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50. Kapitel

Enthält einen gewöhnlichen Vorfall

Welche Muse es auch sein mag, die die Oberaufsicht über unsere Komödie hat, so muß sie doch jetzt von den vornehmen Höhen, zu denen sie sich aufgeschwungen hatte, herabsteigen und sich gütigst auf dem bescheidenen Dach von John Sedley in Brompton niederlassen und beschreiben, was sich dort ereignet. Auch hier, in dieser niedrigen Wohnung, gibt es Sorgen, Mißtrauen und Kummer. Mrs. Clapp in der Küche brummt insgeheim ihrem Mann etwas vor wegen der Miete und drängt: den braven Burschen, sich gegen seinen alten Freund und Gönner und gegenwärtigen Mieter aufzulehnen. Mrs. Sedley hat jetzt aufgehört, ihre Hauswirtin in den unteren Regionen zu besuchen, und ist nun allerdings auch nicht mehr in der Lage, Mrs. Clapp mit Gönnermiene gegenüberzutreten. Wie kann man eine Dame herablassend behandeln, der man vierzig Pfund schuldet und die beständig auf das Geld anspielt? Das irische Dienstmädchen hat ihr freundliches, achtungsvolles Benehmen nicht im geringsten geändert, aber Mrs. Sedley bildet sich ein, sie sei unverschämt und undankbar geworden, und wie der schuldbewußte Dieb hinter jedem Gebüsch einen Schutzmann argwöhnt, so sieht sie in allen Reden und Antworten des jungen Mädchens drohende Andeutungen. Miss Clapp, die nun bereits eine junge Dame geworden ist, erklärt die versauerte alte Dame für eine unerträgliche, unverschämte kleine Dirne. Mrs. Sedley kann nicht begreifen, wieso Amelia sie gern hat, sie oft auf ihr Zimmer kommen läßt und häufig mit ihr ausgeht. Die bittere Armut hat das Leben der einst so fröhlichen, gütigen Frau vergiftet. Sie ist undankbar gegen Amelias stets gleichbleibende Güte ihr gegenüber, sie bemängelt ihre Bemühungen, freundlich und dienstbar zu sein, verhöhnt sie wegen ihres einfältigen Stolzes auf ihr Kind und jammert darüber, wie sie die Eltern vernachlässigt. In Georgys Heim geht es nicht sehr lebhaft zu, seit Onkel Joseph die Jahresrente zurückgezogen hat, und die kleine Familie lebt fast von Hungerrationen.

Amelia denkt und denkt und zerbricht sich den Kopf, um einen Weg zu finden, wie sie die geringen Mittel, bei denen die Familie langsam verhungert, aufbessern kann. Soll sie irgend etwas unterrichten, Briefständer bemalen, feine Handarbeiten machen? Sie merkt, daß Frauen schwer und besser als sie für zwei Pence pro Tag arbeiten müssen. Sie kauft zwei vergoldete Pappen beim Schreibwarenhändler und bemalt sie, so gut sie kann. Auf der einen entsteht inmitten einer Bleistiftlandschaft ein lächelnder Schäfer mit roter Weste und rosa Gesicht, auf der anderen eine Schäferin, die mit einem Hündchen neben sich eine kleine Brücke überschreitet. Der Mann vom Schreibwarenladen und Bromptoner Magazin der schönen Künste, von dem sie die Pappen gekauft hat, in der eitlen Hoffnung, er würde sie zurückkaufen, wenn sie von ihrer Hand verziert worden wären, kann kaum ein Hohnlächeln verbergen, als er diese schwachen Kunstwerke besichtigt. Er blickt die Dame, die im Laden wartet, von der Seite an, packt die Bilder wieder in den braunweißen Papierumschlag und gibt sie der armen Witwe und Miss Clapp zurück. Diese junge Dame hat in ihrem ganzen Leben noch nichts so Schönes gesehen und hatte gehofft, daß der Mann mindestens zwei Guineen dafür zahlen würde. Sie versuchten ihr Heil in anderen Läden in der Stadt, aber ihre Hoffnungen sanken immer mehr. »Ich brauche sie nicht«, sagte einer. »Hinaus!« sagte ein anderer böse. Drei Shilling und sechs Pence sind umsonst ausgegeben. Die Bilder kommen in Miss Clapps Schlafzimmer, und sie findet sie immer noch sehr schön.

Amelia schreibt in ihrer schönsten Handschrift nach langem Nachdenken und vielen stilistischen Bemühungen eine kleine Karte, auf der dem Publikum kundgetan wird, daß »eine Dame, die über einige Freizeit verfügt, die Erziehung kleiner Mädchen zu übernehmen wünscht, wobei sie in der englischen und französischen Sprache, in Geographie, Geschichte und Musik unterrichten könnte. Zuschriften unter A. O. an Mr. Brown.« Die Karte vertraut sie dem Herrn in dem Magazin der schönen Künste an, der sich bereit erklärt, sie auf den Ladentisch zu legen. Dort vergilbt sie, und Fliegen beschmutzen sie. Amelia geht oft sehnsüchtig an der Tür vorüber, in der Hoffnung, daß Mr. Brown Nachrichten für sie hat, aber er winkt sie nie herein. Wenn sie hingeht, um kleine Einkäufe zu machen, so ist niemals eine Nachricht für sie da. Arme, einfache, kleine Frau – wie kannst du, so zart und schwach du bist, den Kampf mit der kämpfenden rohen Welt wagen?

Sie wird täglich zermürbter und trauriger und richtet ängstliche Blicke auf ihr Kind, deren Bedeutung der kleine Knabe nicht zu enträtseln vermag. Nachts schreckt sie auf und blickt heimlich in sein Zimmer, um zu sehen, ob er schläft und nicht etwa geraubt ist. Sie schläft jetzt nur wenig. Ein schrecklicher Gedanke verfolgt sie ununterbrochen. Wie sie in den langen stillen Nächten weint und betet! Wie sie den ständig wiederkehrenden Gedanken vor sich selbst zu verbergen sucht, den Gedanken, daß es besser wäre, sich von dem Knaben zu trennen, da sie die einzige Schranke zwischen ihm und dem Glück ist! Sie kann nicht, wenigstens nicht jetzt. Ein anderes Mal. Oh, es ist zu schwer, diesen Gedanken zu ertragen.

Eine Idee kommt ihr, die sie erröten macht und von der sie sich abwendet. Ihre Eltern könnten die Rente behalten, wenn der Vikar sie heiraten und ihr und dem Knaben ein Heim geben würde. Aber Georges Bild und das teure Andenken an ihn machen ihr Vorwürfe. Scham und Liebe sagen nein zu diesem Opfer. Sie weicht zurück wie vor etwas Unheiligem, und solche Gedanken finden in dem reinen, sanften Herzen keine Heimstatt.

Der Kampf in Amelias Innern, den wir hier mit so wenigen Worten geschildert haben, dauerte mehrere Wochen. Während dieser Zeit hatte sie keine Vertraute und konnte auch keine haben, da sie sich selbst die Möglichkeit des Nachgebens nicht eingestehen wollte, obgleich sie täglich weiter vor ihrem Feinde zurückwich. Eine Wahrheit nach der anderen zog schweigend gegen sie auf und hielt ihre Stellung. Armut und Elend aller, Bedürfnisse und Erniedrigung der Eltern, Ungerechtigkeit gegenüber dem Knaben, eins nach dem anderen fielen die Außenwerke der kleinen Zitadelle, in der die arme Seele leidenschaftlich ihre Liebe und ihren einzigen Schatz hütete.

Zu Anfang des Kampfes hatte sie einen Brief voll zärtlicher Bitten an ihren Bruder nach Kalkutta geschrieben und ihn angefleht, den Eltern nicht die letzte Stütze zu entziehen. In schlichten Worten schilderte sie ihre einsame, unglückliche Lage. Sie wußte ja nicht, wie sich die Sache wirklich verhielt. Joseph zahlte die jährliche Unterstützung nach wie vor regelmäßig, aber ein Geldverleiher in der City erhielt sie. An ihn hatte der alte Sedley sie für eine Summe Geldes verkauft, damit er seine unsinnigen Pläne weiterverfolgen konnte. Emmy rechnete sich eifrig die Zeit aus, die vergehen würde, bis der Brief ankäme und Antwort erfolgen könnte. Sie hatte sich den Tag, an dem sie ihn abgeschickt hatte, in ihrem Notizbuch vermerkt. Dem Vormund ihres Sohnes, dem guten Major in Madras, hatte sie von ihren Kümmernissen und Verlegenheiten nichts mitgeteilt. Seitdem sie ihm zu seiner bevorstehenden Heirat gratuliert hatte, hatte sie ihm nicht wieder geschrieben, und niedergeschlagen dachte sie daran, daß auch dieser Freund, der einzige, der sie je geschätzt hatte, von ihr abgefallen war.

Eines Tages, als die Sachen wieder einmal sehr schlecht standen  – die Gläubiger drängten, die Mutter wurde hysterisch vor Kummer, der Vater war düsterer als gewöhnlich, die Familienmitglieder mieden einander, und jeder war insgeheim von seinem eigenen Unglück bedrückt und meinte, daß ihm Unrecht geschehen sei –, trafen sich Vater und Tochter zufällig einmal allein, und Amelia dachte, sie könne ihren Vater trösten, wenn sie ihm erzählte, was sie getan hatte. Sie habe an Joseph geschrieben – in drei bis vier Monaten müßte die Antwort dasein. Er sei doch stets großmütig gewesen, wenn auch ein wenig unbekümmert, er könne nicht abschlagen, wenn er wüßte, in welchen bedrängten Umständen seine Eltern lebten.

Da enthüllte ihr der arme alte Herr die volle Wahrheit: daß sein Sohn die Rente immer noch zahle, daß aber seine eigne Unklugheit sie verschleudert habe. Er habe nicht gewagt, es ihr früher zu sagen. Als er mit zitternder, leiser Stimme dieses Bekenntnis ablegte, glaubte er in Amelias verstörtem, entsetztem Blick Vorwürfe darüber zu lesen, daß er es so lange geheimgehalten hatte. »Ach«, sagte er und wandte sich mit zitternden Lippen ab, »jetzt verachtest du deinen alten Vater.«

»O Papa, das ist es nicht«, rief Amelia, fiel ihm um den Hals und küßte ihn viele Male, »du bist stets gut und freundlich gewesen. Du wolltest ja nur das Beste. Es ist nicht wegen des Geldes – es ist... O mein Gott, mein Gott! Erbarme dich meiner und gib mir Kraft, diese Prüfung zu ertragen!« Sie küßte ihn nochmals heftig und eilte fort.

Der Vater wußte nicht, was diese Erklärung und der Schmerzensausbruch, mit dem die arme Frau ihn verlassen hatte, bedeuten sollte. Nun war sie besiegt. Das Urteil war gesprochen. Das Kind mußte von ihr fort – zu anderen – und sie vergessen. Ihr größter Schatz, ihre Freude, Hoffnung, Liebe, Anbetung, fast ihr Gott – sie mußte ihn aufgeben, und dann – dann würde sie zu George gehen, und sie beide würden über dem Kinde wachen und darauf warten, daß es zu ihnen in den Himmel käme.

Ohne zu wissen, was sie tat, setzte sie den Hut auf und schritt den Weg entlang, auf dem George gewöhnlich aus der Schule kam und wo sie dem Knaben meist entgegenging. Es war im Mai, an einem halben Feiertag. Die Bäume entfalteten ihre Blätter, das Wetter war herrlich. Rotbackig und gesund, lief ihr der Knabe singend, das Bücherbündel an einem Riemen über dem Rücken, entgegen. Da war er. Mit beiden Armen umschlang sie ihn. Nein, es war unmöglich. Sie konnte sich nicht von ihm trennen. »Was ist los, Mutter?« fragte er. »Du siehst so blaß aus.«

»Nichts, mein Kind«, entgegnete sie. Sie beugte sich herab und küßte ihn.

An diesem Abend ließ sich Amelia von dem Knaben die Geschichte Samuels vorlesen, wie ihn seine Mutter Hanna, nachdem sie ihn entwöhnt hatte, zu dem Hohenpriester Eli brachte, damit er dort dem Herrn diene. Und er las Hannas Lobgesang, worin es heißt: »Der Herr machet arm und machet reich; er erniedriget und erhöhet; er hebet auf den Dürftigen aus dem Staube.« Dann las er, wie Samuels Mutter ihm einen kleinen Rock machte und »ihn ihm hinaufbrachte, zu seiner Zeit, wenn sie hinaufging zu opfern die Opfer seiner Zeit«. Und dann erklärte Georges Mutter in ihrer lieblichen, einfachen Art dem Knaben diese rührende Geschichte. Wie Hanna, obgleich sie ihren Sohn sehr liebte, sich wegen ihres Gelübdes doch von ihm getrennt habe und wie sie stets an ihn gedacht haben müsse, wenn sie weit von ihm entfernt zu Hause saß und an dem kleinen Rock nähte, und wie Samuel seine Mutter sicherlich nie vergessen habe, und wie glücklich sie gewesen sein müsse, als die Zeit herankam (und die Jahre vergehen sehr geschwind), da sie ihn wiedergesehen habe und feststellen konnte, wie gut und weise er geworden war. Diese kleine Predigt hielt sie mit sanfter, feierlicher Stimme und trockenen Augen, bis sie zu der Stelle der Wiederbegegnung kam. Da brach sie plötzlich ab, ihr zärtliches Herz strömte über, sie drückte den Knaben an sich, wiegte ihn hin und her und weinte schweigend ihren heiligen Schmerz über ihm aus.

Sobald die Witwe ihren Beschluß gefaßt hatte, begann sie Maßnahmen zu ergreifen, die ihr für den beabsichtigten Zweck am erfolgversprechendsten schienen. Eines Tages erhielt Miss Osborne am Russell Square (Amelia hatte zehn Jahre lang weder den Namen noch die Nummer des Hauses niedergeschrieben, und als sie jetzt die Adresse malte, stieg ihre Jugend, ihre eigene Geschichte wieder in ihr auf) – eines Tages also erhielt Miss Osborne einen Brief von Amelia, der sie heftig erröten ließ. Sie blickte ihren Vater an, der düster auf seinem Platz am anderen Ende des Tisches saß.

Amelia schilderte in einfachen Worten die Gründe, die sie bewogen hatten, bezüglich ihres Sohnes ihren Sinn zu ändern. Ihr Vater habe erneut Unglück gehabt und sei nun völlig ruiniert. Ihr eigenes kleines Einkommen sei so gering, daß es ihr kaum ermögliche, ihre Eltern zu unterhalten, und es würde nicht ausreichen, George die Vorteile zu bieten, die ihm gebührten. So groß auch ihr Schmerz bei der Trennung sein würde, so wolle sie ihn doch mit Gottes Hilfe um des Knaben willen ertragen. Sie wüßte, daß die, zu denen er ging, alles in ihren Kräften Stehende tun würden, um ihn glücklich zu machen. Sie beschrieb seinen Charakter, wie sie ihn sah: ungeduldig und ungehorsam gegen Zwang und Härte, aber leicht zu lenken mit Liebe und Freundlichkeit. In einer Nachschrift erbat sie sich eine schriftliche Zusage, das Kind, sooft sie es wünsche, sehen zu dürfen – sie könne sich unter keiner anderen Bedingung von ihm trennen.

»Wie? Ist Mrs. Hochnäsig endlich zur Vernunft gekommen?« meinte der alte Osborne, als ihm seine Tochter mit zitternder Stimme hastig den Brief vorlas. – »Regelrecht ausgehungert, haha! Ich wußte, daß sie es tun würde.« Er versuchte, Haltung zu bewahren und seine Zeitungen wie gewöhnlich zu lesen, aber er war nicht bei der Sache. Hinter dem Blatt lachte und fluchte er in sich hinein.

Endlich warf er die Zeitung hin, blickte seine Tochter wie gewöhnlich finster an und ging in sein anstoßendes Studierzimmer. Bald kehrte er mit einem Schlüssel zurück und warf ihn Miss Osborne zu.

»Richte das Zimmer über meinem – sein ehemaliges – her«, befahl er. »Ja«, erwiderte die Tochter zitternd. Es war Georges Zimmer. Seit mehr als zehn Jahren war es nicht geöffnet worden: Ein Teil seiner Kleider, Papiere, Taschentücher, Peitschen und Mützen, Angelruten und Sportgeräte befanden sich noch darin. Eine Armeeliste von 1814 mit seinem Namen auf dem Umschlag, ein kleines Wörterbuch, das er beim Schreiben benutzt hatte, und die Bibel, die ihm seine Mutter geschenkt hatte, standen auf dem Kaminsims neben einem Paar Sporen und einem ausgetrockneten Tintenfaß, bedeckt mit dem Staub von zehn Jahren. Oh, wie viele Tage und Leute sind dahingegangen, seit der Zeit, da diese Tinte noch naß war! Der Schreibblock auf dem Tisch trug noch seine Handschrift.

Miss Osborne war sehr bewegt, als sie zum ersten Male mit den Dienstboten dieses Zimmer betrat. Blaß sank sie auf das kleine Bett nieder. »Dies ist eine gute Nachricht, Fräulein – wirklich, Fräulein«, sagte die Haushälterin, »und die gute alte Zeit kehrt zurück, Fräulein. Der liebe kleine Bursche – ach, Fräulein, wie glücklich er sein wird. Gewisse Leute in Mayfair, Fräulein, werden aber einen Groll gegen ihn haben, Fräulein.« Und hiermit stieß sie den Riegel zurück, der das Schiebefenster hielt, und ließ frische Luft in das Zimmer.

»Du solltest am besten der Frau etwas Geld schicken«, sagte Mr. Osborne, ehe er ausging. »Sie soll keinen Mangel leiden. Schicke ihr hundert Pfund.«

»Und morgen besuche ich sie, ja?« fragte Miss Osborne.

»Das ist deine Sache. Aber denk daran, hierher kommt sie mir nicht. Nein, Zum Teufel, nicht um alles Geld in London. Aber Mangel soll sie nicht leiden. Mach also, und bring die Sache in Ordnung.« Mit diesen kurzen Worten nahm Mr. Osborne von seiner Tochter Abschied und trat den gewohnten Weg in die City an.

»Hier, Papa, ist etwas Geld«, sagte Amelia an jenem Abend zu ihrem Vater, küßte den alten Mann und drückte ihm einen Wechsel über hundert Pfund in seine Hand. »Und – und Mama, sei nicht hart gegen Georgy. Er – er wird nicht mehr lange bei uns bleiben.« Sie konnte nichts weiter sagen und ging schweigend in ihr Zimmer. Schließen wir die Tür hinter ihren Gebeten und ihrem Kummer. Ich glaube, wir tun gut daran, von soviel Liebe und Schmerz wenig zu sagen.

Am nächsten Tag besuchte Miss Osborne Amelia, wie sie es in ihrem Brief versprochen hatte. Die Begegnung verlief freundlich. Ein Blick und ein paar Worte von Miss Osborne zeigten der armen Witwe, daß sie zumindest wegen dieser Frau nicht um den ersten Platz im Herzen ihres Sohnes zu fürchten brauchte. Sie war kühl, vernünftig und nicht unfreundlich. Vielleicht wäre der Mutter weniger lieb gewesen, hätte sie ihre Rivalin hübscher, jünger, liebevoller und warmherziger gefunden. Miss Osborne dagegen dachte an alte Zeiten und war gerührt über die traurige Lage der armen Mutter. Sie war besiegt, streckte gewissermaßen die Waffen und ergab sich. An diesem Tag legten sie gemeinsam die Präliminarien des Kapitulationsvertrages fest.

George durfte am nächsten Tag nicht zur Schule gehen und sah seine Tante. Amelia ließ die beiden allein und begab sich auf ihr Zimmer. Sie erprobte die Trennung – wie die arme sanfte Lady Jane Grey, die die Schneide des Beiles befühlte, das herabfallen und ihr zartes Leben beenden sollte. Mehrere Tage vergingen unter Besprechungen, Besuchen und Vorbereitungen. Die Witwe brachte Georgy die Sache äußerst vorsichtig bei; sie hatte erwartet, daß ihn die Nachricht sehr betrüben würde, er war jedoch eher erfreut darüber, und die arme Frau wandte sich traurig ab. Er prahlte an jenem Tage gegenüber den Schulkameraden mit der Nachricht, erzählte ihnen, daß er jetzt bei .seinem Großvater leben sollte. Nicht bei dem, der zuweilen herkam, sondern beim Vater seines Vaters, und daß er sehr reich sein und einen Ponywagen halten und in eine viel feinere Schule kommen werde, und wenn er erst reich wäre, dann könne er Leaders Federkästchen kaufen und bei der Kuchenfrau bezahlen. Der Knabe war das Ebenbild des Vaters, wie seine zärtliche Mutter dachte.

Um unserer lieben Amelia willen habe ich wirklich nicht das Herz, Georges letzte Tage zu Hause zu beschreiben.

Endlich kam der Tag, der Wagen fuhr vor, die kleinen bescheidenen Päckchen mit Zeichen der Liebe und Andenken lagen schon im Hausflur bereit. George trug seinen neuen Anzug, zu dem ihm der Schneider vorher noch Maß genommen hatte. Bei Sonnenaufgang war er aus dem Bett gesprungen und hatte die neuen Kleider angezogen. Das alles hörte seine Mutter im Nebenzimmer, wo sie in stummem Schmerz die Nacht durchwacht hatte. Tage zuvor schon hatte sie Vorbereitungen getroffen, nützliche Kleinigkeiten für den Knaben gekauft, seine Bücher und Wäsche mit seinem Namen versehen, mit ihm gesprochen und ihn auf die Veränderung vorbereitet – in dem zärtlichen Wahn, daß er der Vorbereitung bedürfe.

Was machte er sich schon daraus, wenn es nur eine Veränderung gab! Er konnte es kaum erwarten. Mit tausend eifrigen Plänen, was er alles tun würde, wenn er erst bei seinem Großvater wohnte, hatte er der armen Witwe gezeigt, wie wenig ihn die Trennung bedrückte. Er wolle oft mit dem Pony kommen, um seine Mama zu besuchen, sagte er; er würde sie mit dem Wagen abholen, und dann könnten sie im Park spazierenfahren, und sie solle alles haben, was sie brauche. Die arme Mutter mußte sich mit diesen selbstsüchtigen Zeichen der Zuneigung zufriedengeben und versuchte sich einzureden, daß ihr Sohn sie aufrichtig liebe. Er mußte sie doch lieben. Alle Kinder waren so: ein wenig begierig auf Neues und – nein, nicht selbstsüchtig, nur eigenwillig. Ihr Kind sollte seinen Spaß und seinen Ehrgeiz in der Welt haben. Sie selbst mit ihrer selbstsüchtigen, törichten Liebe hatte ihm bisher sein Recht auf Freude verwehrt.

Ich kenne kaum etwas Rührenderes als die ängstliche Erniedrigung und Demütigung einer Frau, wenn sie gesteht, daß sie und nicht der Mann die Schuld trägt, wenn sie alle Fehler auf sich nimmt, wenn sie gewissermaßen Bestrafung fordert für ein Unrecht, das sie nicht begangen hat, und wenn sie darauf besteht, den wahren Schuldigen zu schützen! Frauen lieben die, die ihnen Unrecht zufügen, am meisten. Sie sind von Natur aus furchtsam, aber tyrannisch und mißhandeln die, die sich vor ihnen demütigen.

Die arme Amelia hatte sich also in stillem Kummer für das Scheiden ihres Sohnes gewappnet und manche lange einsame Stunde damit zugebracht. George stand neben seiner Mutter und beobachtete ihre Vorbereitungen ohne die mindeste Anteilnahme. Tränen waren in seine Schachteln gefallen. In seinen Lieblingsbüchern hatte sie Stellen angestrichen. Alte Spielsachen, Andenken und Schätze hatte sie für ihn zusammengelegt und außerordentlich nett und sorgfältig zusammengepackt, aber von alledem nahm der Knabe keine Notiz. Das Kind geht lächelnd fort, während das Herz der Mutter bricht. Beim Himmel, wie bemitleidenswert ist auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit die sinnlose Liebe der Frauen zu den Kindern.

Einige Tage sind vergangen, und das große Ereignis in Amelias Leben ist vorüber. Kein Engel hat eingegriffen. Das Kind ist dem Schicksal geopfert worden, und die Witwe ist ganz allein.

Gewiß, der Knabe besucht sie oft. In Begleitung des Kutschers reitet er auf einem Pony, zum Entzücken seines alten Großvaters Sedley, der stolz an seiner Seite die Gasse hinabgeht. Sie sieht ihn, aber er ist nicht mehr ihr kleiner Junge. Ja, er reitet auch in die kleine Schule, um die Knaben dort zu besuchen und vor ihnen mit seinem neuen Reichtum und Glanz zu prahlen. Innerhalb von zwei Tagen hat er eine Herrschermiene und ein gönnerhaftes Wesen angenommen. Er ist zum Befehlen geboren, denkt seine Mutter, wie sein Vater.

Das Wetter ist jetzt sehr schön. An den Abenden, wenn er nicht kommt, unternimmt sie lange Spaziergänge nach London – ja, bis zum Russell Square sogar. Dort ruht sie sich auf der Steineinfassung am Gartenzaun gegenüber von Mr. Osbornes Haus aus. Es ist angenehm und kühl hier. Sie kann die erleuchteten Salonfenster sehen und gegen neun Uhr das Zimmer im oberen Stock, wo Georgy schläft. Das weiß sie – er hat es ihr erzählt. Sie betet, wenn das Licht verlöscht, betet mit demütigem, ergebenem Herzen und geht gebeugt und stumm wieder nach Hause. Sie ist sehr müde, wenn sie heimkommt. Vielleicht schläft sie nach diesem langen, anstrengenden Gang um so besser, und vielleicht träumt sie von Georgy.

Eines Sonntags spazierte sie am Russell Square in einiger Entfernung von Mr. Osbornes Hause (sie konnte es ja auch aus der Ferne beobachten). Gerade begannen die Sonntagsglocken zu läuten, und George und seine Tante kamen heraus, um in die Kirche zu gehen. Da bat ein kleiner Straßenkehrerjunge um ein Almosen, und der Bediente, der die Gebetbücher trug, versuchte ihn wegzutreiben, aber Georgy blieb stehen und gab ihm Geld. Gottes Segen über den Knaben! Emmy lief rund um den Platz, und als sie den Straßenfeger erreicht hatte, gab sie ihm auch ihr Scherflein. Alle Sonntagsglocken läuteten, und sie folgte ihnen, bis sie zur Findelhauskirche kam. Sie ging hinein und setzte sich so, daß sie den Kopf des Knaben unter der Gedenktafel seines Vaters erblicken konnte. Viele hundert frische Kinderstimmen erhoben sich und sangen dem allgütigen Vater Dankeshymnen, und die Seele des kleinen George zitterte vor Entzücken über den herrlichen Psalm. Seine Mutter konnte ihn eine Weile durch den Schleier, der ihren Blick trübte, nicht sehen.


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