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47. Kapitel

Gaunt-Haus

Die ganze Welt weiß, daß Steynes Stadtwohnung am Gaunt Square liegt. Dort mündet die Great Gaunt Street, wohin wir Rebekka zur Zeit des seligen Pit Crawley zuerst begleiteten. Wenn man über das eiserne Gitter und durch die geschwärzten Bäume in den Anlagen auf dem Platz blickt, dann sieht man ein paar ärmliche Gouvernanten mit blassen Schutzbefohlenen rund um den trübseligen Grasfleck gehen, in dessen Mitte sich die Statue von Lord Gaunt erhebt, der bei Minden gekämpft hat und eine Perücke mit drei Schwänzchen trägt, sonst aber wie ein römischer Kaiser gekleidet ist. Das Gaunt-Haus nimmt fast eine Seite des Platzes ein, die übrigen drei Seiten werden von Häusern begrenzt, deren Eigentümer meist adlige Witwen sind – hohe, düstere Häuser mit steinernen Fensterkreuzen, hinter denen selten Licht brennt, und Türen, von denen die Gastfreundschaft ebenso geflohen zu sein scheint wie die geschnürten Lakaien und Fackeljungen aus der alten Zeit, die ihre Fackeln in den blanken, eisernen Löschhörnern auszulöschen pflegten, die noch immer neben den Lampen über der Treppe hängen. Firmenschilder sind auf den Platz gedrungen: Ärzte – die Diddlesex-Bank, westliche Filiale – die englisch-europäische Reunionsgesellschaft und so weiter. Das bietet alles einen recht trübseligen Anblick, und Lord Steynes Palast sieht nicht weniger trübselig aus. Alles, was ich davon gesehen habe, ist die große Frontmauer – mit den Säulen am Haupttor, durch die zuweilen ein alter Portier mit fettem, düsterem, rotem Gesicht schaute – und über der Mauer die Fenster der Bodenkammern und Schlafzimmer und die Schornsteine, aus denen jetzt selten Rauch aufsteigt, denn der gegenwärtige Lord Steyne lebt in Neapel und zieht die Aussicht auf den Golf und Capri und den Vesuv dem trübseligen Anblick der Mauer am Gaunt Square vor.

Ein paar Dutzend Meter weiter in der New Gaunt Street befindet sich ein kleines, bescheidenes Hinterpförtchen, das in Richtung der Stallgebäude führt und kaum von den übrigen Stalltüren zu unterscheiden ist. Manch ein verschlossener kleiner Wagen hat aber vor dieser Tür gehalten, wie mir mein Berichterstatter, der kleine Tom Eaves, der alles weiß und mir die Stätte gezeigt hat, erzählte. »Der Prinz und Perdita sind durch diese Tür ein und aus gegangen«, hat er mir oft erzählt; »Mary Ann Clarke ist dort mit dem Herzog von ... gewesen. Die Tür führt zu den berühmten petits appartements von Lord Steyne. Eins ist ganz in Elfenbein und weißem Atlas gehalten, ein anderes in Ebenholz und schwarzem Samt. Es gibt darin ein kleines Bankettzimmerchen nach dem Muster des Hauses von Sallust in Pompeji, von Cosway gemalt, und eine kleine Privatküche, in der jede Bratpfanne aus Silber und alle Spieße aus Gold sind. Hier war es, wo Philippe Egalité von Orleans Rebhühner röstete, an jenem Abend, wo er und der Marquis von Steyne von einer großen Persönlichkeit beim L'hombre hunderttausend Francs gewannen. Ein Teil des Geldes ging zur Französischen Revolution, mit einem weiteren wurde Lord Gaunts Marquiswürde und sein Hosenbandorden gekauft und das übrige ...« Es liegt jedoch nicht in unserer Absicht, zu berichten, was aus dem übrigen wurde. Der kleine Tom Eaves, der über anderer Leute Angelegenheiten Bescheid weiß, kann vorrechnen, wo jeder Shilling der Summe geblieben ist.

Außer seinem Palast in der Stadt besaß der Marquis Schlösser und Paläste in verschiedenen Gegenden der drei Königreiche. In den Reisehandbüchern kann man die Beschreibung finden: Schloß Strongbow mit seinen Wäldern am Ufer des Shannon, Schloß Gaunt in Carmarthenshire, wo Richard II. gefangengenommen wurde, und Gauntly Hall in Yorkshire, wo es angeblich zweihundert silberne Teekannen für das Frühstück der Gäste des Hauses und allerlei entsprechend prächtige Sachen geben soll, und dann noch Stillbrook in Hampshire, der Privatbesitz des Lords, eine bescheidene Residenz, an deren wundervolle Einrichtung wir uns noch gut erinnern und die nach dem Ableben des Lords von einem berühmten Auktionator versteigert wurde.

Die Marquise von Steyne gehörte zu der berühmten alten Familie der Caerlyons, der Marquis von Camelot, die seit der Bekehrung des ehrwürdigen Druiden, ihres ersten Vorfahren, fest an ihrem alten Glauben gehangen haben und deren Stammbaum weit über die Zeit zurückgeht, da König Brutus auf den britischen Inseln landete. Der Titel des ältesten Sohnes des Hauses ist Pendragon. Die Söhne heißen seit undenklichen Zeiten stets Arthur, Uther und Caradoc; ihre Köpfe sind in mancher loyalen Verschwörung gefallen. Elisabeth schlug dem Arthur ihrer Zeit den Kopf ab, der Kammerherr bei Philipp und Maria gewesen war und Briefe zwischen der schottischen Königin und ihren Onkeln, den Guisen, hin- und hergetragen hatte. Ein jüngerer Sohn des Hauses war Offizier des großen Herzogs und zeichnete sich in der berühmten Bartholomäusnacht aus. Während der ganzen Gefangenschaft Maria Stuarts war das Haus Camelot mit ihr verschworen. Sie litten durch ihre Ausgaben für die Rüstung gegen die Spanier zur Zeit der Armada ebensoviel Schaden wie durch die Strafen und Beschlagnahmungen, die Elisabeth über sie verhängte, weil sie katholische Priester verbargen, hartnäckig den Religionseid verweigerten und papistische Vergehen begingen. Ein Renegat zur Zeit Jakobs I. wurde für kurze Zeit durch die Argumente dieses großen Theologen seinem Glauben abtrünnig, und die Vermögenslage der Familie besserte sich durch diese rechtzeitige Schwäche wieder etwas. Aber der Graf von Camelot kehrte unter der Regierung Karls I. wieder zum alten Glauben der Familie zurück, und sie fuhren fort, für diesen Glauben zu kämpfen und sich dafür zugrunde zu richten, solange es noch einen Stuart gab, der eine Rebellion leiten oder anstiften konnte.

Lady Mary Caerlyon war in einem Pariser Kloster erzogen worden; die Dauphine Marie Antoinette war ihre Patin. In der Glanzzeit ihrer Schönheit war sie an Lord Gaunt verheiratet worden – verkauft, sagten manche –, der damals in Paris war und auf Banketten beim Herzog von Orleans dem Bruder der Dame riesige Summen abgewonnen hatte. Das berühmte Duell des Grafen Gaunt mit dem Grafen de la Marche von den Grauen Musketieren führte das Gerücht darauf zurück, daß sich dieser Offizier (er war Page gewesen und ein Liebling der Königin) um die Hand der schönen Lady Mary Caerlyon bemühte. Sie wurde an Lord Gaunt verheiratet, während der Graf noch an seinen Wunden daniederlag, zog ins Gaunt-Haus ein und spielte für kurze Zeit am glänzenden Hof des Prinzen von Wales eine Rolle. Fox trank auf ihre Gesundheit, Morris und Sheridan schrieben Lieder auf sie, Malmesbury machte ihr seine besten Verbeugungen, Walpole erklärte, sie sei bezaubernd, und Devonshire war fast eifersüchtig auf sie. Sie jedoch wurde durch die wilden Freuden und Vergnügungen, in die man sie hineingerissen hatte, abgeschreckt und zog sich nach der Geburt zweier Söhne in ein Leben frommer Abgeschiedenheit zurück. Kein Wunder, daß Lord Steyne, der Vergnügen und Lustigkeit liebte, nach der Heirat nicht oft an der Seite der ängstlichen, schweigsamen, abergläubischen, unglücklichen Lady zu sehen war.

Der obenerwähnte Tom Eaves (der in unserer Geschichte nur auftaucht, weil er alle hohen Persönlichkeiten Londons und die Geschichte und die Geheimnisse jeder Familie kennt) hatte noch ein paar weitere Aufschlüsse über Lady Steyne zu geben, deren Wahrheit nicht verbürgt ist. »Die Demütigungen«, sagte Tom oftmals, »denen diese Dame in ihrem eigenen Hause ausgesetzt war, sind entsetzlich; Lord Steyne hat sie gezwungen, sich mit Frauen an einen Tisch zu setzen, mit denen ich Mrs. Eaves nicht verkehren ließe, und kostete es mich das Leben: Mit Lady Crackenbury, Mrs. Chippenham, mit Madame de la Cruche-cassée, der Frau des französischen Gesandtschaftssekretärs, kurz – mit seiner jeweiligen Geliebten.« Tom Eaves, der seine Frau ermordet hätte, wenn sie diese Damen auch nur gekannt hätte, war nur zu froh, ein Kopfnicken oder eine Einladung zum Essen von ihnen zu erhalten. »Glauben Sie etwa, daß diese Frau aus dieser Familie, die ebenso stolz ist wie die Bourbonen und gegen die die Steynes nur Lakaien, Emporkömmlinge von gestern sind, denn wenn man es recht betrachtet, so stammen sie nicht von den alten Gaunts, sondern von einer jüngeren, zweifelhaften Linie ab, glauben Sie denn etwa« – der Leser muß sich erinnern, daß immer noch Tom Eaves spricht –, »daß die Marquise von Steyne, die hochmütigste Frau Englands, sich ohne Ursache ihrem Mann unterworfen hätte? Pah! Ich sage Ihnen, sie hat geheime Gründe dazu; ich sage Ihnen, daß der Abbé de la Marche, der während der Emigration hier war und in die Quiberon-Affäre mit Pirisaye und Tinténiac verwickelt wurde, der Oberst der Grauen Musketiere war, mit dem sich Steyne im Jahre sechsundachtzig duelliert hatte. Er war wieder mit der Marquise zusammengetroffen, und erst als der ehrwürdige Oberst in der Bretagne erschossen worden war, begann Lady Steyne mit den strengen Andachtsübungen, denen sie sich jetzt unterwirft. Sie schließt sich täglich mit ihrem Beichtvater ein und geht jeden Morgen zum Gottesdienst am Spanish Place. Ich habe sie dort beobachtet, das heißt, ich bin zufällig dort vorbeigekommen, und Sie können sich darauf verlassen, daß irgendein Geheimnis dahintersteckt. Die Menschen sind niemals so unglücklich, wenn sie nicht etwas zu bereuen haben«, fügte Tom Eaves mit schlauem Kopfnicken hinzu; »und verlassen Sie sich darauf, diese Frau wäre nicht so unterwürfig, wenn der Marquis nicht ein Schwert über ihrem Haupte hielte.«

Wenn Mr. Eaves recht berichtete, mußte diese Dame in hoher Stellung viele geheime Kränkungen erdulden und manchen stillen Kummer unter einem ruhigen Gesicht verbergen. Wir aber, meine Brüder, deren Namen nicht im Adelskalender stehen, können uns also mit dem angenehmen Gedanken trösten, wie unglücklich die, die über uns stehen, sein können und daß dem Damokles, der auf Seidenkissen sitzt und von goldenem Geschirr ißt, ein furchtbares Schwert über dem Kopf schwebt, in Gestalt eines Gerichtsdieners, einer Erbkrankheit oder eines Familiengeheimnisses, das von Zeit zu Zeit gespenstisch durch die gestickten Vorhänge blinkt und eines Tages sicher auf die rechte Stelle herabfallen wird.

Wenn der Arme seine Lage mit der des Reichen vergleicht, so findet er (immer nach Mr. Eaves) dabei noch eine andere Trostquelle. Der, der wenig oder kein Vermögen zu hinterlassen oder zu erben hat, kann mit seinem Vater oder Sohn in gutem Einvernehmen leben. Der Erbe eines großen Fürsten wie Lord Steyne dagegen muß ärgerlich sein, wenn er zu lange von seinem Königreich ferngehalten wird, und er wird den derzeitigen Inhaber des Thrones nicht mit ausgesprochen freundlichen Blicken betrachten. »Sie können es als allgemeine Regel ansehen«, sagte der hämische alte Eaves stets, »daß sich in vornehmen Familien Vater und Erstgeborener stets hassen. Der Kronprinz steht immer in Opposition zur Krone oder strebt danach. Shakespeare kannte die Welt, mein guter Herr, wenn er beschreibt, wie Prinz Heinz (von dessen Familie die Gaunts abzustammen vorgeben, obwohl sie mit Johann von Gaunt ebensowenig verwandt sind wie Sie) die Krone seines Vaters aufsetzt, so gibt er damit eine natürliche Beschreibung aller rechtmäßigen Erben. Oder wollen Sie vielleicht behaupten, daß Sie, wenn Sie ein Herzogtum und ein Einkommen von täglich tausend Pfund erben könnten, sich nicht nach dem Besitze sehnen würden? Pah! Es ist ganz natürlich, daß jeder vornehme Mann, der selbst dieses Gefühl gegen seinen Vater gehegt hat, wissen muß, daß sein Sohn ebenso gegen ihn fühlt und deshalb Verdacht und Feindseligkeit gegen ihn unvermeidlich sind. Und dann die Gefühle der älteren Söhne gegen die jüngeren! Sie wissen, mein Lieber, daß jeder älteste Sohn seine jüngeren Brüder als natürliche Feinde betrachtet, die ihn einer Menge baren Geldes berauben, das ihm von Rechts wegen zukommt. Ich habe gehört, wie George MacTurk, Lord Bajazets ältester Sohn, oftmals sagt, wenn es nach ihm ginge, so würde er, sobald er die Regierung anträte, wie die Sultane sein Vermögen dadurch entlasten, daß er allen seinen jüngeren Brüdern die Köpfe abschlagen ließe; und so steht die Sache mehr oder weniger bei allen. Ich sage Ihnen, in ihrem Herzen sind sie alle Türken. Pah, Herr, die kennen die Welt.« Hier kam zufälligerweise ein vornehmer Herr vorüber, und Tom Eaves' Hut flog vom Kopfe. Er stürzte mit einer Verbeugung und einem Lächeln vorwärts, die bewiesen, daß er die Welt auch kannte, und zwar auf Eavessche Weise. Tom, der jeden Shilling seines Vermögens in Renten angelegt hatte, kann sehr gut seine Neffen und Nichten lieben und gegenüber Höherstehenden kein anderes Gefühl hegen als den steten edelmütigen Wunsch, bei ihnen zu speisen.

Zwischen der Marquise und der natürlichen Liebe einer Mutter zu ihren Kindern erhob sich die grausame Schranke des Glaubensunterschiedes. Die Liebe, die die fromme Dame gegenüber ihren Söhnen fühlte, machte sie nur noch furchtsamer und unglücklicher. Der Abgrund, der sie von ihnen trennte, war verhängnisvoll und unüberwindlich. Sie konnte weder ihre schwachen Arme hinüberstrecken noch ihre Kinder zu ihrer Seite herüberziehen, wo nach ihrem Glauben das alleinige Heil lag. In der Jugendzeit seiner Söhne kannte Lord Steyne, der ein tüchtiger Gelehrter und sehr spitzfindig war, auf dem Lande abends nach dem Essen beim Wein kein größeres Vergnügen, als den Erzieher der Knaben, den ehrwürdigen Trail (jetzt Lordbischof von Ealing), gegen den Beichtvater seiner Gemahlin, Pater Mole, zu hetzen und Oxford gegen Saint-Acheul auszuspielen. Er rief abwechselnd: »Bravo, Latimer! Gut gesagt, Loyola!« und versprach Mole ein Bistum, wenn er übertreten wolle, und gelobte, allen seinen Einfluß aufzubieten, um Trail einen Kardinalshut zu verschaffen, wenn er abfallen würde. Keiner der Geistlichen gab zu, jemals besiegt worden zu sein, und obwohl die zärtliche Mutter hoffte, daß ihr jüngster und liebster Sohn zu ihrer Kirche – seiner Mutterkirche – übergehen würde, so erwartete die fromme Dame doch eine schreckliche, traurige Enttäuschung – eine Enttäuschung, die die Strafe für die Sünden ihrer Ehe zu sein schien.

Lord Gaunt heiratete, wie jeder, der häufig im Adelskalender blättert, weiß, Lady Blanche Thistlewood, eine Tochter des edlen Hauses Bareacres, das in dieser wahren Geschichte schon einmal erwähnt wurde. Dem jungen Paar war ein Flügel im Gaunt-Haus angewiesen worden. Das Haupt der Familie wollte es, denn solange er regierte, wollte er unumschränkt regieren. Sein Sohn und Erbe war wenig zu Hause, vertrug sich nicht mit seiner Frau und borgte sich Geld über das geringe Einkommen hinaus, das ihm sein Vater gewährte, auf Wechsel, die nach dem Tode des Vaters fällig waren. Der Marquis kannte jeden Shilling von seines Sohnes Schulden, und als er viel betrauert starb, fanden sich bei ihm selbst viele von seines Sohnes Schuldscheinen, die er den Kindern seines jüngsten Sohnes hinterließ.

Da Lady Gaunt zum Kummer des Lords und zur großen Freude seines natürlichen Feindes, seines Vaters, keine Kinder hatte, wurde Lord George Gaunt aus Wien zurückgerufen, wo er mit Walzertanzen und Diplomatie beschäftigt war, und erhielt den Auftrag, ein Ehebündnis mit Joan, der einzigen Tochter von John Jones, dem ersten Baron Helvellyn und Chef der Bankiersfirma Jones, Brown und Robinson in der Threadneedle Street, zu schließen. Aus dieser Verbindung entsprangen mehrere Söhne und Töchter, deren Leben und Taten nicht in unsere Geschichte gehören.

Die Ehe war anfänglich glücklich. Lord George Gaunt konnte nicht nur lesen, sondern auch einigermaßen richtig schreiben. Er sprach geläufig Französisch und war einer der besten Walzertänzer Europas. Bei diesen Talenten und seinem Familieneinfluß in England bestand kein Zweifel, daß der Lord in seinem Beruf zu höchsten Würden aufsteigen würde. Seine Gemahlin fühlte sich an den Höfen zu Hause, und ihr Reichtum ermöglichte es ihr, in den Städten des europäischen Kontinents, wohin sie die diplomatischen Pflichten ihres Mannes brachten, ein glänzendes Haus zu führen. Man sprach schon davon, daß er zum Gesandten ernannt werden würde, und schloß im Klub der Reisenden Wetten ab, daß er in kurzer Zeit Botschafter sein würde, als sich plötzlich dunkle Gerüchte über das außerordentliche Benehmen des Staatsmannes zu verbreiten begannen. Bei einem großen Essen, das sein Vorgesetzter allen Diplomaten gab, war er plötzlich aufgesprungen und hatte erklärt, eine pâté de foie gras sei vergiftet, und einmal war er zu einem Ball im Hotel des bayrischen Gesandten Graf Springbock-Hohenlaufen mit geschorenem Kopfe und als Kapuzinermönch gekleidet erschienen. Es war kein Maskenball, wie manche einem einreden wollten. Es sei etwas Seltsames, flüsterten die Leute. Sein Großvater sei auch so gewesen. Es läge in der Familie.

Seine Frau und seine Kinder kehrten nach England zurück und zogen ins Gaunt-Haus. Lord George gab seinen Posten auf dem Kontinent auf und erhielt, wie die Zeitungen berichteten, einen anderen in Brasilien. Man wußte es aber besser; er kehrte nie von Brasilien zurück, starb nicht dort, lebte nicht dort, war überhaupt niemals dort gewesen. Er war nirgends, er war verschollen. »Brasilien«, sagte ein Klatschmaul grinsend zum anderen, »Brasilien ist St. Johns' Wood, Rio de Janeiro ist ein von vier Mauern umgebenes Haus, und George Gaunt ist bei einem Wärter akkreditiert, der ihm den Zwangsjackenorden verliehen hat.« Das sind die Leichenreden, die die Menschen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit einander halten.

Zwei- bis dreimal wöchentlich suchte in den frühesten Morgenstunden die arme Mutter zur Strafe für ihre Sünden den armen Kranken auf. Zuweilen lachte er sie an (und sein Gelächter war schlimmer, als wenn man ihn weinen hörte), zuweilen fand sie den glänzenden eleganten Diplomaten des Wiener Kongresses, wie er ein Kinderspielzeug herumzog oder die Puppe des Kindes seines Wärters wiegte. Zuweilen erkannte er sie und Pater Mole, ihren Beichtvater und Begleiter, öfter aber erinnerte er sich nicht, wie er sich an Frau, Kinder, Liebe, Ehrgeiz und Eitelkeit nicht erinnerte. Aber niemals vergaß er die Essenszeit und pflegte zu weinen, wenn der Wein nicht stark genug war.

Die arme Mutter hatte einen geheimnisvollen Makel im Blut aus ihrem alten Geschlecht mitgebracht. Das Übel war ein paarmal in der Familie ihres Vaters ausgebrochen, aber lange ehe Lady Steyne gesündigt hatte und mit Fasten, Tränen und Bußübungen ihr Sühneopfer gebracht hatte. Der Stolz ihres Geschlechts war geschlagen wie der erste Sohn Pharaos. Das düstere Zeichen von Schicksal und Verdammnis stand an der Tür, an der hohen alten Tür, unter der Krone und dem geschnitzten Wappen.

Inzwischen wuchsen die Kinder des abwesenden Lords lustig auf, ohne zu ahnen, daß auch auf ihnen der Fluch lag. Anfangs sprachen sie viel von ihrem Vater und machten Pläne für seine Rückkehr. Dann verschwand der Name des lebenden Toten allmählich aus ihrem Munde – endlich erwähnten sie ihn gar nicht mehr. Die alte gebeugte Großmutter zitterte jedoch bei dem Gedanken, daß diese die Erben von ihres Vaters Ehre, aber auch von seiner Schande seien, und wartete furchtsam auf den Tag, wo der entsetzliche Fluch ihrer Ahnen auf die Kinder fallen würde.

Diese dunkle Vorahnung verfolgte auch Lord Steyne. Er versuchte das schreckliche Gespenst in einem roten Meer von Wein und Vergnügungen zu ertränken, und manchmal verlor er es inmitten lustiger Gesellschaft auch aus den Augen. Aber wenn er allein war, kehrte es stets zu ihm zurück, und mit den Jahren nahm es immer drohendere Gestalt an. »Ich habe deinen Sohn genommen«, sagte es, »warum nicht auch dich? Eines Tages kann ich auch dich in ein Gefängnis sperren wie deinen Sohn George. Ich kann schon morgen deinen Kopf berühren, und aus ist es mit Vergnügungen und Ehrungen, Festen und Schönheit, Freunden, Schmeichlern, französischen Köchen, schönen Pferden und Häusern – dafür gibt es ein Gefängnis, einen Wärter und einen Strohsack wie bei George Gaunt.« Dann aber verhöhnte der Lord das Gespenst, das ihn bedrohte, denn er kannte ein Mittel, durch das er seinen Feind um die Beute betrügen konnte.

Es herrschte also Glanz und Reichtum hinter den hohen verzierten Portalen vom Gaunt-Haus mit ihren rauchgeschwärzten Grafenkronen und Jahreszahlen, aber wohl kaum großes Glück. Die Feste, die dort gegeben wurden, gehörten zu den großartigsten von ganz London, schufen aber keine übermäßige Befriedigung, außer bei den Gästen, die am Tische des Lords saßen. Wäre er nicht ein so großer Herr gewesen, so hätten ihn wahrscheinlich nur wenige besucht. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit beurteilt man aber die Sünden sehr hoher Persönlichkeiten mit Nachsicht. »Nous regardons à deux fois«, sagte die französische Dame, »ehe wir einen Menschen von des Lords unzweifelhaften Qualitäten verurteilen.« Ein paar notorische Krittler und ängstliche Moralisten hielten sich zwar über Lord Steyne auf, kamen aber nur zu gern, wenn er sie einlud.

»Lord Steyne treibt es wirklich zu arg«, meinte Lady Slingstone, »es geht aber alle Welt hin. Ich muß bloß aufpassen, daß meine Töchter keinen Schaden nehmen.« »Ich verdanke dem Lord viel, ja alles im Leben«, erklärte Ehrwürden Dr. Trail, und er überlegte, daß der Erzbischof doch schon recht schwächlich sei, und Mrs. Trail und ihre Töchter hätten lieber den Gottesdienst als eine Gesellschaft bei Lord Steyne versäumt. »Seine Moral ist zwar schlecht, aber, zum Henker, er hat den besten Champagner in ganz Europa«, sagte der kleine Lord Southdown zu seiner Schwester, als sie ihm sanfte Vorstellungen machte. Sie hatte nämlich von ihrer Mama entsetzliche Geschichten über die Vorkommnisse im Gaunt-Haus gehört. Und was Sir Pitt Crawley, Baronet, betrifft – Sir Pitt, dieses Muster der Wohlanständigkeit, Sir Pitt, der bei Missionsversammlungen präsidierte –, so dachte er keinen Augenblick daran, nicht hinzugehen. »Wo du Persönlichkeiten wie den Bischof von Ealing und die Gräfin Slingstone siehst, Jane, kannst du sicher sein, daß wir nicht fehl am Platze sind«, pflegte der Baronet zu sagen. »Der hohe Rang und Stand Lord Steynes erlauben ihm, über Leute in unserer Stellung zu herrschen. Der höchste Beamte einer Grafschaft, meine Liebe, ist ein respektabler Mann. Übrigens waren George Gaunt und ich früher sehr vertraut; als wir Attachés in Pumpernickel waren, war ich sein Vorgesetzter.«

Kurz, jeder machte diesem bedeutenden Mann seine Aufwartung – jeder, der zu Gast gebeten wurde. Auch du, lieber Leser (leugne es nicht), und ich, der Verfasser der Geschichte, würden gehen, wenn wir eingeladen würden.


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