss Crawley nicht auf ein Gehalt ankomme, entwarf sie sofort ein paar menschenfreundliche häusliche Pläne in bezug auf sie. Diese war gerade die Gesellschafterin, die für ihren Haushalt paßte, und sie lud die Briggs noch am gleichen Abend zum Essen ein, wo sie ihr ihren teuren kleinen Liebling Rawdon zeigen wollte.

Mrs. Bowls warnte ihre Mieterin davor, sich in die Höhle des Löwen zu wagen. »Sie werden es bereuen, Miss Briggs  – denken Sie an meine Worte –, so wahr ich Bowls heiße.« Die Briggs versprach, sehr vorsichtig zu sein. Das Resultat dieser Vorsicht war, daß sie eine Woche darauf zu Mrs. Rawdon zog und noch vor Ende des ersten halben Jahres Rawdon Crawley sechshundert Pfund auf Zinsen geliehen hatte.


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