Jonathan Swift
Gullivers Reisen
Jonathan Swift

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel III.

Ein Phänomen, das durch die moderne Philosophie und Astronomie gelöst ist. Die grossen Fortschritte der Laputianer in der zweiten Wissenschaft. Wie der König Empörungen unterdrückt.

Ich bat diesen Fürsten um Erlaubnis, mir die Sehenswürdigkeiten der Insel anzusehn, und er geruhte huldvollst, sie mir zu gewähren, indem er meinem Lehrer befahl, mich zu begleiten. Ich wünschte vor allem zu erfahren, welcher Ursache, sei es einer künstlichen oder natürlichen, sie ihre verschiedenen Bewegungen verdanke; und darüber will ich dem Leser jetzt einen philosophischen Bericht erstatten.

Die Fliegende oder Schwimmende Insel ist genau kreisrund; ihr Durchmesser beträgt 7837 Meter oder etwa viereinehalbe Meile, und also enthält sie zehntausend Morgen Landes. Sie ist dreihundert Ellen dick. Der Boden oder die untere Fläche, die denen sichtbar ist, die von unten empor blicken, besteht aus einer ebnen, regelmässigen Magnetplatte, die sich nach oben bis zur Höhe von etwa zweihundert Ellen erstreckt. Darüber liegen die verschiedenen Mineralien in ihrer gewöhnlichen Reihenfolge, und das ganze bedeckt eine Schicht reiche Humuserde von zehn oder zwölf Fuss Tiefe. Die Senkung der Oberfläche vom Umfang her zum Mittelpunkt ist die natürliche Ursache, weshalb aller Tau und Regen, der auf die Insel fällt, in kleinen Bächlein zur Mitte hin rinnt, wo sich die ganze Feuchtigkeit in vier grossen Becken sammelt, deren jedes etwa eine halbe Meile Umfang hat und zweihundert Ellen vom eigentlichen Mittelpunkt entfernt liegt. Aus diesen Becken verdunstet das Wasser während des Tages in der Sonne, und das verhindert wirkungsvoll ein Überfliessen. Ausserdem steht es in der Macht des Monarchen, die Insel über die Region der Wolken und Dünste zu erheben, und also kann er, so oft es ihm beliebt, verhindern, dass Tau und Regen fällt. Denn die höchsten Wolken steigen nicht höher empor als zwei Meilen über der Erde; darin sind sich alle Naturkundigen einig; wenigstens haben sie es, soweit bekannt, in jenem Lande nie getan.

Im Mittelpunkt der Insel befindet sich ein Loch von etwa fünfzig Ellen Durchmesser; dort steigen die Astronomen in ein grosses Gewölbe hinunter, das deshalb auch »Flandona Gagnole« oder die Astronomenhöhle heisst und in einer Tiefe von hundert Ellen unter der obern Fläche des Magnets liegt. In dieser Höhle brennen beständig zwanzig Lampen, die vermöge der Spiegelkraft des Magnetstahls in alle Winkel starkes Licht werfen. Der Raum ist versehn mit einer grossen Fülle verschiedener Sextanten, Quadranten, Teleskope, Astrolabien und andrer astronomischer Instrumente. Aber die grösste Sehenswürdigkeit, von der das Schicksal der Insel abhängt, ist ein Magnetstein von fabelhafter Grösse, der seiner Form nach etwa einer Weberspuhle gleicht. Er ist sechs Ellen lang und an der dicksten Stelle mindestens drei Ellen dick. Dieser Magnetstein wird von einer sehr starken Stahlaxe gehalten, die ihn in der Mitte durchläuft; um sie ist er drehbar, und er ist so genau ausgewogen, dass die schwächste Hand ihn in Bewegung setzen kann. Er wird umschlossen von einem hohlen Stahlzylinder, der vier Fuss tief und ebenso dick ist und einen Durchmesser von zwölf Ellen hat. Der steht horizontal und wird von acht stählernen Füssen getragen, deren jeder sechs Ellen hoch ist. In der Mitte der hohlen Seite befindet sich ein zwölf Zoll tiefes Loch, in dem das Ende der Achse ruht und sich je nach Bedarf auch dreht.

Der Stein lässt sich durch keine Kraft von seiner Stelle bringen, weil die Zylinderhülle und ihre Füsse mit jener Stahlplatte, die den Boden der Insel bildet, aus einem Stück bestehn.

Kraft dieses Magnetsteins wird die Insel gehoben und gesenkt und von einer Stelle zur andern bewegt. Denn dem Teil der Erde gegenüber, den der Monarch beherrscht, ist der Stein auf seiner einen Seite mit der Kraft der Anziehung begabt, auf der andern aber mit der der Abstossung. Wenn man also den Magneten senkrecht aufstellt, so dass das anziehende Ende der Erde zugekehrt ist, dann senkt sich die Insel; wenn aber das abstossende Ende nach unten zeigt, so steigt die Insel senkrecht empor. Und wenn die Lage des Steins eine schräge ist, so ist auch die Bewegung der Insel schräg. Denn bei diesem Magneten wirken die Kräfte stets in Linien, die seiner Richtung parallel laufen.

Durch diese schräge Richtung wird die Insel in die verschiedenen Teile der Besitzungen des Monarchen befördert. Um die Art ihrer Fortbewegung zu verdeutlichen, möge A B eine Linie quer durch die Gebiete von Balnibari bedeuten, c d aber den Magnetstein; d sei das abstossende, c das anziehende Ende, und die Insel schwebe über C. Der Stein also werde in die Lage c d gebracht, und zwar mit dem abstossenden Ende nach unten. Dann wird die Insel bis D schräg nach oben getrieben. Wenn sie bei D angelangt ist, werde der Stein um seine Achse gedreht, bis sein anziehendes Ende auf E zeigt, und die Insel gleitet schräg abwärts nach E; wenn dann dort der Stein wieder um seine Achse gedreht wird, bis er in der Richtung E F steht, und zwar mit dem abstossenden Ende nach unten, so wird die Insel schräg nach F steigen, von wo sie durch eine Wendung des anziehenden Endes nach G befördert wird, und schliesslich von G nach H, indem man den Stein so dreht, dass sein abstossendes Ende direkt nach unten zeigt. Und so lässt man die Insel, indem man die Stellung des Steins so oft ändert, wie es nötig ist, abwechselnd in schräger Richtung steigen und fallen, und durch dieses abwechselnde Steigen und Fallen (dessen Neigungswinkel nicht sehr gross ist) aus einem Teil des Reichs in den andern befördern.

Es ist aber zu bemerken, dass diese Insel sich nicht über die Grenzen des untern Reichs hinaus bewegen kann; auch kann sie sich nicht in eine Höhe von mehr als vier Meilen erheben. Die Astronomen (die grosse Systeme über den Stein geschrieben haben) geben dafür die folgenden Gründe an: die magnetische Kraft wirkt nicht über einen Abstand von vier Meilen hinaus; und das Gestein, das im Innern der Erde und von unter dem Meere her bis zu einer Entfernung von sechs Meilen von der Küste auf den Magneten einwirkt, erstreckt sich nicht durch den ganzen Erdball, sondern endet an den Grenzen der Besitzungen des Königs; und mit dem grossen Vorteil, den dem Fürsten eine so erhöhte Lage bot, war es leicht, sich alle Länder zu unterwerfen, die innerhalb der Anziehungskraft seines Magneten lagen. Wenn der Stein dem Horizont parallel gestellt wird, steht die Insel still; denn in dem Fall sind seine Enden von der Erde gleich weit entfernt und wirken also auch mit gleicher Kraft; das eine zieht hinab, das andre treibt hinauf, und also kann keine Bewegung erfolgen.

Dieser Magnetstein ist der Aufsicht gewisser Astronomen unterstellt, die ihm von Zeit zu Zeit die Richtung geben, die der Monarch befiehlt. Den grösseren Teil ihres Lebens verbringen sie mit der Beobachtung der Himmelskörper, und die Gläser, die sie dabei zu Hilfe nehmen, übertreffen die unsern an Güte ganz bedeutend. Denn obgleich ihre grössten Teleskope nicht über drei Fuss lang sind, vergrössern sie weit stärker als die von hundert Fuss Länge bei uns, und sie zeigen die Sterne mit weit grösserer Deutlichkeit. Dieser Vorteil hat sie instand gesetzt, ihre Entdeckungen viel weiter auszudehnen als unsre Astronomen in Europa; denn sie haben ein Verzeichnis von zehntausend Fixsternen aufgestellt, während unsre grössten nicht mehr als ein Drittel dieser Zahl enthalten. Sie haben ferner zwei kleinere Sterne oder Satelliten entdeckt, die sich um den Mars drehn, von denen der innere von dem Hauptstern um genau drei seiner Durchmesser entfernt ist, der äussere aber um fünf; jener vollendet seinen Umlauf in zehn Stunden, dieser in zwanzig und einer halben; so dass die Quadrate ihrer Perioden unter sich fast im selben Verhältnis stehn, wie die Kuben ihrer Entfernungen vom Marsmittelpunkt; was offenbar beweist, dass sie von demselben Gravitationsgesetz beherrscht werden, das auch die andern Himmelskörper lenkt.

Tafel V

Sie haben dreiundneunzig verschiedene Kometen beobachtet und ihre Bahnen mit grosser Genauigkeit berechnet. Wenn das wahr ist (und sie behaupten es sehr zuversichtlich), so wäre sehr zu wünschen, dass sie ihre Beobachtungen veröffentlichten, damit die Theorie der Kometen, die vorläufig noch sehr lahm und mangelhaft ist, zu derselben Vollkommenheit gebracht werde, wie die andern Gebiete der Astronomie.

Der König wäre der unumschränkteste Fürst des Weltalls, wenn er nur ein Ministerium dazu gewinnen könnte, sich ihm anzuschliessen; da aber die Minister ihre Besitzungen unten auf dem Lande haben und sich sagen, dass die Stellung eines Günstlings etwas höchst Unsicheres ist, so wollen sie niemals einwilligen, ihr Land in die Sklaverei zu schicken.

Wenn irgend eine Stadt sich empört oder meutert oder innerlich heftig zerfällt oder sich weigert, den gewöhnlichen Tribut zu zahlen, so hat der König zwei Methoden, sie zum Gehorsam zu zwingen. Der erste und der mildere Weg ist der, dass er die Insel über einer solchen Stadt und ihrer Umgebung schweben lässt, wodurch er sie der Wohltat des Sonnenscheins und des Regens beraubt und also den Bewohnern Hungersnot und Krankheiten auferlegt. Und wenn ihr Verbrechen es verdient, so werden sie zugleich von oben mit grossen Steinen beworfen, wogegen sie sich nicht anders schützen können, als dass sie in Keller und Höhlen kriechen, während die Dächer ihrer Häuser in Stücke geschlagen werden. Wenn sie aber selbst dann noch hartnäckig bleiben oder Miene machen, eine Empörung zu unternehmen, so greift er zu dem letzten Mittel, indem er ihnen die Insel geradenwegs auf den Kopf fallen lässt, so dass Menschen wie Häuser allgemein vernichtet werden. Dies ist jedoch eine äusserste Massregel, zu der der Fürst selten getrieben wird, und er führt sie auch nicht gern aus; seine Minister aber wagen ihm niemals eine Handlungsweise anzuraten, die sie einesteils dem Volk verhasst machen würde, andrerseits aber auch ihre eignen Güter, die alle unten liegen (denn die Insel ist Krongut des Königs) schwer beschädigen müsste.

Aber freilich ist noch ein gewichtigerer Grund vorhanden, weshalb die Könige dieses Landes stets eine Abneigung dagegen gehabt haben, ein so furchtbares Gericht zu vollziehn, es sei denn in der äussersten Not. Denn wenn die Stadt, die vernichtet werden soll, etwa grosse Felsen enthält, wie es in den grössern Städten gemeinhin der Fall ist (und wahrscheinlich wurde eine solche Lage von Anfang an gewählt, um eine solche Katastrophe zu verhindern), oder wenn sie reich ist an grossen Türmen oder steinernen Säulen, so könnte ein plötzlicher Fall den Boden oder die untere Fläche der Insel gefährden, denn obwohl sie, wie ich bereits gesagt habe, aus einem einzigen, zweihundert Ellen dicken Magneten besteht, so könnte sie doch durch einen zu heftigen Stoss springen oder durch eine zu grosse Annäherung an die Feuer der Häuser unten bersten, wie in unsern Kaminen oft die Eisen oder Steinwände bersten. Von all dem ist das Volk wohl unterrichtet, und es weiss, wie weit es seine Hartnäckigkeit treiben kann, wenn es sich um seine Freiheit und seinen Besitz handelt. Und der König lässt, selbst wenn er am schlimmsten provoziert worden und ganz fest entschlossen ist, eine Stadt zu Staub zu zermalmen, die Insel doch nur sehr langsam sinken; angeblich aus Mitleid mit seinem Volk, in Wirklichkeit aber, weil er fürchtet, den stählernen Boden zu sprengen; denn in diesem Fall, das ist die Ansicht all ihrer Philosophen, könnte der Magnetstein die Insel nicht mehr tragen, und die ganze Masse würde zu Boden stürzen.

Etwa drei Jahre vor meiner Ankunft unter ihnen ereignete sich, als der König über seine Besitzungen dahinzog, etwas ganz Ausserordentliches, was dem Schicksal jener Monarchie, wenigstens wie sie jetzt eingerichtet ist, fast ein Ziel gesetzt hätte. Lindalino, die zweite Stadt des Königreichs, war die erste, die Seine Majestät auf seinem Zuge besuchte. Drei Tage nach seinem Aufbruch schlossen die Einwohner, die sich stets über grosse Bedrückung beklagt hatten, die Tore, ergriffen den Statthalter und errichteten mit unglaublicher Geschwindigkeit und Anstrengung vier hohe Türme, einen in jeder Ecke der Stadt (die ein genaues Viereck ist); sie waren an Höhe einem starken, spitzen Felsen gleich, der genau im Mittelpunkt der Häussermassen steht. Auf der Spitze jedes Turms sowohl wie auf dem Felsen brachten sie einen grossen Magnetstein an, und für den Fall, dass ihr Plan fehlschlagen sollte, hatten sie eine ungeheure Menge leicht brennbarer Feurung herbeigeschafft, vermöge derer sie den stählernen Boden der Insel zum Bersten zu bringen hofften, wenn etwa die Magnetsteine nicht wirkten.

Es dauerte acht Monate, ehe der König genaue Kunde erhielt, dass die Lindalinianer in Empörung seien. Da aber befahl er sofort, die Insel über die Stadt zu bringen. Das Volk war sich völlig einig; Vorräte hatte man in Menge aufgespeichert, und mitten durch die Stadt fliesst ein grosser Fluss. Der König blieb mehrere Tage über ihr schweben, um sie der Sonne und des Regens zu berauben. Er befahl, viele Bindfäden hinabzulassen, doch niemand machte Miene, eine Bittschrift hinaufzusenden; statt dessen kamen viele verwegne Forderungen: Abstellung aller Missstände, grosse Freiheiten, die Wahl ihres eignen Statthalters und ähnliche Ungeheuerlichkeiten betreffend. Da befahl seine Majestät allen Einwohnern der Insel, von der untern Galerie aus grosse Steine in die Stadt hinabzuwerfen; aber die Bürger hatten gegen dieses Unheil vorgesorgt, indem sie sich mit ihrer Habe in die vier Türme und andre feste Bauten und unterirdischen Gewölbe begaben.

Als nun der König schliesslich beschloss, dieses stolze Volk zu bezwingen, gab er Befehl, dass die Insel sich langsam bis auf vierzig Ellen über die Spitzen des Felsens und der Türme senken sollte. Das also geschah; doch die bei der Ausführung des Befehls beschäftigten Beamten merkten, dass der Abstieg viel schneller von statten ging als gewöhnlich, und als sie den Magnetstein drehten, gelang es ihnen nur mit Mühe, sie zum Stillstand zu bringen; und die Insel verriet die Neigung, zu fallen. Sie schickten dem König sofort Nachricht von dieser erstaunlichen Erscheinung, und baten Seine Majestät um Erlaubnis, die Insel wieder zu heben. Der König willigte ein, es wurde ein Staatsrat berufen und die Beamten des Magnetsteins wurden entboten. Einer der ältesten und erfahrensten unter ihnen erhielt die Erlaubnis, ein Experiment zu versuchen. Er nahm eine lange Leine von hundert Ellen, und nachdem die Insel oberhalb der Stadt über die Anziehungskraft, die sie gespürt hatten, hinaus gehoben worden war, befestigte er am Ende seiner Leine ein Stück Stahl, das eine Mischung von Eisenerz enthielt, zusammengesetzt wie das, aus dem der Boden oder die untere Fläche der Insel besteht; das liess er von der untern Galerie aus langsam auf die Spitze der Türme herab. Der Stahl war noch keine vier Ellen gesunken, so fühlte der Beamte auch schon, wie er so kräftig hinunter gezogen wurde, dass er ihn kaum wieder hinaufziehn konnte. Da warf er mehrere kleine Stahlstücke hinab und konnte beobachten, dass sie alle heftig von der Spitze des Turms angezogen wurden. Das gleiche Experiment machte man mit den drei andern Türmen und dem Felsen; stets mit dem gleichen Ergebnis.

Dieser Zwischenfall entkräftete des Königs Massregeln vollständig, und (um nicht länger bei weitern Einzelheiten zu verweilen) er war gezwungen, sich mit der Stadt zu ihren Bedingungen zu einigen.

Ein grosser Minister versicherte mir, dass die Bürger, wenn die Insel der Stadt nahe genug gekommen wäre, um sich nicht wieder erheben zu können, entschlossen waren, sie auf ewig festzuhalten, den König und all seine Diener zu töten und die Regierung völlig zu wandeln.

Nach einem Grundgesetz des Reiches darf weder der König noch einer seiner beiden ältesten Söhne die Insel je verlassen; und auch die Königin darf es erst, wenn sie über die Zeit des Gebärens hinaus ist.


 << zurück weiter >>