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35. Kapitel

Witwe und Mutter

Die Nachricht von den Schlachten von Quatre-Bras und Waterloo kam zu gleicher Zeit nach England. Die »Gazette« veröffentlichte zuerst das Ergebnis der beiden Schlachten, und ganz England bebte in Triumph und Furcht. Später folgten dann Einzelheiten, und nach der Verkündigung der Siege kam die Liste mit den Verwundeten und Gefallenen. Wer kann die Angst beschreiben, mit der dieses Verzeichnis gelesen wurde! Man stelle sich vor, welche Gefühle von Begeisterung und Dankbarkeit, von Schmerz und Verzweiflung in fast allen Dörfern und Häusern herrschten, als die Siegesbotschaft aus Flandern kam und man die Verlustlisten der Regimenter durchging und erfuhr, ob der teure Freund und Verwandte davongekommen oder gefallen war. Jeder, der sich die Mühe machen will, die damaligen Zeitungen noch einmal durchzugehen, muß selbst jetzt, nach so langer Zeit, dieses atemlose Gefühl der Erwartung haben. Die Verlustliste wird täglich weitergeführt, man unterbricht mittendrin, wie bei einer Erzählung, deren Fortsetzung in der nächsten Nummer erscheint. Man male sich die Gefühle aus, wenn die Zeitungen frisch aus der Druckerpresse einander folgten; und wenn man in England wegen einer Schlacht, in der nur zwanzigtausend unserer Leute kämpften, so außer sich kommen konnte, so halte man sich vor Augen, in welcher Lage sich ganz Europa vor zwanzig Jahren befand, als die Menschen nicht zu Tausenden, sondern zu Millionen kämpften. Jeder, der einen Feind niederstreckte, verwundete ein anderes, unschuldiges Herz in der Ferne furchtbar.

Die Nachricht, die jene berühmte »Gazette« den Osbornes brachte, versetzte der ganzen Familie und ihrem Oberhaupt einen schrecklichen Schlag. Die Mädchen gaben sich rückhaltlos ihrem Schmerz hin. Den gramgebeugten alten Vater machten das Schicksal und der Kummer noch niedergeschlagener. Er bemühte sich, zu denken, daß der Junge für seinen Ungehorsam gestraft worden sei. Er wagte es nicht, zu gestehen, daß ihn die Strenge des Urteils erschreckte und daß sich sein Fluch zu schnell erfüllt hatte. Zuweilen schauderte er vor Entsetzen, als ob er der Urheber des Verhängnisses sei, das er auf seinen Sohn herabbeschworen hatte. Früher hatten wenigstens noch Möglichkeiten zur Aussöhnung bestanden. Die Frau des Jungen hätte sterben oder dieser selbst zurückkommen und sagen können: »Vater, ich habe gesündigt.« Jetzt aber gab es keine Hoffnung mehr. Er stand auf der anderen Seite des unüberwindlichen Abgrundes und verfolgte seinen Vater mit trüben Augen. Dieser erinnerte sich des gleichen Blickes, als sein Sohn einmal im Fieber gelegen hatte und jedermann dachte, daß der Junge sterben würde. Er lag damals stumm im Bett und starrte düster vor sich hin. Guter Gott, wie der Vater sich damals an den Arzt klammerte und mit welch verzweifelter Angst er ihm überallhin gefolgt war; was für eine Last war ihm vom Herzen gefallen, als der Junge die Krisis überwunden hatte und seinen Vater mit erkennenden Augen ansah! Jetzt aber gab es weder Hilfe noch Heilung, noch eine Aussicht auf Versöhnung; vor allem aber keine demütigen Worte, um die wütende gekränkte Eitelkeit zu besänftigen und das vergiftete zornige Blut wieder in seinen natürlichen Fluß zu bringen. Es läßt sich schwer sagen, welcher Schmerz das Herz des stolzen Vaters am meisten zerriß – daß sein Sohn sich jetzt außer Reichweite seiner Verzeihung befand oder daß ihm die Entschuldigung, die sein Stolz erwartet hatte, entgangen war.

Welche Empfindungen der finstere alte Mann auch hegen mochte – er vertraute sich niemandem an. Niemals erwähnte er des Sohnes Namen gegenüber seinen Töchtern; der älteren gab er den Befehl, alle weiblichen Mitglieder des Hauses in Trauer zu kleiden, und den männlichen Dienstboten befahl er, sich ebenfalls in tiefes Schwarz zu kleiden. Alle Gesellschaften und Vergnügungen wurden natürlich abgesagt. Seinem zukünftigen Schwiegersohn, dessen Hochzeitstag schon festgesetzt worden war, machte er keine Mitteilung. Aber in Mr. Osbornes Miene lag etwas, was Mr. Bullock hinderte, Fragen zu stellen oder irgendwie auf die Heirat zu drängen. Er flüsterte zuweilen mit den Damen darüber im Salon, wohin der Vater nie kam. Er hielt sich ständig in seinem Studierzimmer auf, und das Vorderhaus blieb über die normale Trauerzeit hinaus geschlossen.

Etwa drei Wochen nach dem 18. Juni erschien ein Bekannter von Mr. Osborne, Sir William Dobbin, mit sehr blassem und verstörtem Gesicht in Osbornes Haus am Russell Square und bestand darauf, den Herrn sprechen zu müssen. Man führte ihn in das Zimmer des Alten, und nach einigen Worten, die weder der Sprecher noch der Hausherr verstanden, holte er einen Brief mit großem rotem Siegel aus einem Umschlag hervor. »Mein Sohn, Major Dobbin«, sagte der Alderman etwas zögernd, »hat mir durch einen Offizier vom ...ten Regiment, der heute in der Stadt ankam, einen Brief geschickt. Meines Sohnes Brief enthält auch einen für Sie, Osborne.« Der Alderman legte den Brief auf den Tisch, und Osborne starrte den alten Herrn ein paar Sekunden schweigend an. Seine Blicke erschreckten den Abgesandten, und nachdem er den gramgebeugten Mann eine Weile schuldbewußt angesehen hatte, eilte er ohne ein weiteres Wort hinaus.

Der Brief war in Georges wohlbekannter kühner Handschrift verfaßt. Es war der, den er vor Tagesanbruch des 16. Juni kurz vor dem Abschied von Amelia geschrieben hatte. Das große rote Siegel zeigte das angemaßte Wappen mit dem Motto »Pax in bello«, das Osborne aus dem Adelskalender entnommen hatte und das dem Herzoghaus gehörte, dem verwandt zu sein der eitle alte Mann sich vergeblich einzureden suchte. Die Hand, die den Brief unterschrieben hatte, würde niemals wieder Feder oder Schwert führen. Das Petschaft, womit er gesiegelt war, hatte man Georges Leichnam auf dem Schlachtfeld geraubt. Der Vater wußte nichts davon, sondern saß da und starrte mit entsetzlicher Leere darauf. Als er ging, um ihn zu öffnen, fiel er beinahe hin.

Hattest du je einen Streit mit einem teuren Freund? Wie dich seine Briefe aus der Zeit der Liebe und des Vertrauens abschrecken und tadeln! Was für eine düstere Trauer rufen dir die feurigen Beteuerungen toter Zuneigung hervor! Was für eine lügnerische Grabinschrift über der Leiche der Liebe sind sie doch! Was für finstere, grausame Kommentare über Leben und Eitelkeit! Die meisten von uns haben Schubladenvoll davon erhalten oder geschrieben. Es sind Gespenster, die wir aufbewahren, aber meiden. Osborne zitterte lange vor dem Brief seines toten Sohnes.

Der Brief des armen Jungen beinhaltete nicht viel. Er war zu stolz gewesen, die Zärtlichkeit, die er im Herzen fühlte, zu zeigen. Er sagte nur, daß er am Vorabend einer großen Schlacht seinem Vater Lebewohl sagen und feierlich dessen Beistand für die Frau – vielleicht auch das Kind –, die er zurückließ, erbitten wolle. Er gestand zerknirscht, daß er durch sein ausschweifendes, verschwenderisches Leben bereits einen großen Teil seines kleinen mütterlichen Vermögens vergeudet habe. Er dankte seinem Vater für den früher bewiesenen Großmut, und er versprach ihm, daß er sich des Namens George Osborne würdig erweisen werde, mochte er nun im Felde fallen oder überleben.

Seine englische Art, sein Stolz, vielleicht auch Verlegenheit, hatten ihn daran gehindert, mehr zu sagen. Sein Vater konnte den Kuß nicht sehen, den George auf die Überschrift seines Briefes gedrückt hatte. Mr. Osborne ließ das Schriftstück mit dem bittersten, tödlichsten Schmerz getäuschter Liebe und Rache fallen. Immer noch liebte er den Sohn und vergab ihm nicht.

Etwa zwei Monate später jedoch bemerkten die jungen Damen, als sie mit ihrem Vater zur Kirche gingen, daß er sich auf einen anderen Platz setzte als sonst, wenn er zum Gottesdienst kam, und von seinem Kissen aus blickte er auf die Mauer über ihnen. Das veranlaßte die jungen Mädchen, ebenfalls in die Richtung zu schauen, in die der düstere Blick des Vaters deutete, und sie erspähten an der Wand ein kunstvolles Denkmal. Darauf war Britannia weinend über einer Urne dargestellt, und ein zerbrochenes Schwert und ein liegender Löwe deuteten an, daß das Bildwerk zu Ehren eines gefallenen Soldaten errichtet worden war. Die Bildhauer jener Zeit hatten immer einen ganzen Vorrat solcher Trauersymbole auf Lager, und man kann noch jetzt auf den Wänden der Sankt-Pauls-Kathedrale Hunderte solcher prahlerischen heidnischen Allegorien sehen. Während der ersten fünfzehn Jahre unseres Jahrhunderts bestand eine große Nachfrage danach.

Unter dem erwähnten Denkmal war das bereits bekannte prunkvolle Osbornesche Wappen angebracht, und wie die Inschrift besagte, war das Denkmal geweiht »dem Andenken von George Osborne, zuletzt Hauptmann in Seiner Majestät ...tem Infanterieregiment, gefallen im Alter von achtundzwanzig Jahren, am 18. Juni 1815 in der siegreichen Schlacht bei Waterloo für König und Vaterland. Dulce et decorum est pro patria mori.«

Der Anblick dieses Gedenksteins erregte die Nerven der Schwestern so sehr, daß Miss Maria die Kirche verlassen mußte. Die Gemeinde machte achtungsvoll den tiefschwarzgekleideten, schluchzenden Mädchen Platz und bemitleidete den finsteren alten Vater, der gegenüber dem Monument des toten Soldaten saß. »Ob er Mrs. George vergibt?« fragten sich die Mädchen, sobald der Schmerzensausbruch vorüber war. Auch in Osbornes Bekanntenkreis, wo man den durch die Heirat verursachten Bruch zwischen Vater und Sohn kannte, sprach man viel über die Aussicht einer Versöhnung mit der jungen Witwe. Die Herren am Russell Square und in der City schlossen sogar Wetten darauf ab.

Wenn die Mädchen Befürchtungen hegten, Amelia werde möglicherweise als Tochter der Familie anerkannt werden, so wuchsen diese noch gegen Ende des Herbstes, als ihnen ihr Vater mitteilte, er wolle eine Auslandsreise machen. Er sagte nicht, wohin; sie wußten aber sogleich, daß er seine Schritte nach Belgien lenken würde, und sie hatten erfahren, daß sich Georges Witwe noch in Brüssel befand. Durch Lady Dobbin und deren Töchter waren sie stets ganz gut über das Tun und Treiben der armen Amelia unterrichtet. Durch den Tod des zweiten Majors im Regiment auf dem Schlachtfeld war unser ehrlicher Hauptmann befördert worden; und der tapfere O'Dowd, welcher sich hier sehr ausgezeichnet hatte, wie bei allen Gelegenheiten, wo er seine Kaltblütigkeit und Tapferkeit beweisen konnte, war jetzt Oberst und Träger des Bath-Ordens.

Viele der Tapferen des ...ten Regiments, das an beiden Schlachttagen schwere Verluste erlitten hatte, befanden sich im Herbst noch in Brüssel, um von ihren Wunden zu genesen. Die Stadt war noch Monate nach der großen Schlacht ein riesiges Lazarett, und als die Soldaten und Offiziere sich von ihren Verletzungen zu erholen begannen, füllten sich die Parks und öffentlichen Vergnügungsstätten mit alten und jungen verkrüppelten Soldaten, die, kaum dem Tode entrissen, mit Spiel, Scherz und Liebelei begannen, wie es auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit üblich ist. Mr. Osborne machte bald einige vom ...ten Regiment ausfindig. Er kannte ihre Uniform genau und hatte jede Beförderung, jede Versetzung aufmerksam verfolgt und sprach gern vom Regiment und seinen Offizieren, als ob er selbst dazugehörte. Am Tage nach seiner Ankunft in Brüssel sah er beim Verlassen seines Hotels, das direkt am Park lag, einen Soldaten mit den wohlbekannten Aufschlägen, der sich auf einer Steinbank ausruhte. Er ging auf den Verwundeten zu und setzte sich zitternd neben ihn.

»Waren Sie in Hauptmann Osbornes Kompanie?« fragte er, und nach einer Pause fügte er hinzu: »Er war mein Sohn.«

Der Mann gehörte nicht zur Kompanie des Hauptmanns, aber er erhob den gesunden Arm und legte die Hand an die Mütze, traurig und ehrfürchtig vor dem abgezehrten, niedergebeugten Herrn, welcher ihn gefragt hatte. »Es gab keinen besseren und tüchtigeren Offizier im ganzen Heer«, sagte der Soldat. Der Hauptfeldwebel von der Kompanie des Hauptmanns (sie wurde jetzt von Hauptmann Raymond angeführt) sei jedoch in der Stadt und soeben von einem Schulterschuß genesen. Der Herr könne ihn sprechen, wenn er möge, und alles, was er über die Taten des ...ten Regiments wissen wolle, von ihm erfahren. Aber der Herr habe wohl zweifellos schon Major Dobbin gesprochen, den guten Freund des tapferen Hauptmanns, und Mrs. Osborne, die sich auch in Brüssel aufhalte und der es, wie man erzählte, sehr schlecht gehe. Es heißt, sie sei sechs Wochen oder noch länger geradezu nicht bei Sinnen gewesen. Der Herr werde das alles aber wohl schon wissen, und er bitte also um Entschuldigung, fügte der Soldat hinzu.

Osborne drückte dem Soldaten eine Guinee in die Hand und versprach ihm noch eine, wenn er den Hauptfeldwebel ins Hotel du Parc bringen wollte. Dieses Versprechen brachte den Gewünschten sehr bald zu Mr. Osborne. Der erste Soldat entfernte sich wieder, und nachdem er ein paar Soldaten erzählt hatte, daß Hauptmann Osbornes Vater gekommen sei und was für ein freigebiger, großmütiger Herr er sei, tranken und schmausten sie, solange die Guineen reichten, die aus dem üppigen Geldbeutel des trauernden alten Vaters gekommen waren.

In Begleitung des Hauptfeldwebels, der vor kurzem genesen war, begab sich Osborne nach Waterloo und Quatre-Bras, eine Reise, die damals Tausende seiner Landsleute machten. Unter der Führung des Hauptfeldwebels, den er in seinem Wagen mitgenommen hatte, besuchte er beide Schlachtfelder. Er sah die Stelle der Straße, von wo aus das Regiment am 16. zum Kampf marschiert war, und den Hügel, von dem sie die französische Kavallerie herabgetrieben hatten, nachdem diese den fliehenden Belgiern gefolgt war. Dort war die Stelle, wo der edle Hauptmann den französischen Offizier niedermachte, der mit dem jungen Fähnrich um die Fahne gekämpft hatte, nachdem die Fahnenträger gefallen waren. Auf dieser Straße hatten sie sich am nächsten Tage zurückgezogen, und hier war der Erdwall, an dem das Regiment in der Nacht zum 17. im Regen biwakierte. Dort drüben war die Stellung, die sie eingenommen und den ganzen Tag gehalten hatten, wobei sie sich immer wieder formierten, um den Angriffen der französischen Kavallerie zu begegnen, und sich zum Schutz gegen das wütende französische Geschützfeuer immer wieder hinter dem Erdwall niederwarfen. Und an diesem Hügel geschah es, als am Abend die gesamte englische Linie den Befehl zum Vordringen erhielt und der Feind nach seinem letzten Angriff zurückwich, daß der Hauptmann, degenschwingend und mit einem Hurra auf den Lippen, den Hügel hinabeilte, einen Schuß erhielt und tot niederfiel. »Major Dobbin hat dann den Leichnam des Hauptmanns nach Brüssel zurückgebracht und ihn begraben lassen, wie der Herr ja weiß«, berichtete der Hauptfeldwebel mit leiser Stimme. Während er seine Geschichte erzählte, schrien die Bauern und Reliquienjäger aus der Gegend um die beiden herum und boten allerlei Andenken an die Schlacht, Kreuze und Epauletten, zerschossene Kürasse und Adler, zum Verkauf an.

Osborne gab dem Hauptfeldwebel eine stattliche Belohnung, als er nach dem Besuch der Stätten, die der Schauplatz der letzten Taten seines Sohnes gewesen waren, von ihm schied. Das Grab hatte er bereits gesehen; das hatte er sofort nach seiner Ankunft in Brüssel aufgesucht. George lag auf dem schönen Friedhof von Laeken, nahe bei der Stadt. Bei einem Ausflug dorthin hatte er einmal leichthin den Wunsch geäußert, da begraben zu werden. Hier war nun der junge Offizier von seinem Freund in einem ungeweihten Winkel des Friedhofs bestattet worden, durch eine Hecke von den Tempeln und Türmen, den Blumen und Sträuchern getrennt, unter denen die katholischen Toten ruhen. Der alte Osborne empfand es als eine Demütigung, daß sein Sohn, ein englischer Gentleman, Hauptmann in der berühmten britischen Armee, nicht für würdig befunden worden war, in der Erde zu liegen, in der nichts weiter als Ausländer begraben waren. Wer von uns kann sagen, wieviel Eitelkeit sich in unserer wärmsten Empfindung anderen gegenüber verbirgt und wie selbstsüchtig unsere Liebe ist? Der alte Osborne dachte noch viel über den Zwiespalt seiner Gefühle und den Kampf zwischen seinem Instinkt und seiner Selbstsucht nach. Er glaubte fest daran, daß alles, was er tat, richtig sei und daß es immer nach seinem Willen gehen müsse, und gegen jeden Widerstand erhob sich sein Haß, gewappnet und giftig, wie der Stachel einer Wespe. Er war stolz auf seinen Haß, wie auf alles andere. Stets recht haben, stets vorwärtskommen und nie zweifeln, sind dies nicht die Eigenschaften, mit denen die Dummheit die Welt regiert?

Als sich Mr. Osbornes Wagen nach dem Besuch in Waterloo bei Sonnenuntergang dem Stadttor näherte, begegnete ihm eine andere Kutsche, in der zwei Damen und ein Herr saßen, während ein Offizier nebenherritt. Osborne fuhr zusammen, und der Hauptfeldwebel neben ihm warf seinem Nachbarn einen erstaunten Blick zu, während er den Offizier mit der Hand an der Mütze grüßte, der seinerseits den Gruß mechanisch erwiderte. Es war Amelia mit dem lahmen jungen Fähnrich an der Seite und der treuen Freundin Mrs. O'Dowd ihr gegenüber. Es war Amelia, aber wie verschieden von dem frischen munteren Mädchen, das Osborne kannte! Ihr Gesicht war bleich und abgezehrt, ihr hübsches braunes Haar lag gescheitelt unter einer Witwenhaube! Das arme Kind! Ihre Augen waren starr und blickten ins Leere. Sie sah Osborne ausdruckslos ins Gesicht, als die Wagen aneinander vorbeifuhren, erkannte ihn aber nicht, ebensowenig wie er sie erkannte, bis er aufblickte und Dobbin neben ihr reiten sah. Da wußte er, wen er vor sich hatte. Er haßte sie. Er wußte nicht, wie sehr, bis er sie hier gesehen hatte. Als ihr Wagen vorbei war, wandte er sich dem Hauptfeldwebel zu mit einem trotzigen, aufsässigen Blick, dem sein Begleiter nicht ausweichen konnte, – als wollte er sagen: wie wagst ausgerechnet du es, mich anzusehen? Verdammt sollst du sein! Ich hasse sie. Sie ist es, die alle meine Hoffnungen und meinen Stolz zunichte gemacht hat. »Sag dem Halunken, er soll schneller fahren«, schrie er fluchend dem Lakai auf dem Bock zu. Eine Minute später kam ein Pferd über das Pflaster hinter Osbornes Wagen galoppiert, und Dobbin ritt heran. Seine Gedanken waren woanders gewesen, als die Wagen sich begegneten, und erst als er ein paar Schritt weitergeritten war, entsann er sich, daß der gerade Vorbeigefahrene Osborne gewesen war. Dann hatte er sich umgedreht, um zu sehen, ob der Anblick ihres Schwiegervaters auf Amelia irgendeinen Eindruck gemacht habe, aber das arme Mädchen hatte gar nicht gemerkt, wer vorbeigekommen war. Hierauf hatte William, der sie täglich bei ihren Fahrten begleitete, seine Uhr herausgezogen, sich mit einer Verabredung, die ihm plötzlich eingefallen war, entschuldigt und war fortgeritten. Sie bemerkte auch das nicht, sondern blickte geradeaus über die Ebene hinweg zu den fernen Wäldern, wohin George marschiert war.

»Mr. Osborne, Mr. Osborne!« rief Dobbin, als er herangekommen war, und hielt ihm die Hand hin. Osborne machte keine Anstalten., sie zu ergreifen, sondern schrie noch einmal fluchend seinem Bedienten zu, schneller zu fahren. Dobbin legte seine Hand auf den Kutschenschlag.

»Ich muß Sie sprechen, Sir«, sagte er, »ich habe eine Botschaft für Sie.«

»Von der Frau da?« fragte Osborne grimmig.

»Nein«, entgegnete der andere, »von Ihrem Sohn«, worauf Osborne in die Wagenecke zurücksank. Dobbin ließ ihn weiterfahren und ritt dicht dahinter durch die ganze Stadt, ohne ein Wort zu sprechen, bis sie Osbornes Hotel erreichten. Dort folgte er Osborne zu seinen Zimmern. George war oft in diesen Räumen gewesen. Es waren die, die die Crawleys während ihres Aufenthalts in Brüssel bewohnt hatten.

»Bitte, haben Sie vielleicht irgendwelche Befehle für mich, Hauptmann Dobbin oder, Verzeihung, ich hätte sagen sollen, Major Dobbin, da bessere Männer als Sie tot sind und Sie an deren Platz getreten sind«, sagte Mr. Osborne mit dem sarkastischen Ton, den er zuweilen gern annahm.

»Ja, bessere Männer sind tot«, erwiderte Dobbin, »von einem will ich mit Ihnen sprechen.«

»Machen Sie es kurz, Sir«, sagte der andere mit einem Fluch und blickte den Besucher finster an.

»Ich bin hier als sein engster Freund«, fuhr der Major fort, »und als der Vollstrecker seines Letzten Willens. Er hat sein Testament aufgesetzt, ehe wir in die Schlacht zogen. Wissen Sie, wie gering seine Mittel sind und in welcher traurigen Lage sich seine Witwe befindet?«

»Ich kenne seine Witwe nicht«, sagte Osborne. »Soll sie doch zu ihrem Vater zurückkehren.« Aber der Herr, mit dem er sprach, war entschlossen, seinen Gleichmut zu wahren, und fuhr fort, ohne die Unterbrechung zu beachten:

»Kennen Sie Mrs. Osbornes Lage? Ihr Leben und ihr Verstand sind dem Schlag, der sie getroffen hat, beinahe zum Opfer gefallen. Es ist sehr zweifelhaft, ob sie sich je erholen wird. Es besteht noch eine Möglichkeit für sie, und deshalb komme ich zu Ihnen. Sie wird bald Mutter werden. Wollen Sie die Sünde des Vaters an dem Kind heimsuchen? Oder wollen Sie dem Kind um des armen Georges willen verzeihen?«

Osborne brach in einen Schwall von Eigenlob und Verwünschungen aus. Ersteres, um seine Haltung vor dem eigenen Gewissen zu entschuldigen, letzteres, um Georges Pflichtvergessenheit zu übertreiben. Kein Vater in ganz England hätte sich großzügiger gegenüber einem Sohn verhalten können, der sich bösartig gegen ihn aufgelehnt hatte. Er war gestorben, ohne auch nur andeutungsweise zu bekennen, daß er unrecht gehabt habe. Mochte er nun die Folgen seines Ungehorsams und seiner Torheit tragen. Er selbst, Mr. Osborne, jedoch war ein Mann von Wort. Er hatte geschworen, niemals mit jener Frau zu sprechen oder sie gar als Gattin seines Sohnes anzuerkennen. »Das können Sie ihr sagen«, schloß er mit einem Fluch, »und dazu werde ich bis zum Ende meiner Tage stehen.«

Es gab also von dieser Seite her keine Hoffnung mehr. Die Witwe mußte von dem wenigen leben, was sie hatte, oder von dem, womit Joseph sie unterstützen konnte. Wenn ich es ihr auch erzählte, sie würde es doch nicht beachten, dachte Dobbin traurig; denn die Gedanken des armen Mädchens waren seit der Katastrophe überhaupt nicht mehr hier; betäubt von der Last ihres Kummers, war ihr Gutes ebenso gleichgültig wie Böses, und sie hatte auch keine Empfindung für Freundschaft und Güte. Sie nahm alles klaglos hin und versank wieder in ihrem Kummer.

Nach der obigen Unterredung wollen wir jetzt ein Jahr im Leben der armen Amelia überspringen. Sie hat die ersten Monate davon in so tiefem und mitleiderregendem Schmerz zugebracht, daß wir, die wir einige Regungen dieses schwachen, zarten Herzens beobachtet und beschrieben haben, uns vor dem entsetzlichen Kummer, unter dem es blutet, zurückziehen müssen. Tretet still an das Schmerzenslager der armen geknickten Seele. Schließt leise die Tür des dunklen Zimmers, in dem sie leidet, wie jene guten Menschen, die sie in den ersten Monaten ihres Schmerzes pflegten und sie nicht verließen, bis ihr der Himmel Trost gesendet hatte. Ein Tag kam – ein Tag fast entsetzlicher Freude und Verwunderung, wo das arme verwitwete Wesen ein Kind an die Brust drückte, ein Kind mit den Augen ihres dahingegangenen Georges, einen kleinen engelschönen Knaben. Welch eine Wonne, seinen ersten Schrei zu hören! Wie sie über ihm lachte und weinte! Wie Liebe und Hoffnung und Gebet wieder in ihrer Brust erwachten, als der Säugling sich an sie schmiegte! Sie war gerettet. Die Ärzte, die sie behandelten und für ihr Leben oder ihren Verstand gefürchtet hatten, hatten ängstlich auf diese Krisis gewartet, ehe sie erklären konnten, beides sei gerettet. Es war die langen Monate der Furcht und des Zweifels wert für die, die sich in ihre Pflege geteilt hatten, ihre Augen noch einmal zärtlich strahlend auf sie gerichtet zu sehen.

Unser Freund Dobbin war einer von ihnen. Er war es, der sie nach England in das Haus ihrer Mutter zurückgebracht hatte, als Mrs. O'Dowd auf den entschiedenen Befehl ihres Mannes hin die Patientin verlassen hatte. Es wäre eine Herzensweide für jeden gefühlvollen Menschen gewesen, zu sehen, wie Dobbin das Kind hielt, und zu hören, wie Amelia bei diesem Anblick frohlockend lachte. William hatte das Kind aus der Taufe gehoben und bot seinen ganzen Scharfsinn auf, um Tassen, Löffel, Becher, Schüsselchen und Beißkorallen für seinen kleinen Paten einzukaufen.

Wir brauchen hier nicht zu erzählen, wie ihn seine Mutter pflegte und kleidete und nur für ihn lebte, wie sie alle Kinderwärterinnen fortjagte und kaum jemandem anders gestattete, ihn zu berühren, wie sie glaubte, die größte Gunst, die sie seinem Paten, Major Dobbin, erweisen könne, sei, ihn zuweilen mit dem Kleinen spielen zu lassen. Das Kind war ihr ganzes Leben. Ihr ganzes Dasein war eine einzige mütterliche Liebkosung. Sie umhüllte das schwache und unwissende Geschöpf mit Liebe und Anbetung. Es war ihr Leben, was der Säugling von ihrer Brust trank. Nachts und wenn sie allein war, brach ihre Mutterliebe heimlich und gewaltig in Entzücken aus, wie Gottes wunderbare Güte sie dem weiblichen Instinkt gewährt – Freuden, die höher und tiefer sind als die Vernunft, eine blinde, schöne Hingabe, die nur Frauenherzen kennen. William Dobbins Aufgabe war es, über diese Regungen Amelias nachzudenken und ihr Herz zu beobachten, und wenn er in seiner Liebe fast alle Gefühle ahnen konnte, die Amelias Herz bewegten, so sah er leider auch mit unheilvoller Deutlichkeit, daß darin kein Platz für ihn geblieben war. Und so ertrug er sanft sein Schicksal. Er kannte es und war zufrieden damit.

Wahrscheinlich durchschauten Amelias Eltern die Absichten des Majors und waren nicht abgeneigt, ihn zu ermutigen, denn Dobbin kam täglich in ihr Haus und blieb stundenlang bei ihnen, bei Amelia oder dem ehrlichen Mr. Clapp, ihrem Wirt, und seiner Familie. Er brachte unter irgendeinem Vorwand fast täglich Geschenke für jeden mit, und bei dem kleinen Mädchen des Hauswirtes, das Amelias Liebling war, hieß er nur »Major Zuckererbse«. Dies kleine Mädchen spielte gewöhnlich die Zeremonienmeisterin und führte ihn bei Mrs. Osborne ein. Eines Tages mußte sie doch lachen, als Major Zuckererbse im Wagen nach Fulham gefahren kam und mit einem Holzpferd, einer Trommel und Trompete und anderem Kriegsspielzeug für den kleinen George ausstieg, der kaum ein halbes Jahr alt war und für den die besagten Gegenstände wohl doch etwas verfrüht kamen.

Das Kind schlief. »Pst!« machte Amelia, vielleicht etwas ungehalten über die knarrenden Stiefel des Majors. Sie hielt ihm die Hand hin und lächelte, weil er sie erst ergreifen konnte, als er sich seiner Spielwarenlast entledigt hatte. »Geh hinunter, Klein Mary«, sagte er dann zu dem Kind, »ich muß mit Mrs. Osborne etwas besprechen.« Sie blickte erstaunt auf und legte den Kleinen ins Bett.

»Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden, Amelia«, sagte er, während er sanft ihr zartes, weißes Händchen ergriff.

»Verabschieden? Und wohin soll die Reise gehen?« fragte sie lächelnd.

»Schicken Sie Ihre Briefe an meine Beauftragten, man wird sie mir nachsenden, denn Sie werden mir doch schreiben, nicht wahr? Ich werde lange Zeit wegbleiben.«

»Ich werde Ihnen über Georgy schreiben«, sagte sie. »Lieber William, wie gut Sie zu ihm und mir sind. Sehen Sie ihn nur an! Ist er nicht wie ein Engel?«

Die rosigen Händchen des Kindes schlossen sich mechanisch um den Finger des ehrlichen Soldaten, und Amelia blickte ihm strahlend vor Mutterglück ins Gesicht. Die grausamsten Blicke hätten ihn nicht mehr verwunden können als dieser Ausdruck hoffnungsloser Freundlichkeit. Er beugte sich über Mutter und Kind. Einen Augenblick lang konnte er nicht sprechen, und nur mit äußerster Kraftanstrengung konnte er ein »Gott segne Sie!« hervorbringen. – »Gott segne Sie!« erwiderte Amelia, wandte ihm das Gesicht zu und küßte ihn.

»Pst! Wecken Sie Georgy nicht auf«, fügte sie hinzu, als William Dobbin mit schweren Schritten zur Tür stapfte. Sie hörte nicht das Geräusch des davonrollenden Wagens – sie blickte auf das Kind, das im Schlaf lächelte.


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