Jonathan Swift
Gullivers Reisen
Jonathan Swift

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel XII.

Von des Verfassers Wahrheitsliebe. Seine Absicht bei der Veröffentlichung dieses Werkes. Tadel jener Reisenden, die von der Wahrheit abweichen. Der Verfasser erklärt, dass er keinerlei schlimme Ziele verfolgte, als er schrieb. Wiederlegung eines Einwandes. Die Methode der Gründung von Kolonien. Lob seiner Heimat. Das Recht der Krone an die vom Verfasser geschilderten Länder wird anerkannt. Die Schwierigkeiten einer Eroberung. Der Verfasser nimmt zum letztenmal Abschied von seinem Leser; er legt die Lebensweise dar, die er in Zukunft beobachten wird, erteilt einen guten Rat und schliesst.

So also, freundlicher Leser, habe ich dir eine treue Geschichte meiner Reisen während einer Zeit von mehr als sechzehn Jahren und sieben Monaten gegeben; ich habe mich darin nicht so sehr des Zierrats der Rede befleissigt wie der Wahrhaftigkeit. Ich hätte dich vielleicht auch wie andre mit wunderbaren, unwahrscheinlichen Märchen erstaunen können; aber ich habe es vorgezogen, dir in der einfachsten Weise und Manier reine Tatsachen zu berichten; denn es war vor allem meine Absicht, dich zu unterrichten, nicht dich zu amüsieren.

Es ist leicht für uns, die wir in ferne Länder reisen, wie sie von Engländern und andern Europäern selten besucht werden, Schilderungen von wunderbaren See- und Landtieren zu entwerfen. Doch sollte es das Hauptziel jedes Reisenden sein, die Menschen weiser und besser zu machen und ihre Seelen zu fördern durch die guten wie die schlimmen Beispiele dessen, was sie über fremde Länder berichten.

Ich könnte von Herzen wünschen, es würde ein Gesetz erlassen, dass jeder Reisende, ehe man ihm erlaubte, seine Reiseschilderungen zu veröffentlichen, vor dem Lord Kanzler beschwören müsste, dass alles, was er drucken zu lassen gedenke, nach seinem besten Wissen unbedingt wahr sei; denn dann würde die Welt nicht mehr betrogen werden, wie sie es in der Regel wird, solange manche Schriftsteller, um ihren Werken beim Publikum leichtern Eingang zu verschaffen, dem arglosen Leser die gröbsten Lügen aufbinden. Ich habe in meiner Jugend mit grossem Vergnügen viele Reisebücher gelesen; doch da ich inzwischen die meisten Teile des Erdballs durchfahren habe und imstande war, vielen fabelhaften Berichten aus eigner Kenntnis zu widersprechen, so hat mich ein grosser Abscheu vor dieser Art Lektüre gepackt, und auch einige Entrüstung, wenn ich sehn musste, dass die Leichtgläubigkeit der Menschheit so schamlos missbraucht wird. Da es meinen Bekannten beliebte, zu glauben, meine armen Bemühungen möchten meinem Lande nicht jeden Beifalls unwert erscheinen, so habe ich es mir zum Grundsatz gemacht, von dem ich nie abweichen dürfte, mich streng an die Wahrheit zu halten. Auch kommt mich nicht die geringste Versuchung an, ihr zu widersprechen, solange ich die Lehren und Beispiele meines edlen Herrn und der andern erlauchten Houyhnhnms vor Augen habe, deren demütiger Zuhörer ich so lange zu sein die Ehre hatte.

. . . Nec si miserum fortuna Simonem
Finxit, vanum etiam, mendacemque improba finget.

Ich weiss sehr wohl, wie wenig Ruhm durch Schriften zu erwerben ist, die weder Genie, noch Gelehrsamkeit, noch irgend welche andern Talente verlangen, es sei denn ein gutes Gedächtnis oder ein genaues Tagebuch. Ich weiss auch, dass Reiseschilderer gleich den Verfassern von Wörterbüchern durch das Gewicht und die Masse derer, die nach ihnen kommen und also zu oberst liegen, in Vergessenheit versenkt werden. Und es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, dass die, die nach mir die in diesem, meinem Werk geschilderten Länder besuchen, dadurch, dass sie meine Irrtümer entdecken (wenn ihrer vorhanden sind) und viele neue eigne Entdeckungen hinzufügen, mich bei Seite stossen und an meine Stelle treten werden, so dass die Welt vergisst, ob ich je etwas geschrieben habe. Das wäre in der Tat eine grosse Demütigung, wenn ich um des Ruhmes wegen schriebe; da aber mein einziges Ziel das ALLGEMEINE WOHL war, so kann ich nicht völlig enttäuscht werden. Denn wer kann von den Tugenden lesen, die ich bei den glorreichen Houyhnhnms geschildert habe, ohne sich seiner eignen Laster zu schämen, wenn er sich als das vernünftige, herrschende Tier in seinem Lande betrachtet. Ich will nichts von jenen entlegenen Nationen sagen, in denen gleichfalls Yahoos herrschen; unter ihnen sind die am wenigsten verderbten die Brobdingnagianer, deren weise Grundsätze in der Moral und der Regierung zu beobachten für uns schon ein Glück wäre. Aber ich enthalte mich weiterer Ausführungen und überlasse lieber den verständigen Leser seinen eignen Anmerkungen und Schlussfolgerungen.

Es freut mich nicht wenig, dass dieses mein Werk unmöglich Tadler finden kann; denn welche Einwände kann man gegen einen Schriftsteller erheben, der nichts berichtet, als einfache klare Tatsachen, wie sie in jenen fernen Ländern vorfielen, in denen wir nicht die geringsten kommerziellen oder diplomatischen Interessen haben. Ich habe mit Sorgfalt jeden Fehler vermieden, den man den meisten Reiseschriftstellern in der Regel mit nur zu viel Recht vorwirft. Ausserdem kümmere ich mich nicht im geringsten um irgend eine Partei, sondern schreibe ohne Leidenschaft, Vorurteil oder Übelwollen gegen jeden Einzelnen und jede Gruppe von Menschen. Ich schreibe zum edelsten Zweck, um die Menschheit zu unterrichten und zu belehren; und ich kann wohl ohne ein Verbrechen gegen die Bescheidenheit, auf einige Überlegenheit ihr gegenüber Anspruch machen, da ich soviel vor ihr voraus habe durch den langen Verkehr unter den gebildetsten Houyhnhnms. Ich schreibe ohne jedes Streben nach Gewinn oder Beifall. Ich lasse nie ein Wort stehn, das wie eine Unehrerbietigkeit aussehn oder den geringsten Anstoss erregen könnte, selbst bei denen, die am leichtesten Anstoss nehmen. Deshalb hoffe ich, dass ich mich mit Recht als Schriftsteller völlig tadelfrei nennen kann, und dass die Scharen der Erwiderer, der Verfasser von Anmerkungen, Beobachtungen, Gedanken, Enthüllungen und Notizen nie imstande sein werden, bei mir Stoff für die Übung ihrer Talente zu finden.

Ich gestehe, man hat mir angedeutet, ich sei als englischer Untertan verpflichtet gewesen, bei einem Staatssekretär gleich nach meiner Heimkehr eine Denkschrift einzureichen, denn alle Länder, die ein Untertan entdecke, gehören der Krone. Doch ich zweifle, ob uns der Sieg über die fraglichen Länder so leicht geworden wäre, wie der über die nackten Amerikaner Fernando Cortez wurde. Die Lilliputaner, scheint mir, verlohnen es kaum, dass man eine Flotte und ein Heer entsendet, um sie zu bezwingen; und ich zweifle sehr, ob es klug oder geraten wäre, es bei den Brobdingnagianern zu versuchen; auch würde sich eine englische Armee kaum sehr wohl fühlen, wenn sie die Fliegende Insel über dem Kopf hätte. Die Houyhnhnms freilich scheinen für den Krieg nicht so gut gerüstet zu sein, denn diese Wissenschaft ist ihnen völlig fremd, zumal wenn sie Schusswaffen gegenüber stehn. Aber wenn ich Staatsminister wäre, so würde ich nie dazu raten, einen Einfall in ihr Land zu unternehmen. Ihre Klugheit, Einigkeit, Furchtlosigkeit und Heimatsliebe würde vollen Ersatz für alle Mängel in der Kriegskunst bieten. Man stelle sich vor, wie zwanzigtausend von ihnen mitten unter ein europäisches Heer sprengen, die Reihen in Verwirrung bringen, die Wagen umstürzen und die Gesichter der Krieger durch furchtbare Schläge mit den Hinterhufen zu Brei zerschlagen! Denn sie würden den Ruf gar wohl verdienen, den man Augustus beilegte: »Recalcitrat undique tutus«. Doch statt Vorschläge zu machen, wie man jene grossherzige Nation erobern könnte, wollte ich lieber, sie wären imstande oder geneigt, eine genügende Anzahl ihrer Einwohner herüberzuschicken und Europa zu zivilisieren, indem sie uns die Grundprinzipien der Ehre, der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit, der Mässigung, des Gemeinsinns, der Seelengrösse, der Keuschheit, der Freundschaft, des Wohlwollens und der Treue lehrten. Die Namen all dieser Tugenden sind freilich bei uns in den meisten Sprachen noch erhalten, und man findet sie sowohl bei den modernen wie den alten Autoren; das kann ich aus eigner Lektüre versichern.

Aber ich hatte noch einen Grund, der mich weniger bereit machte, Seiner Majestät Besitzungen durch meine Entdeckungen zu erweitern. Die Wahrheit zu sagen, so waren mir ein paar Zweifel inbetreff der Gerechtigkeit gekommen, die die Fürsten bei solchen Gelegenheiten walten lassen. Zum Beispiel: durch einen Sturm wird eine Piratenbande irgendwohin getrieben, sie wissen selbst nicht, wohin; schliesslich entdeckt ein Schiffsjunge vom Mastkorb aus eine Küste; sie gehn an Land, um zu rauben und zu plündern; sie finden ein harmloses Volk, werden freundlich bewirtet, geben dem Lande einen neuen Namen, ergreifen für ihren König förmlich Besitz von ihm, errichten als Gedenkzeichen eine verfaulte Planke oder einen Stein, ermorden zwei oder drei Dutzend der Eingeborenen, nehmen als Probe ein weiteres Paar gewaltsam mit, kehren nach Hause zurück und erhalten Pardon. Hier beginnt nun ein neues Kolonialreich, das erworben ist auf Grund des Anspruchs »göttlichen Rechtes«. Bei erster Gelegenheit werden Schiffe hingeschickt, die Eingeborenen werden vertrieben oder ausgerottet, ihre Fürsten gefoltert, damit sie ihr Gold preisgeben; allen Taten der Unmenschlichkeit und der Gier wird ein Freibrief ausgestellt, die Erde dampft vom Blute ihrer Bewohner; und diese abscheuliche Schlächterbande, die zu einer so frommen Expedition ausgeschickt wurde, ist »eine moderne Kolonie«, ausgesandt, um ein barbarisches und götzendienerisches Volk zu bekehren und zu zivilisieren.

Aber diese Schilderung, das gebe ich zu, trifft keineswegs die britische Nation, die der ganzen Welt wegen der Weisheit, Sorgfalt und Gerechtigkeit, mit der sie Kolonien gründet, als Beispiel dienen kann; freigebig stiftet sie grosse Summen für die Förderung der Religion und Gelehrsamkeit; sie wählt die frömmsten und tüchtigsten Pastoren aus, um das Christentum zu verbreiten; vorsichtig versieht sie ihre Kolonien von diesem Vaterkönigreich aus mit Leuten von nüchternem Leben und Verkehr; streng achtet sie auf die Gerechtigkeit, indem sie die Zivilverwaltung in all ihren Kolonien mit Beamten von höchsten Talenten versorgt, denen die Korruption vollkommen fremd ist; und um all das zu krönen, entsendet sie die wachsamsten und tugendhaftesten Statthalter, die nichts andres im Auge haben, als das Glück des Volks, das sie regieren sollen, und die Ehre ihres Herrn, des Königs.

Da aber diese Länder, die ich geschildert habe, offenbar gar kein Verlangen danach tragen, erobert oder in die Sklaverei geführt, ermordet oder durch Kolonisten vertrieben zu werden, und da sie ferner weder an Gold noch an Silber, an Zucker noch Taback irgendwie reich sind, so dachte ich mir in aller Demut, dass sie kein geeigneter Gegenstand für unsern Eifer, unsre Tapferkeit oder unser Interesse sein könnten. Sollten aber jene, die es näher angeht, für gut befinden, andrer Meinung zu sein, so bin ich bereit, wenn man mich gesetzmässig dazu auffordert, zu versichern, dass vor mir noch kein Europäer je diese Länder besucht hat. Ich meine natürlich, wenn man den Eingeborenen glauben kann; höchstens könnte sich in betreff der beiden Yahoos, die vor vielen Generationen im Lande der Houyhnhnms auf einem Berge gesehn sein sollen, ein Streit erheben.

Was aber die Formalität der Besitzergreifung im Namen meines Herrschers angeht, so ist sie mir nie in den Sinn gekommen; und hätte sie das getan, so würde ich sie vielleicht, wie damals die Dinge für mich lagen, aus Klugheit und Selbsterhaltungstrieb auf eine bessere Gelegenheit verschoben haben.

Nachdem ich so auf den einzigen Einwand geantwortet habe, der je gegen mich als Reisenden erhoben werden kann, nehme ich hiermit Abschied von all meinen höflichen Lesern; und ich werde jetzt wieder in meinem kleinen Garten zu Redriff meine eignen Spekulationen verfolgen und jene ausgezeichneten Lehren in der Tugend zu verwirklichen suchen, die ich unter den Houyhnhnms gelernt habe; ich werde die Yahoos meiner eignen Familie unterrichten, so weit ich in ihnen gelehrige Tiere finden werde, und mir meine eigne Gestalt oft im Spiegel besehn, um mich, wenn möglich, mit der Zeit daran zu gewöhnen, dass ich den Anblick eines menschlichen Wesens wieder ertrage; ich werde beklagen, dass die Houyhnhnms in meiner Heimat so vernunftlose Tiere sind, werde sie aber stets mit Achtung behandeln, und zwar um meines edlen Herrn, seiner Familie und seiner Freunde und des ganzen Geschlechts der Houyhnhnms willen, denen unsre Houyhnhnms in all ihren Zügen zu gleichen die Ehre haben, so sehr sie auch in ihrem Intellekt entartet sind.

Ich habe in der letzten Woche meinem Weibe zum erstenmal wieder erlaubt, mir bei Tische am andern Ende einer langen Tafel Gesellschaft zu leisten und (doch in äusserster Kürze) die wenigen Fragen zu beantworten, die ich ihr stellte. Doch da mir der Geruch eines Yahoo noch immer sehr widerwärtig ist, so verstopfe ich mir stets die Nase gut mit Rauten-, Lavendel oder Tabakblättern. Und obwohl es für einen in den Jahren vorgerückten Mann schwer ist, alte Gewohnheiten abzulegen, so habe ich doch die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ich später einmal wieder einen Nachbaryahoo in meiner Nähe werde dulden können, ohne mich wie noch jetzt vor seinen Zähnen und seinen Krallen zu fürchten.

Meine Versöhnung mit der Gattung der Yahoos im allgemeinen wäre vielleicht nicht so schwierig, wenn sie sich mit jenen Lastern und Narrheiten begnügen wollten, auf die die Natur ihnen ein Recht verliehn hat. Mich ärgert es nicht im geringsten, wenn ich einen Anwalt, einen Taschendieb, einen Obersten, einen Narren, einen Grafen, einen Spieler, einen Politiker, einen Hurenwirt, einen Arzt, einen Zeugen, einen Bestecher, einen Verräter oder dergleichen sehe; das alles liegt nur in der Natur der Dinge, doch wenn ich einen Haufen Scheusslichkeit erblicke, verzehrt von Krankheiten an Seele und Leib, und wenn der mit Hochmut behaftet ist, so reisst mir sofort jedwede Geduld; auch werde ich nie verstehn, wie sich ein solches Tier mit einem solchen Laster vertragen kann. Die weisen und tugendhaften Houyhnhnms, die im Überfluss alle Auszeichnungen besitzen, wie sie ein vernünftiges Wesen nur zieren können, haben in ihrer Sprache kein Wort für dieses Laster; und ihre Sprache hat überhaupt keine Ausdrücke für irgend etwas Arges, es sei denn die, mit denen sie die scheusslichen Eigenschaften ihrer Yahoos bezeichnen; und unter diesen wiederum sind sie nicht imstande, die Eigenschaft des Stolzes zu erkennen, weil sie dazu die menschliche Natur, wie sie sich in andern Ländern zeigt, wo dieses Tier herrscht, nicht gründlich genug verstehn. Ich aber, der ich mehr Erfahrung hatte, konnte deutlich einige Rudimente davon unter den wilden Yahoos erkennen.

Aber die Houyhnhnms, die unter der Regierung der Vernunft leben, sind auf die guten Eigenschaften, die sie besitzen, so wenig stolz, wie ich es darauf sein könnte, dass mir nicht ein Arm oder ein Bein fehlt, denn dessen könnte sich kein Mensch rühmen, solange er bei Verstande ist, wiewohl er ohne sie elend wäre. Ich verweile auf diesem Gegenstand so lange, weil ich wünsche, die Gesellschaft eines englischen Yahoo auf jede Weise zu etwas nicht ganz Unerträglichem zu machen; und deshalb flehe ich hier alle an, die auch nur eine Spur dieses widersinnigen Lasters besitzen, dass sie sich nicht anmassen mögen, mir vor die Augen zu kommen.

 


 


 << zurück