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57. Kapitel

Eothen

Einer der vielen Gründe für den Stolz des alten Osborne war, daß Sedley, sein alter Rivale, Feind und Wohltäter, in seinen letzten Tagen so völlig besiegt und erniedrigt war, daß er finanzielle Unterstützung aus den Händen des Mannes annehmen mußte, der ihn am schwersten verwundet und beleidigt hatte. Der erfolgreiche Weltmann beschimpfte den alten Almosenempfänger und half ihm von Zeit zu Zeit. Wenn er George Geld für seine Mutter gab, so gab er dem Knaben in seiner gewöhnlichen brutalen, rohen Weise zu verstehen, daß Georges Großvater mütterlicherseits nur ein erbärmlicher alter Bankrotteur und Abhängiger sei und daß John Sedley dem Mann, dem er bereits so viel Geld schuldete, dankbar sein müsse für die Hilfe, die sein, Osbornes, Edelmut ihm gewährte. George brachte diese prahlerische Summe seiner Mutter und dem gebeugten alten Witwer, dessen Pflege und Tröstung jetzt Amelias Hauptbeschäftigung war. Der kleine Bursche behandelte den schwachen, unglücklichen alten Mann sehr gönnerhaft.

Es war vielleicht Mangel an »schicklichem Stolz« bei Amelia, daß sie die finanziellen Wohltaten aus der Hand des Feindes ihres Vaters annahm. Schicklicher Stolz und diese arme Dame hatten einander jedoch nie gut gekannt. Sie war ein von Natur aus einfaches, schutzbedürftiges Wesen; lange Jahre in Armut und Demütigung unter täglichen Entbehrungen und bösen Worten und guten Taten ohne Belohnung waren ihr Los gewesen, seit sie erwachsen war oder seit ihrer unglücklichen Heirat mit George Osborne. Du, der du täglich siehst, daß bessere Menschen als du diese Schande erdulden, die still die Schicksalsschläge ertragen, sanft und unbemitleidet, arm und noch verachtet wegen ihrer Armut sind – steigst du je von der Höhe deines Glücks herab und wäschst diesen armen müden Bettlern die Füße? Schon der Gedanke an sie erscheint verhaßt und gemein. »Es muß Klassen geben – es muß Reiche und Arme geben«, sagt der Reiche und schlürft seinen Rotwein (es ist schon viel, wenn er Lazarus, der unter seinem Fenster sitzt, Fleischbröckchen hinausschickt). Das stimmt schon, aber bedenke auch, wie geheimnisvoll und oft unberechenbar sie ist, die Lebenslotterie, die diesem Purpur und köstliche Leinwand gibt und dem anderen Lumpen als Kleider und Hunde zur Tröstung schickt.

So muß ich gestehen, daß Amelia ohne viel Kummer – im Gegenteil, mit etwas wie Dankbarkeit – die Krumen auflas, die ihr Schwiegervater hin und wieder fallen ließ, und damit ihren Vater ernährte. Sobald sie bemerkte, daß es ihre Pflicht war, opferte sich diese junge Frau ganz selbstverständlich (meine Damen, sie ist erst dreißig, und wir nennen sie in diesem Alter noch eine junge Frau), opferte sie sich, wie gesagt, und legte alles, was sie hatte, dem geliebten Gegenstand zu Füßen. Wieviel lange Nächte hindurch hatte sie sich ohne Dank die Finger für den kleinen George wund gearbeitet, als er noch bei ihr war! Wieviel Leid, Verachtung, Entbehrungen, Armut hatte sie für Vater und Mutter ertragen! Und bei all dieser einsamen Entsagung und dieser unbeachteten Hingabe schätzte sie sich nicht höher, als die Welt sie schätzte. Wahrscheinlich dachte sie in ihrem Herzen, sie sei ein armseliges, erbärmliches kleines Geschöpf, das mehr Glück hatte, als es verdiente. Oh, ihr armen Frauen! Ihr armen geheimen Märtyrerinnen und Opfer, deren Leben eine Tortur ist, die ihr in eurem Schlafzimmer auf der Folter ausgestreckt liegt und täglich im Salon den Kopf auf den Block legt. Jeder Mann, der eure Schmerzen beobachtet oder in den dunklen Ort späht, wo eure Tortur vollzogen wird, muß euch bemitleiden – und – Gott danken, daß er einen Bart hat. Ich erinnere mich, vor vielen Jahren in dem Irrenhaus in Bicêtre bei Paris einen armen, von Kerker und Krankheit gebeugten Schelm gesehen zu haben, dem einer von uns für ein paar Pfennige Schnupftabak in einer Papiertüte gab. Diese Freundlichkeit war zuviel für das arme epileptische Geschöpf. Er weinte vor Freude und Dankbarkeit. Wenn irgend jemand dir oder mir jährlich tausend Pfund geben oder das Leben retten würde – wir könnten nicht so gerührt sein. Genauso ist es, wenn man eine Frau gehörig tyrannisiert hat. Für ein paar Pfennige Freundlichkeit werden dann ebenso auf sie wirken und ihr Tränen in die Augen locken, als ob du ein wohltätiger Engel wärst.

Gaben dieser Art waren die besten, die das Glück der armen kleinen Amelia gewährte. Ihr Leben, gar nicht unglücklich begonnen, war dazu herabgesunken – zu einer gemeinen Kerkerhaft und einer langen, erniedrigenden Sklaverei. Der kleine George besuchte sie zuweilen in ihrer Gefangenschaft und brachte ihr einen Schimmer schwachen Trostes. Der Russell Square war die Grenze ihres Gefängnisses. Sie konnte gelegentlich dorthin gehen, kam aber stets des Abends wieder in ihre Zelle zurück: um darin zu schlafen, um freudlose Pflichten zu erfüllen, um an danklosen, trüben Krankenbetten zu wachen und um die Quälereien und die Herrschsucht zänkischer, enttäuschter alter Leute zu ertragen. Wie viele Tausende von Menschen gibt es – meistens Frauen –, die zu dieser langen Sklaverei verurteilt sind, Krankenwärterinnen ohne Lohn – Barmherzige Schwestern, wenn man so will, ohne die Romantik des Aufopferungsgefühls. Sie mühen sich ab, fasten, wachen, leiden, ohne Mitleid zu finden, und welken erniedrigt dahin.

Es gefällt der schrecklichen verborgenen Weisheit, die die Geschicke der Menschen lenkt, die Sanften, Guten und Weisen zu demütigen und niederzuwerfen und die Selbstsüchtigen, Törichten und Bösen zu erhöhen. Oh, mein Bruder! Sei demütig in deinem Glück! Sei sanft gegen die, welche weniger glücklich, aber doch sehr wahrscheinlich verdienstvoller sind. Überlege dir, welches Recht du hast, jemanden zu verachten, du, dessen Tugend nur auf dem Mangel an Versuchung beruht, dessen Erfolge zufällig sein können, dessen Stellung vielleicht nur dem Glück eines Ahnen zu verdanken ist, dessen eigenes Gedeihen höchstwahrscheinlich eine Satire ist!

Man begrub Amelias Mutter auf dem Kirchhof in Brompton, an einem genauso dunklen regnerischen Tag wie dem, an dem Amelia dorthin gekommen war, um mit George getraut zu werden. Ihr kleiner Knabe saß in prächtigen neuen Trauerkleidern neben ihr. Sie erinnerte sich der alten Schließerin und des Küsters. Während der Pfarrer die Predigt hielt, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit. Wenn sie nicht Georges Hand gehalten hätte, wie gern hätte sie dann den Platz getauscht mit... Doch wie gewöhnlich schämte sie sich bald ihrer selbstsüchtigen Gedanken und betete still um Stärke zur Erfüllung ihrer Pflicht.

Sie beschloß, mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft ihren alten Vater glücklich zu machen. Sie plackte und mühte sich ab, flickte und stopfte, sang und spielte Puff, las aus der Zeitung vor, kochte für den alten Sedley, ging mit ihm in den Kensington Gardens oder auf den Bromptoner Straßen spazieren, lauschte seinen Geschichten mit nimmermüdem Lächeln und liebevoller Heuchelei oder saß sinnend und in ihre eigenen Gedanken und Erinnerungen versunken neben ihm, wenn sich der schwache, zänkische Alte auf den Gartenbänken sonnte und von seinen Sorgen und dem ihm angetanen Unrecht brabbelte. Wie traurig und unbefriedigend waren die Gedanken der Witwe! Die Kinder, die auf den breiten Wegen und Böschungen des Gartens herumtollten, erinnerten sie an George, den man ihr entrissen hatte; auch der erste George war ihr genommen worden. In beiden Fällen war ihre egoistische, schuldige Liebe zurechtgewiesen und bitter bestraft worden. Sie bemühte sich, zu glauben, daß sie mit Recht auf diese Weise gestraft worden sei. Sie war ja eine so elende, böse Sünderin. Sie stand ja ganz allein auf der Welt.

Ich weiß, daß der Bericht von solch einer einsamen Gefangenschaft unerträglich langweilig ist, wenn er nicht durch heitere oder humoristische Vorfälle belebt wird – zum Beispiel einen zärtlichen Kerkermeister oder einen lustigen Festungskommandanten; oder eine Maus, die herauskommt und in Latudes Bart herumspielt; oder einen unterirdischen Gang unter der Burg, den Trenck mit den Fingernägeln und einem Zahnstocher gräbt. Solche belebenden Vorfälle hat der Verfasser in der Erzählung von Amelias Gefangenschaft nicht zu berichten. Stell sie dir in dieser Zeit bitte sehr traurig vor, aber wenn man sie anspricht, stets zu einem Lächeln bereit, in einer sehr niedrigen, armen, um nicht zu sagen, gemeinen Stellung. Sie singt für ihren alten Vater Lieder, bereitet Puddings, spielt Karten, stopft Strümpfe. Es ist nicht so wichtig, ob sie eine Heldin ist oder nicht. Mögen nur du und ich – wenn wir alt, zänkisch und bankrott sind – in unseren letzten Tagen eine gütige weiche Schulter haben, an die wir uns lehnen können, eine zarte Hand, die uns die gichtigen Kissen glättet.

Nach dem Tode seiner Frau schloß der alte Sedley seine Tochter sehr ins Herz, und Amelia fand ihren Trost darin, gegenüber dem Alten ihre Pflicht zu tun.

Wir werden diese beiden Menschen jedoch nicht lange auf einer so niedrigen, armseligen Stufe des Lebens lassen; es waren ihnen noch bessere Tage, zumindest im Hinblick auf weltliches Glück, bestimmt. Wahrscheinlich hat der scharfsinnige Leser schon erraten, wer der dicke Herr war, der in Begleitung unseres alten Freundes Major Dobbin Georgy in der Schule aufsuchte. Es war ein anderer alter Bekannter, der nach England zurückgekehrt war, und zwar zu einem Zeitpunkt, da seinen Verwandten dort seine Gegenwart sehr angenehm sein mußte.

Major Dobbin, dem es schnell gelungen war, von seinem gutmütigen Kommandeur wegen dringender Privatangelegenheiten die Erlaubnis zur Reise nach Madras und von da wahrscheinlich nach Europa zu erhalten, war Tag und Nacht unterwegs gewesen, bis er sein Ziel erreicht hatte, und war mit solcher Geschwindigkeit nach Madras marschiert, daß er mit sehr hohem Fieber dort ankam. Die ihn begleitenden Diener brachten ihn, der schon im Delirium lag, in das Haus des Freundes, bei dem er bis zu seiner Abreise nach Europa hatte wohnen wollen. Man glaubte viele, viele Tage, daß er nie weiter reisen würde als bis zum Friedhof der Sankt-Georgs-Kirche, wo manch tapferer Offizier fern von der Heimat ruht und wo die Truppe eine Salve über sein Grab feuern würde.

Als der arme Junge sich hier im Fieber herumwarf, konnten ihn die Krankenwärter von Amelia phantasieren hören. Der Gedanke, sie nie wiederzusehen, verdüsterte seine lichten Stunden. Er glaubte, sein letzter Tag sei gekommen, und traf feierliche Vorbereitungen für das Scheiden. Er brachte seine Angelegenheiten in dieser Welt in Ordnung und hinterließ sein kleines Vermögen denjenigen, denen er am meisten wohlzutun wünschte. Der Freund, in dessen Haus er wohnte, beglaubigte das Testament. Er wollte mit einer kleinen Kette aus braunem Haar, die er um den Hals trug, begraben werden. Er hatte sie, um die Wahrheit zu sagen, von Amelias Zofe in Brüssel erhalten, als man der Witwe während des Fiebers, das sie nach George Osbornes Tod auf dem Plateau von Mont Saint-Jean niederstreckte, das Haar abgeschnitten hatte.

Er genas, erholte sich und hatte wieder einen Rückfall, nachdem er sich einer Prozedur von Aderlässen und Kalomel ausgeliefert hatte, die er nur wegen seiner starken Konstitution durchhalten konnte. Er war zum Skelett abgemagert, als man ihn an Bord des Ostindienfahrers »Ramchunder« brachte. Er stand unter dem Kommando von Kapitän Bragg, kam aus Kalkutta und legte in Madras an. Dobbin war so schwach, daß sein Freund, der ihn während der Krankheit gepflegt hatte, prophezeite, der ehrliche Major werde die Reise niemals überleben, sondern eines Morgens, in Fahne und Hängematte gehüllt, über Bord gehen und die Reliquie, die er auf dem Herren trug, mit in den Ozean hinabnehmen. Mochte es nun jedoch die Seeluft sein oder die neu erwachende Hoffnung – von dem Tage an, da das Schiff mit geblähten Segeln von der Reede abfuhr und gen Heimat steuerte, fing unser Freund an, sich zu erholen, und war vollkommen wiederhergestellt, wenn auch so mager wie ein Windhund, noch bevor sie das Kap der Guten Hoffnung erreichten. »Kirk wird diesmal noch um den Majorsrang gebracht werden«, sagte er lächelnd. »Er wird erwarten, seine Beförderung in der Zeitung zu lesen, wenn das Regiment nach Hause kommt.« Wir müssen nämlich vorausschicken, daß das tapfere ...te Regiment, das so viele Jahre im Ausland gewesen war, nach seiner Rückkehr von Westindien durch den Feldzug von Waterloo um seinen Englandaufenthalt gebracht worden war. Es war dann gleich von Flandern nach Indien beordert worden. Nun hatte es den Befehl zur Heimkehr bekommen, gerade als der Major krank in Madras lag, weil er sich so beeilt hatte, dorthin zu kommen. Er hätte also seine Kameraden begleiten können, hätte er ihre Ankunft in Madras abgewartet.

Vielleicht wollte er sich in seinem erschöpften Zustand nicht wieder unter die Obhut Glorvinas begeben. »Ich glaube, Miss O'Dowd hätte mich zur Strecke gebracht, wenn wir sie an Bord gehabt hätten«, sagte er lachend zu einem anderen Passagier. »Und sobald sie mich den Wellen übergeben hätte, hätte sie dich überfallen und als Beute nach Southampton gebracht, darauf kannst du dich verlassen, Joseph, mein Junge.«

Es war in der Tat kein anderer als unser dicker Freund, der sich ebenfalls als Passagier an Bord der »Ramchunder« befand. Er hatte zehn Jahre in Bengalen zugebracht. Die häufigen Diners, Gabelfrühstücke, das Bier und der Rotwein, die ungeheuren Arbeiten im Büro und der erfrischende Branntwein, zu dem man ihn dort gezwungen hatte, waren nicht spurlos an Waterloo-Sedley vorübergegangen. Eine Reise nach Europa wurde ihm jetzt dringend empfohlen, und da er seine Dienstzeit in Indien abgeleistet hatte und sein gutes Gehalt es ihm ermöglicht hatte, eine beträchtliche Summe beiseite zu legen, so konnte er jetzt nach eigenem Ermessen heimkehren und mit einer guten Pension in England leben oder zurückkehren und den Dienstrang einnehmen, der ihm seinem Dienstalter und seinen ungeheuren Talenten nach zukam.

Er war etwas magerer geworden, seit wir ihn zuletzt sahen, hatte dafür aber an Majestät und feierlicher Haltung gewonnen. Er hatte sich den Schnurrbart wieder wachsen lassen, zu dem ihn sein Dienst bei Waterloo berechtigte, und stolzierte, mit einer prächtigen goldbebänderten Samtmütze und vielen Nadeln und Juwelen geziert, auf Deck umher. Er nahm das Frühstück in seiner Kajüte ein und kleidete sich zu seinem Erscheinen auf dem Achterdeck so sorgfältig an, als ob er sich auf der Bond Street oder auf dem Corso in Kalkutta zeigen wollte. Er hatte einen Eingeborenen mit, der sein Kammerdiener und Pfeifenträger war und den Wappenhelm der Sedleys in Silber auf dem Turban trug. Dieser orientalische Bediente hatte unter Joseph Sedleys Tyrannei sehr zu leiden. Joseph war in bezug auf sein Äußeres eitel wie eine Frau und brauchte für seine Toilette ebensoviel Zeit wie eine verblühte Schönheit. Die jüngeren Passagiere, wie der junge Chaffers vom 150. Regiment und der arme kleine Ricketts, der nach seinem dritten Fieber nach Hause zurückkehrte, fragten Sedley bei Tisch aus und brachten ihn dazu, wunderbare Geschichten über sich selbst und seine Heldentaten im Kampf gegen Tiger und Napoleon zu erzählen. Er war großartig, als er das Kaisergrab in Longwood besuchte und diesen Herren und den jungen Schiffsoffizieren (Major Dobbin war nicht dabei) die ganze Schlacht bei Waterloo beschrieb und nicht undeutlich zu verstehen gab, daß Napoleon ohne ihn, Joseph Sedley, nie nach Sankt Helena gekommen wäre.

Nachdem sie Sankt Helena verlassen hatten, wurde er äußerst freigebig und verschenkte eine große Menge von seinen Schiffsvorräten, Rotwein, Fleischkonserven und großen Kisten mit Sodawasser, die er zu seinem Privatgenuß mitgenommen hatte. Es waren keine Damen an Bord, und der Major überließ dem Zivilisten den Vortritt, so daß er der würdigste Mann bei Tisch war und von Kapitän Bragg und den Offizieren der »Ramchunder« mit dem Respekt, der seinem Rang gebührte, behandelt wurde. Während eines zweitägigen Sturmes verschwand er in panischer Angst und ließ die Luken seiner Kajüte schließen. Er blieb in der Koje und las die »Apfelfrau von Finchley«, die Lady Emily Hornblower, Frau von Ehrwürden Silas Hornblower, auf der Reise nach dem Kap, wo ihr Mann Missionar war, im Schiff zurückgelassen hatte. Als alltägliche Lektüre hatte er sich jedoch einen Stapel von Romanen und Theaterstücken mitgenommen, die er den übrigen Passagieren lieh. Mit seiner Güte und Herablassung machte er sich bei allen angenehm.

So manche Nacht, während das Schiff den finsteren, brüllenden Ozean durchschnitt, wenn über ihnen Mond und Sterne leuchteten und die Glocke die Wache aussang, saß Mr. Sedley mit dem Major auf dem Achterdeck des Schiffes und plauderte von der Heimat. Der Major rauchte dabei seine Zigarre, und der Zivilist paffte die Wasserpfeife, die ihm sein Diener gestopft hatte.

Es war erstaunlich, mit welcher Ausdauer und Findigkeit Major Dobbin bei diesen Unterhaltungen das Gespräch immer wieder auf Amelia und ihren kleinen Jungen zu bringen wußte. Er besänftigte Joseph, der etwas mürrisch war wegen des Unglücks, das seinen Vater betroffen hatte, und wegen der Bittbriefe, die dieser geradewegs an ihn gerichtet hatte, und wies ihn auf das hohe Alter und das Unglück des älteren Sedley hin. Er würde vielleicht keine Lust haben, mit dem alten Paar zusammen zu wohnen, dessen Sitten und Lebensweise nicht zu der eines jungen Mannes passen würden, der an andere Gesellschaft gewöhnt sei (Joseph verbeugte sich bei diesem Kompliment). Der Major erklärte ihm jedoch, wie vorteilhaft es für ihn sein würde, ein eigenes Haus in London zu haben und nicht eine bloße Junggesellenwohnung wie früher. Seine Schwester Amelia sei doch die Richtige, dieses Haus zu leiten, sie sei elegant und sanft, sei gebildet und habe gute Manieren. Er erzählte Anekdoten von den Triumphen, die Mrs. George Osborne in früherer Zeit in Brüssel und in London gefeiert hatte, wo die Vornehmsten sie bewundert hatten. Er deutete sodann an, wie angemessen es für Joseph wäre, Georgy in eine gute Schule zu schicken und einen Mann aus ihm zu machen, denn seine Mutter und die Großeltern verwöhnten ihn sicherlich. Kurz, der schlaue Major nahm dem Zivilisten das Versprechen ab, sich um Amelia und ihr schutzloses Kind zu kümmern. Er wußte noch nicht, was sich alles in der kleinen Familie Sedley zugetragen hatte, daß der Tod die Mutter abberufen hatte und George der Mutter durch den Reichtum entrissen worden war. Sonst aber dachte der verliebte Major, der nicht mehr ganz jung war, täglich und stündlich an Mrs. Osborne, und er war von ganzem Herzen nur bestrebt, ihr Gutes zu erweisen. Er umschwärmte und umschmeichelte und lobte Joseph Sedley mit einer Ausdauer und Herzlichkeit, von der er wahrscheinlich selbst nichts ahnte. Männer, die unverheiratete Schwestern oder sogar Töchter haben, werden sich erinnern, wie ungewöhnlich nett die Herren zu den männlichen Verwandten sind, wenn sie den Frauen den Hof machen, und vielleicht heuchelte dieser Schurke Dobbin ähnlich.

Die Wahrheit sieht nämlich folgendermaßen aus: Major Dobbin wurde sehr krank an Bord der »Ramchunder« gebracht und konnte sich auch während der drei Tage, die das Schiff auf der Reede von Madras lag, nicht erholen. Auch das Erscheinen und Wiedererkennen seines alten Bekannten, Mr. Sedley, ermunterte ihn nicht sehr, bis die beiden eines Tages ein Gespräch hatten. Der Major lag matt auf dem Deck und sagte, er glaube, sterben zu müssen. Er habe seinem Patenjungen im Testament eine Kleinigkeit vermacht und hoffe, Mrs. Osborne werde ihn in freundlicher Erinnerung behalten und in der Ehe, die sie eingehen wolle, glücklich sein. »Heiraten? Gewiß nicht!« entgegnete Joseph. Sie habe ihm geschrieben, aber von einer Heirat habe sie nichts erwähnt. Übrigens sei es ganz drollig, daß sie von Major Dobbins Heirat geschrieben habe und hoffe, er werde glücklich werden. Welches Datum trugen Sedleys Briefe aus Europa? Der Zivilist holte sie herbei. Sie waren zwei Monate später abgeschickt als die des Majors. Der Schiffsarzt gratulierte sich zu der Behandlung, die er bei seinem neuen Patienten angewendet hatte. Der Mediziner in Madras hatte ihn nämlich mit sehr schwachen Hoffnungen auf das Schiff geliefert, und von dem Tag an, gerade dem Tag, als er die Arznei gewechselt hatte, genas Major Dobbin. So kam es, daß der verdienstvolle Offizier Hauptmann Kirk um den Majorsrang gebracht wurde.

Nachdem sie Sankt Helena passiert hatten, war Major Dobbin so munter und kräftig geworden, daß er alle seine Mitpassagiere in Erstaunen setzte. Er tollte mit den Seekadetten herum, veranstaltete Stockfechten mit den Offizieren, kletterte auf die Masten wie ein Schiffsjunge, sang eines Abends ein komisches Lied zur Belustigung der ganzen Gesellschaft, die nach dem Abendessen beim Grog zusammensaß, und war so munter, lebhaft und liebenswürdig, daß selbst Kapitän Bragg, der anfangs geglaubt hatte, es sei nichts los mit seinem Passagier, und ihn für einen geistesarmen Kerl hielt, gestehen mußte, daß der Major ein zurückhaltender, aber kluger und verdienstvoller Offizier sei. »Er hat keine sehr vornehmen Manieren, verdammt!« bemerkte Bragg zu seinem Ersten Offizier. »In das Haus des Gouverneurs würde er nicht hineinpassen, wo doch der Lord und Lady William so freundlich gegen mich waren und mir vor der ganzen Gesellschaft die Hand schüttelten und wo er mich bei Tisch noch vor dem Oberbefehlshaber zum Biertrinken aufforderte. Ja, gute Manieren hat er nicht, aber es ist so etwas Gewisses an ihm...« Mit dieser Meinung bewies Kapitän Bragg, daß er Einsicht als Mensch und auch Fähigkeiten als Kommandeur besaß.

Als aber die »Ramchunder« zehn Tagereisen von England entfernt war, trat Windstille ein, und nun wurde Major Dobbin ungeduldig und übellaunig, zur Überraschung derer, die früher seine Lebhaftigkeit und Gutmütigkeit bewundert hatten. Das änderte sich erst, als sich der Wind wieder erhob; und als der Lotse an Bord kam, war er sehr erregt. Guter Gott! Wie klopfte ihm das Herz, als sich die beiden freundlichen Türme von Southampton am Horizont zeigten!


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