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II. Ein Sohn

1.

Marienberg ist eine stille Stadt, es giebt nicht leicht eine stillere im regsamen Gebirge. Auf einen kahlen Bergrücken hingelagert, dem die zahlreichen grauen Berghalden ein noch öderes Ansehen verleihen, ruht der Ort wie eingesargt in der hohen altergrauen Stadtmauer mit ihren meist verfallenen Eckthürmen, und das Innere – ein Netz von schnurgeraden, in rechten Winkeln sich kreuzenden Straßen – ist wenig geeignet, den Eindruck der Eintönigkeit, den man außen empfängt, zu mildern. Dennoch gab es vor etwa drei Jahrzehnten keine behaglichere Wohnstätte im ganzen Gebirge als diese kleine stille Bergstadt. Damals war sie auch nicht gar so still wie heutzutage, da war die hohe Straße, die durch den Ort führt, noch der Hauptverkehrsweg zwischen den nordischen Handelsplätzen und den Hauptstädten des österreichischen Kaiserstaates und daher tagaus tagein mit mächtigen Lastwägen bedeckt, die in Marienberg gern rasteten; da hatten die vielen Schmiede, Wagner, Sattler und verwandten Gewerbsleute des Ortes immer vollauf zu thun, und in den Gasthöfen wimmelte es von Gästen.

Außer diesem materiellen Elemente war aber auch noch ein geistiges vorhanden, welches das Leben im Städtchen nicht allein vermehrte, sondern ihm auch einen gewissen höhern Schwung verlieh: das war »die lateinische Schule.« Die auf dieser einst weithin berühmten Anstalt ihre Vorbildung zur Hochschule oder zum Volkslehrerberufe findende Jugend war – wie allerorten, wo man ihr das rechte Maß von Freiheit gönnt – ein frohes, keck in die Welt schauendes Völkchen, das mit den Bürgern der Stadt auf das Innigste verwachsen war. Meist waren es armer Leute Kinder aus der Nachbarschaft, arme Bergmanns-, Bauern- oder Handwerkerssöhne, welche hier Zutritt zu einer höheren Laufbahn suchten, als sie ihnen bei ihrer Geburt vorgezeichnet schien. Talent und »Vertrauen auf Gott und gute Menschen« war oft das einzige Vermögen, das sie mit auf die Schule brachten. Und in Marienberg wurde solches Vertrauen nie getäuscht; gern nahm ein Bürger so einen armen Schüler für ein kaum nennenswerthes Entgelt in Kost und Wohnung auf, und der so Aufgenommene wäre ein von Gott und Geist gänzlich verlassenes Menschenkind gewesen, wenn er nicht bald Freitische und Kinderlectionen in andern Familien gefunden hätte. Denn die »lateinische Schule« war der Stolz der guten Marienberger, und ihre Schüler waren ihre allgemeine Freude.

Das galt aber ganz besonders von dem Singchor der Schüler, der war ihnen ein wahres Kleinod. Ich sehe sie noch im Geiste durch die Straßen ziehen, die frischen Jünglings- und muntern Knabengestalten in ihren verschossenen blauen oder grauen Mäntelchen, bald vor diesem, bald vor jenem Hause sich im Halbkreise aufstellen, und höre sie unter Leitung des im Durchmesser auf- und abschreitenden »Präfecten« einen Lobgesang Gottes, oder sonst ein gutes deutsches Lied singen. Da erschien wohl der Hausherr am Fenster, zog sein Käppchen und nickte freundlich heraus, worauf alle Hüte der Choristen in Bewegung geriethen; vielleicht lauschte hinter dem Rücken des Vaters eine liebliche Tochter, die wohl gar den Erwählten ihres Herzens unter den Sängern hatte. Zuweilen, bei recht rauhem Wetter, geschah es wohl auch, daß ein Gönner des Chores vor dem Hause gar nicht singen ließ, sondern ihn einlud, in die warme Stube zu kommen, und ihn da mit dem Besten, was er eben zu bieten hatte – einem Kaffee oder Schnaps – erquickte; oder an heißen Sommertagen, daß Einer die ausgetrockneten Kehlen mit frischem Bier letzte, das er als Brauberechtigter gerade im Keller hatte. Und es mußte Einer da schon ein Erkleckliches spenden, denn die muntern Sänger hatten Durst, viel Durst, zumal die Bassisten, die da glaubten, je tiefer sie in das runde Bierglas schaueten, desto tiefer und runder werde ihr Baß.

Ob dieses Glaubens auch der gute Friedrich Rost gewesen, der damals dem Marienberger Singchor Vorstand, das weiß ich mit Bestimmtheit nicht zu sagen. Wenn der Glaube Grund und besagter praefectus chori seinen Baß der Befolgung desselben zu verdanken hatte, so muß der junge Mann gewaltige Ströme des edlen Gerstensaftes in seine Kehle haben fließen lassen, denn nie sind die Mauern einer Kirche von einer mächtigeren Stimme erschüttert worden, nie haben die Straßen einer Stadt von einem orgelähnlicheren Gesange wiedergetönt, als beides Kirche und Straßen von Marienberg zu seiner Zeit erfahren haben. Man lasse einmal irgend einen ersten Bassisten des ersten besten Hoftheaters das tiefe Es aus voller Brust vom pianissimo zum fortissimo anschwellend singen und höre zu, ob es ihm gelingt, aber unser Friedrich sang das große C so piano, als du es verlangtest, und so forte, daß du hättest erschrecken mögen, als hätte sich der Mund der Unterwelt aufgethan und brause dir in Ohr und Gewissen hinein.

So erging es fast einem Dresdener Hofrath, der eines Sonntags bei seinem Jugendfreund, dem Marienberger Rector A. und mit diesem vergnügt am Frühstückstische saß. Sie waren in ihrer rosenfarbensten Laune, die beiden alten Herren – sie gedachten ja ihrer schönen Jugendzeit und ließen zu ihren Erinnerungen fleißig die Gläser klingen – als auf einmal vor dem Hause ein vollstimmiger Chor Haydn's: »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« anstimmte und Friedrichs grandioser Baß wie die Stimme eines Erzengels an das Ohr des Fremden schlug. Dieser ließ die Hand, welche eben das Glas zum Munde führte, sinken, sah den alten Jugendgenossen mit einer Miene an, als wollte er fragen: ist das eine Menschenstimme? und eilte dann aus Fenster. Da sah er den singenden Chor und seinen Dirigenten, da hörte er, wie dieser und kein übermenschliches Wesen es war, dessen Brust diese gewaltigen Töne entquollen.

Als die Sänger geendet hatten, trat er mit leuchtenden Blicken ins Zimmer zurück und sprach zu dem Rector, der sich inmittelst stillvergnügt an dem Beifall, den sein Gast dem Gesange seiner Schüler zollte, geweidet hatte: »Aber Herzensfreund! warum verschweigst Du mir, daß Du einen solchen Juwel von Baß auf Deiner Schule hast?«

»Hab' ich – he?« erwiederte der Gefragte. »Nicht wahr, Alterchen, hinter den Bergen wohnen auch Leute? Ihr Großstädter denkt, Ihr habt alles Schöne und Große in Kunst und Wissenschaft allein, und manchmal hat ein dunkles Bergstädtlein ein Talent, um das Ihr es beneiden könntet. Oder habt Ihr etwa an Euerm Hoftheater einen Bassisten, wie ich einen besitze?«

»Solch einen Baß giebt's vielleicht in ganz Deutschland nicht mehr,« sagte der Hofrath, »wenigstens ist mir kein solcher bekannt –«

»He?« fiel der Schulherr ein und hielt dem Freunde das Glas zum Klingehoch hin, »mein Rost ist aber auch mein Stolz, und wohlfeil geb' ich ihn nicht weg – unter hundert und achtzig Thalern fester Einnahme kriegt ihn keine Gemeinde zum Schulmeister.«

»Was? Schulmeister?« rief der Andere – »Schulmeister soll diese Prachtausgabe von einem Bassisten werden? Schulmeister mit hundert und achtzig Thalern? O Rector, wie bist Du verbauert in Deinem Gebirgsneste da! was bist Du für eine sancta simplicitas geworden! Diesen Riesenbaß willst Du in die engen Räume einer Dorfschule bannen, diesen hochbegabten Sänger, der berufen ist, Tausende von kunstverständigen Ohren zu entzücken, willst Du zum Vexir- und Marterholz für dumme Bauernbuben machen? Weiter hinaus fliegt Dein Ehrgeiz nicht? O Mann! Du gleichst Deinem weiland Collegen von Goldberg nicht – sonst hättest Du daran denken müssen, daß Dein Rost eine ganz andere Bestimmung habe, als für hundert und achtzig Thaler jährlich Bauernkindern das ABC zu lehren und das Sitzfleisch zu bearbeiten.«

»Aber, wunderlicher Mensch!« fiel der Scholarch ein, »was soll ich aus so armen Teufeln, wie sie mir von Laute und Lauterbach, von Pobershau und Rübenau gebracht werden, weiter schnitzen, als »Vexir- und Marterhölzer für Bauernbuben«, wie Du Dich auszudrücken beliebst? Kann ich, der ich selber fast am Hungertuche nage, mit meinen Mitteln große Männer aus ihnen machen? Wär' ich ein reicher Mann, so schickte ich ihrer jährlich ein halbes Dutzend auf die Universität, so aber muß ich froh sein, wenn dann und wann Einer mit eigenen Mitteln so weit kommt – die andern müssen eben Schulmeister werden, weil sie dazu wenig Geld brauchen. Und so geht es mir auch mit dem Bassisten.«

»Den sollst Du aber nicht zum Schulmeister machen,« entgegnete der Gast, »den reiß' ich Dir aus den Klauen, um ihn seiner wahren Bestimmung zuzuführen – in Dresden wird man die Finger nach ihm lecken. Ich bitte Dich, laß ihn diesen Nachmittag herkommen, da will ich Dir zeigen, was man aus solch einem Edelstein machen muß.«

Der Singumgang war geendet, und Friedrich machte sich eben fertig, seiner Mutter in dem nur eine Stunde entfernten Dorfe Lauterbach den herkömmlichen Sonntagsbesuch abzustatten. Da erschien des Rectors Magd und überbrachte dem »Herrn Präfecten« den Befehl, augenblicklich vor seinem Lehrer zu erscheinen. Das Gebot kam ihm freilich ein wenig ungelegen, denn er wäre am liebsten schon draußen gewesen bei dem guten Mütterlein, dessen Stolz und Hoffnung er war. Er wußte, daß sie des Sonntags den Augenblick nicht erwarten konnte, wo er von der Marienberger Höhe herab quer über die Felder auf das kleine Gütchen zueilte, in welchem sie mit einem jüngeren Töchterlein einsam wohnte; darum flog er auch immer, sobald er seine Chorgeschäfte beendigt hatte, hinaus – keine Verlockung seiten seiner Mitschüler hätte ihn bewegen können, seine Mutter auch nur um eine Minute des Genusses zu bringen, den seine Gegenwart ihr bereitete. Aber dem Befehle des Rectors mußte er gehorchen; der würdige Lehrer hatte fast gleiche Ansprüche auf seine Liebe und Dankbarkeit, wie die Mutter – ohne Säumen folgte er dem Rufe der Magd.

Er war ein schlanker braungelockter Jüngling von zwei und zwanzig Jahren; unter den dichten, ineinanderfließenden Brauen flammten ein Paar Augen, die einem südlicheren Himmelsstriche anzugehören schienen, und in seiner Haltung lag Etwas, das auch die ärmlichen Verhältnisse, deren Merkmale ihm anhingen, Lügen strafte. Er war einer von den Menschen, bei deren Anblick man sich der Worte Salomo's erinnert: »Ich sah Knechte auf Rossen und Fürsten zu Fuße gehen, wie Knechte.« Das Auge des Fremden, dem er sich von seinem Rector vorgestellt fand, ruhete mit großem Wohlgefallen auf diesem Gesichte, welchem bei aller Frische einer unentweihten Jugend doch die Feuermale ernsten Geisteskampfes aufgedrückt waren. Der Friede, die stille Heiterkeit, welche auf diesen Mienen lag, war nicht die Harmlosigkeit ungetrübter und unangefochtener Jugend, sie waren das Ergebniß eines langen, langen Ringens, sie waren die Trophäen eines heißen und tapferen, vor den Augen der Menschen verborgenen Sieges. Indeß ein in Menschengesichtern geübter Blick konnte in der tiefsten Tiefe dieser Gluthaugen noch den überwundenen Dämon, den faustischen Drang, in die Höhen und Tiefen des Seins, ja in das Schrankenlose zu dringen, sich in seinen Fesseln krümmen sehen, und das sokratische Lächeln, das diesen Mund umschwebte, war nur die lustige Kehrseite eines tiefernsten Gepräges, das die Aufschrift trug: Entsagung!

Er mochte sich auf diese Schrift verstehen, der freundliche alte Herr mit den kleinen scharfen Augen unter den schwarzen Brauen, denn er redete ihn nach der ersten Begrüßung gleich mit den Worten an: »Es ist Ihnen wohl sehr schwer gefallen, junger Freund, all den Hoffnungen und Ansprüchen, woraus Sie Ihr Talent hinwies, zu entsagen, den Schuldbrief, welchen die Natur Ihnen an das Leben mitgab, als unzahlbar zu vernichten? Denn das haben Sie wohl längst und oft empfunden, daß Sie noch zu etwas Anderm geboren sind, als zum Dorfschulmeister!«

Der junge Mann erröthete und schwieg verlegen.

»Hab' ich Recht?« fuhr der Fremde fort. »Wohlan, so seien Sie guten Muthes! der Himmel vergiebt seine Talente nicht, ohne auch die Gelegenheit zu schaffen, sich geltend zu machen. Haben Sie nicht manchmal, wenn Sie auf der Straße vor Ihrem Chor sangen, wenn Ihre Stimme zum brausenden Strom anschwoll, sich von dieser Gotteskraft mächtig dahingerissen gefühlt, daß Sie ganz vergaßen, wie Sie nur für wenige geweihte Ohren sangen? Ist Ihnen da nicht gewesen, als schwebe Ihre Seele auf Adlerfittigen empor und singe die Ehre Gottes vielen tausend Kreaturen, unzähligen in die Tiefen der Tonwelt eingeweihten Ohren? Haben Sie nicht oft auch einen mächtigen Drang nach höherer Vollendung empfunden? Ist Ihnen nicht oft wie jenem Jüngling vor dem verschleierten Bilde gewesen, den der Durst nach Erkenntniß der Wahrheit keine Ruhe gelassen – hat nicht oft auch der Drang, einzudringen in das innerste Heiligthum der Kunst, die Kunstwahrheit, d. i. die reine Schönheit, das Ideal zu erfassen, den Schlaf von Ihrem Lager gescheucht und Sie hinausgetrieben in die Weite?«

»Um Gotteswillen, Herr!« rief hier der Jüngling blaß und bebend; »ich beschwöre Sie, seien Sie barmherzig! wecken Sie diese Gespenster nicht wieder auf in meiner Seele, deren Bezwingung mir wahrlich Noth genug gemacht hat!«

»Hat sie?« erwiederte der Fremde ruhig – »ich dachte es wohl – es kann ja nicht anders sein. Beruhigen Sie sich, lieber Freund! ich will nicht die Geister des Unfriedens in Ihnen wecken; nein, ich will sie wahrhaft bannen durch Befriedigung. Sie sind zum Künstler geboren – ich ersuche Sie, mir die Sorge für Ihr weiteres Geschick anzuvertrauen – mein alter Freund hier wird Ihnen sagen, daß Sie es in keine schlimme Hand legen – ich biete Ihnen auf der Stelle ein Jahrgehalt von tausend Thalern an, wenn Sie mir an das Hoftheater nach Dresden folgen, und verspreche Ihnen doppelt so viel nach vollendeter Ausbildung für die Bühne.«

Der Jüngling stand sprachlos da bei diesem unerwarteten glänzenden Anerbieten.

»Nun – hoffentlich weisen Sie meine Werbung nicht zurück?« sagte der Fremde nach einer Pause.

»Verzeihen Sie, lieber Herr!« stammelte Friedrich, »dieses Anerbieten kommt nur so unverhofft – es ist so groß – ich weiß nicht, ob es Ihr Ernst oder –«

»Gewiß, mein Sohn, ist es der vollste Ernst meines Freundes,« versicherte der Rector.

»O mein verehrter Herr!« sagte Friedrich hierauf, »Sie haben ja noch so wenig von mir gehört – vielleicht bin ich gar nicht im Stande, den Anforderungen zu genügen, welche an mich gestellt werden.«

»Kein Wort davon!« erwiederte der Hofrath; »ich habe bereits genug von Ihnen gehört, um über Ihr ganz entschiedenes Talent zum Sänger im Klaren zu sein, außerdem hab' ich auch mit Ihrem Cantor gesprochen und dieser treffliche Musikmeister hat mich in meiner Meinung von Ihnen nur bestärkt. Nehmen Sie mein Erbieten an?«

»Vergönnen Sie mir Bedenkzeit!« bat Friedrich. »Wäre ich selbständig, so wüßte ich wohl, was ich thäte – ich sagte ohne Weiteres »Ja!«

»Ich denke, Sie haben nur noch die Mutter, von welcher Sie schon lange unabhängig sind?« sagte sein Gönner.

»Unabhängig von meiner Mutter?« entgegnete Friedrich. »Verzeihen Sie, ich verstehe Sie da nicht recht.«

»Nun, ich meine, Sie sind mündig und Ihre Mutter giebt Ihnen durchaus Nichts zu Ihrem Unterhalte,« sagte der Fremde.

»Ja so,« erklärte Friedrich, »aber meine Mutter hat mir das Leben gegeben, mich unter tausend Aengsten gehütet, unter unsäglichen Aufopferungen groß gezogen, in den ersten Jahren meiner hiesigen Schulzeit hat sie sich den Bissen am Munde abgedarbt, um mich hier nicht Noth leiden zu lassen – wie kann ich jemals so unabhängig von dieser treuen Mutter werden, daß ich bei irgend einem wichtigen Schritte meines Lebens ihrer Einwilligung entbehren zu können glaubte? O Herr! hätte ich das gedacht, wäre ich ein Springinsfeld gewesen, der nach seiner Mutter nichts fragt, so hätt' ich wohl vor manchem Jahr schon mein Bündel geschnürt und wäre in die weite Welt gegangen, denn wahrhaftig, Herr! Sie haben in meiner Seele gelesen – all das, was Sie vorhin andeuteten, hab' ich empfunden, und es hat mich Mühe genug gekostet, des Drängens und Treibens da innen Meister zu werden, um meine Mutter nicht zu betrüben.«

»Ich ehre solche Gesinnung, mein werther Freund,« sagte der Hofrath, »und wünsche, daß Sie dabei bleiben. Um so ruhmvoller wird einst Ihr Künstlerpfad sein, je mehr Tugenden Sie schmücken. Jetzt, wo es sich nicht darum handelt, ziel- und planlos in die weite Welt zu wandern, sondern in eine sichere und ehrenvolle Laufbahn einzutreten, jetzt werden Sie hoffentlich Ihre gute Mutter durch den Schritt, den ich Ihnen rathe, nicht betrüben und sie wird ihre Einwilligung ohne Bedenken geben.«

Friedrich zuckte mit den Achseln und erwiederte nach einer Pause: »Meine Mutter ist eine einfache Frau von alter schlichter Sitte und Denkart – es wird immer einige Mühe kosten, sie zu überzeugen, daß der fragliche Schritt, zu dem mich meine ganze Neigung drängt, ein heilsamer und ehrenvoller sei. Das alte Vorurtheil gegen den Schauspielerstand ist in hiesiger Gegend gar tief eingewurzelt.«

»Damit wollen wir schon fertig werden, mein Sohn!« erklärte der Rector, »Er weiß, ich gelte 'was bei Seiner Mutter, und ich will ihr schon das Unsinnige solchen Vorurtheils begreiflich machen. Bereite Er sie nur inzwischen vor, morgen mache ich einen Spaziergang nach Lauterbach und rede selbst mit ihr.«

Friedrich war über diese Zusicherung des würdigen Mannes hoch erfreut. Der Hofrath nahm ihm noch das Versprechen ab, daß er, sobald seine Mutter die Einwilligung ertheilt haben werde, ihm unverzüglich Nachricht geben und binnen vierzehn Tagen nach Dresden kommen wolle, versprach ihm seinerseits, die Mittel zur Ausrüstung und Reise bei dem Rector zu hinterlegen, und entließ ihn. Mit drei Sätzen sprang der Sänger die Treppe hinab, an deren Fuße er den sehr kurzsichtigen Conrector fast über den Haufen rannte, und eilte nun spornstreichs nach seinem heimathlichen Dorfe.

Da saß sie unter dem blühenden Hagedorn am äußersten Ende der Dorfflur, die arme, in schlichtes blaues Linnen gekleidete Bäuerin, welche ein hochbegabter, vielleicht einst weitgerühmter Sänger seine Mutter nannte – da spähete sie unverwandt nach dem Walde hin und wunderte sich, wo die Wonne ihres Mutterherzens so lange blieb. Dort aus dem Gebüsch, in welchem der schmetternde Buchfink nistet, soll er kommen, denn mitten durch dasselbe hat er sich den kürzesten Weg gebahnt, um so schnell als möglich in ihre Arme zu eilen. Jetzt endlich fliegt der Buchfink auf – jetzt bewegen sich die Zweige – jetzt theilen sie sich ja, da tritt er heraus – da schwenkt er den Hut – bald liegt er am Herzen der Mutter. Arm in Arm schlendern sie über die Felder hinab – auf der Hofmauer kräht der stolze Haushahn ihm ein Willkommen entgegen, aus dem Hause stürzt der muntere Spitz und stimmt bellend ein, und ehe die Nahenden die Hausthür erreichen, kommt auch die kleine Christel, die inzwischen Haus gehalten, ihnen entgegen gesprungen. Ist das doch ein Grüßen, eine Wiedersehensfreude, als ob der Ankömmling viele Monden lang in weiter Ferne gewesen wäre! Verstehst du sie wohl, diese innige Familienliebe der unverdorbenen Menschen, hast du eine Ahnung von ihr, du blasirtes Weltkind, oder du, armer Sohn der vornehmen Mutter, die es unter ihrer Würde oder gefährlich für ihre Schönheit fand, dich aus dem Quell ihres mütterlichen Leibes zu tränken?

»Du hast recht lange auf mich warten müssen, gute Mutter!« hatte der Sohn schon draußen am Hagedorn sich zu entschuldigen begonnen, »aber es war nicht meine Schuld – der Herr Rector ließ mich nach dem Singen zu sich bescheiden, und da ist mir ein großes, großes Glück widerfahren – wenn wir hineinkommen, will ich Dir es sagen – ich bin noch so bewegt davon, daß ich keine Worte finden kann, es Dir mitzutheilen.«

Wie mochte das Mutterherz bei dieser Eröffnung schlagen! Jetzt waren sie drin in der traulichen Stube; schon hatte Christel dem Bruder die Stiefel ausgezogen, schon saß er im »Zippelpelz« des verstorbenen Vaters auf dem uralten Großvaterstuhl neben dem Uhrgehäuse, schon standen die Kaffeetassen auf dem Tische, und Christel brachte die braune Kanne, die Mutter Semmel und Butter herbei, schon dampfte vor allen Dreien der gelbe Kaffee aus den Tassen – als endlich Frau Rost nicht mehr an sich halten konnte, sie mußte den Sohn erinnern, daß er ihr doch das große Glück mittheilte, das ihm begegnet war.

»Ja so,« nahm er, seine Semmel in die Tasse tauchend, das Wort, »Du weißt doch die Geschichte von unserm großen Doctor Luther, liebe Mutter! wie er als kleiner Knabe auf der Eisenacher Schule sein Brod zum Theil auch mit Singen vor den Thüren der Leute verdienen mußte –«

»Ei, werd' ich das nicht wissen!« fiel ihm die Mutter in die Rede. »Die Geschichte ist mir jedesmal eingefallen, wenn ich Donnerstags in die Stadt kam und die Chorschüler auf der Gasse sah und Dich unter ihnen – da dacht' ich auch an die fromme Frau Kotte, die an dem Gesange des kleinen Martin so großes Wohlgefallen fand, daß sie ihn in ihr Haus nahm und somit ein Werkzeug zum Gedeihen des großen Gottesmannes wurde.«

»Nun sieh, Herzensmutter! so wie dort dem kleinen Eisenacher Schüler der Gesang eine Wohlthäterin erwarb, so hat er auch mir heute ganz unverhofft einen vornehmen Gönner verschafft.« Und er erzählte ihr nun, wen er bei dem Rector getroffen und welch ein glänzendes Anerbieten ihm von dem »vornehmen Herrn aus Dresden« gemacht worden – allein von dem Theater getraute er sich nichts zu sagen; er sprach blos von einer Anstellung bei Hofe – was im Grunde auch nicht gelogen war – und vertröstete wegen des Näheren die Mutter auf morgen, wo sie es vom Rector hören werde.

Der guten Bäuerin, deren ganzes Besitzthum kaum tausend Thaler werth war, wurde schwindelig, wie ihr Sohn die Summe nannte, welche er sofort als Jahrgehalt beziehen sollte, und noch mehr, als sie vernahm, daß später diese Summe sich verdoppeln werde. Sie hatte zwar immer eine hohe Meinung von den Gaben ihres Sohnes gehabt, aber das Höchste, was sie sich von und für ihn geträumt hatte, war eine gute Dorfcantorstelle von vier- bis fünfhundert Thalern gewesen, wie sie der Herr Schulze in Lauterbach inne hatte – allein dieser Traum war ihr schon zu vermessen vorgekommen und sie hatte ihre Wünsche zu einem bescheidenen Lehrerdienst von hundert und fünfzig bis zweihundert Thalern herabgestimmt. Dünkte ihr doch selbst ein solches Einkommen noch groß im Vergleich zu dem, was das mühsame Bewirthschaften eines kleinen Bauerngütchens wie das ihre eintrug. Es wurde ihr schwer, sich mit dem Gedanken, daß ihr Sohn der Inhaber einer Tausendthalerstelle werden solle, vertraut zu machen, ja es schien ihr in ihrer Einfalt, als ob man ihn mit einem solchen Antrage nur zum Besten gehabt hätte, wenn nicht der vornehme Herr aus Dresden am Ende gar – sie machte bei dem Gedanken ein Kreuz – »Der und Jener« gewesen war, der den Jüngling versuchen wollte.

»Nun, Mütterle,« fragte der Sohn betrübt, als er sie ohne eine einzige Freudenäußerung ihn anstarren sah, »freust Du Dich denn nicht über mein Glück?«

»Ach,« seufzte sie, »ich kann Dir gar nicht sagen, wie mir zu Muthe geworden ist bei den tausend Thalern – Du kannst doch unmöglich gleich eine Stelle von tausend Thalern bekommen.«

»Wenn Du mir nicht glauben willst, so wird der Herr Rector Dich morgen überzeugen,« sagte Friedrich unmuthig.

»Ich glaube Dir ja, Fritzel!« sagte die Frau, »sei nur nicht gleich böse! Tausend Thaler – du lieber Gott! das ist eine große Summe – sie ist leicht ausgesprochen; aber wer sich wie Unsereins plagen muß, um nur tausend Pfennige zu erwerben, kann kaum begreifen, wie ein einzelner Mensch jährlich tausend Thaler verdienen mag. Wir haben zwanzig Scheffel Feld, vier Kühe und zwei Ochsen, und uns bleiben bei aller sauern Arbeit kaum hundert Thaler, wenn wir Steuern und Zinsen bezahlt haben und was wir zum Leben brauchen, zu Geld anschlagen. Tausend Thaler – und später gar zweitausend! – Da sollst Du wohl Cantor bei Hofe werden?«

»So was Aehnliches wird's wohl sein,« erwiederte Friedrich ausweichend, »warte nur bis morgen, da wirst Du Alles erfahren.«

»Nun ja, ich will warten,« versetzte die Frau, »und inzwischen beten, daß der liebe Gott Dich erleuchten und vor Hochmuth behüten möge. Du sollst ein reicher Mann werden, und Du weißt wohl, was unser Herr Christus spricht: Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme!«

»Weil die Reichen in der Regel vergessen, daß sie nur Haushalter Gottes, nur Verwalter der ihnen verliehenen Güter zum Besten ihrer Brüder sind,« fiel Friedrich ein, »das werd' ich aber gewiß nie vergessen, Mutter! Ich glaube ganz bestimmt, daß der Schritt, den ich thun soll, zu meinem wahren Besten ist, sonst würde der Herr Rector mir nicht dazu rathen. Ach Mutter! wie froh will ich sein, wenn ich Dich von Deinem sauern Tagewerk ausspannen und Dir bei mir im schönen Dresden lauter gute und leichte Tage bereiten kann! Und die Christel kann ich dann auch etwas Tüchtiges lernen lassen – wie herrlich wird das sein!«

»Wir wollen's beschlafen,« entschied Frau Rost und die Unterhaltung wendete sich andern Dingen zu.


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