Jonathan Swift
Gullivers Reisen
Jonathan Swift

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Kapitel VIII.

Der König und die Königin unternehmen eine Reise an die Grenzen. Der Verfasser begleitet sie. Die Art, wie er das Land verlässt, wird in grosser Ausführlichkeit geschildert. Er kehrt nach England zurück.

Ich hatte stets den starken Drang, mir eines Tages meine Freiheit zurückzuerobern, obwohl ich nicht vermuten konnte, auf welche Art und Weise, und kein Plan mir die geringste Aussicht auf ein Gelingen bot. Das Schiff, auf dem ich gesegelt hatte, war, soweit bekannt, das erste, das je an seine Küste getrieben wurde, und der König hatte strengen Befehl erteilt, dass, wenn je ein zweites auftauchen sollte, es ans Land geholt und mitsamt seiner Mannschaft und seinen Passagieren auf einem Karren nach Lorbrulgrud gebracht würde. Ihm lag viel daran, mir eine Frau meiner eignen Grösse zu verschaffen, so dass ich die Rasse fortpflanzen könnte: aber ich glaube, ich wäre eher gestorben, als dass ich mich der Schmach gefügt hätte, eine Nachkommenschaft zu hinterlassen, die wie zahme Kanarienvögel in Käfigen gehalten würde, um dann vielleicht mit der Zeit im ganzen Königreich als Kuriosität an vornehme Leute verkauft zu werden. Ich selbst freilich wurde sehr freundlich behandelt: ich war der Günstling eines grossen Königs und einer Königin und das Entzücken des ganzen Hofs; aber ich nahm doch eine Stellung ein, wie sie der Würde eines Menschen wenig angemessen ist. Ich konnte niemals meine Familie vergessen, die ich hinter mir gelassen hatte. Ich sehnte mich danach, unter Menschen zu sein, mit denen ich auf gleichem Fuss verkehren konnte, in den Strassen und über die Felder zu gehn, ohne fürchten zu müssen, dass man mich wie einen Frosch oder einen jungen Hund zerträte. Aber meine Befreiung kam schneller, als ich gedacht hatte, und auf eine nicht gerade gewöhnliche Art und Weise; ich will die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten getreulich berichten.

Ich war nun schon zwei Jahre in diesem Lande; und um den Anfang des dritten begleiteten Glumdalklitsch und ich den König und die Königin auf einer Reise an die Südküste des Reichs. Ich wurde wie gewöhnlich in meiner Reiseschachtel mitgenommen, die, wie ich sie bereits geschildert habe, ein bequemes Zimmer von zwölf Fuss im Geviert darstellte. Und ich hatte an seidenen Stricken von den vier Ecken der Decke aus eine Hängematte anbringen lassen, um die Stösse abzuschwächen, wenn mich ein Diener, wie ich es bisweilen wünschte, zu Pferde vor sich nahm; und oft schlief ich, wenn wir unterwegs waren, in meiner Hängematte. Im Dach meiner Kammer liess ich mir von dem Tischler genau über der Mitte meiner Hängematte ein Loch von einem Quadratfuss anbringen, damit bei heissem Wetter, während ich schlief, die Luft eindringen könnte; dieses Loch konnte ich nach Belieben mit einem Brett verschliessen, das in einer Schiene hin und her lief.

Als wir das Ziel unsrer Reise erreichten, gefiel es dem König, einige wenige Tage in einem Palast zu verbringen, der ihm gehörte und der in der Nähe von Flanflasnik lag, einer Stadt, achtzehn englische Meilen von der Meeresküste entfernt. Glumdalklitsch und ich waren sehr angestrengt; ich hatte eine leichte Erkältung, aber das arme Mädchen war so krank, dass es ihr Zimmer hüten musste. Ich sehnte mich nach dem Anblick des Ozeans, der der einzige Schauplatz meiner Flucht sein konnte, wenn sie je stattfinden sollte. Ich stellte mich kränker, als ich war und bat um die Erlaubnis, die frische Seeluft geniessen zu dürfen; ein Page, den ich sehr liebte, und dem man mich zuweilen anvertraut hatte, möge mich begleiten. Ich werde es nie vergessen, wie widerwillig Glumdalklitsch ihre Zustimmung gab, noch auch, wie streng sie dem Pagen befahl, gut auf mich zu achten, wobei sie in einen Tränenstrom ausbrach, als hätte sie geahnt, was geschehn sollte. Der Knabe nahm mich in meiner Schachtel mit auf dem halbstündigen Spaziergang bis zu den Felsen der Küste. Ich befahl ihm, mich niederzusetzen; und indem ich eins meiner Fenster öffnete, warf ich manchen spähenden, melancholischen Blick aufs Meer hinaus. Ich fühlte mich nicht sehr wohl und sagte dem Pagen, ich wollte ein wenig in meiner Hängematte schlafen; ich hoffe, das werde mir gut tun. Ich legte mich hinein, und der Knabe schloss das Fenster, um die Kälte auszuschliessen. Ich schlief bald ein und meine ganzen Vermutungen beschränken sich auf Folgendes: während ich schlief, wird der Page, im Glauben, es könne keinerlei Gefahr eintreten, in die Felsen gestiegen sein, um nach Vogeleiern auszuschaun; denn ich hatte schon zuvor durch mein Fenster beobachtet, wie er suchte und in den Felsspalten eins oder zwei auflas. Doch dem sei wie ihm wolle, ich erwachte jäh durch einen gewaltsamen Ruck an dem Ring, der auf dem Dach meiner Schachtel angebracht war, um sie bequemer tragen zu können. Ich fühlte, wie meine Schachtel sehr hoch in die Luft emporgehoben wurde, um dann in fabelhafter Geschwindigkeit vorwärts getragen zu werden. Der erste Stoss hätte mich fast aus meiner Hängematte herausgeschleudert, nachher aber war die Bewegung sehr glatt. Ich schrie mehrmals auf, so laut ich meine Stimme erheben konnte, aber es war ganz zwecklos. Ich sah durch meine Fenster, aber ich konnte nichts erkennen als die Wolken und den Himmel. Genau über meinem Kopf hörte ich ein Geräusch wie von Flügelschlagen, und jetzt begann ich zu merken, in welcher grauenhaften Lage ich war. Irgend ein Adler hatte den Ring meiner Schachtel mit dem Schnabel aufgegriffen, um sie wie eine Schildkröte in ihrer Schale auf irgend einen Felsen fallen zu lassen und meinen Leib herauszupicken und zu verschlingen. Denn der Scharfsinn und die Witterung dieses Vogels setzten ihn instand, sein Wild auf grosse Entfernungen zu entdecken, wäre es auch noch besser versteckt, als ich es hinter meinen zwei Zoll dicken Brettern sein konnte.

Nach kurzer Weile merkte ich, dass das Geräusch des Flügelschlagens sehr viel schneller wurde, und meine Schachtel wurde wie ein Signalpfosten an einem windigen Tag auf und nieder geschleudert. Ich hörte, wie anscheinend dem Adler mehrere Schläge oder Stösse versetzt wurden (denn dass es ein Adler war, was den Ring meiner Schachtel im Schnabel hielt, davon bin ich überzeugt); und dann fühlte ich plötzlich, wie ich über eine Minute lang senkrecht hinunterfiel, und zwar mit so unglaublicher Geschwindigkeit, dass mir fast der Atem verging. Mein Fall endete mit einem furchtbaren Klatschen, das mir lauter in die Ohren klang, als der Katarakt des Niagara; dann war ich eine weitere Minute ganz in Dunkelheit, und schliesslich stieg meine Schachtel von neuem so hoch, dass ich oben durch meine Fenster Licht sehn konnte. Ich merkte jetzt, dass ich ins Meer gefallen war. Meine Schachtel schwamm durch das Gewicht meines Körpers, der Gegenstände, die sich darin befanden, und der breiten Eisenplatten, die zur Verstärkung in den vier Ecken der Decke und des Bodens angebracht waren, etwa fünf Fuss tief im Wasser. Ich nahm sofort an, und glaube es noch jetzt, dass der Adler, der mit meiner Schachtel entflog, von zwei oder drei andern verfolgt wurde und gezwungen war, mich fallen zu lassen, während er sich gegen die andern verteidigte, die seine Beute zu teilen hofften. Die Eisenplatten, die am Boden der Schachtel befestigt waren, hielten (denn sie waren die stärksten) den ganzen Bau während des Falles im Gleichgewicht und schützten ihn davor, auf der Oberfläche des Wassers zu zerschellen. Die Fugen waren gut verzahnt, und die Tür lief nicht in Angeln, sondern in Schienen wie ein Schiebefenster; und das hielt meine Kammer so dicht, dass nur sehr wenig Wasser eindrang. Ich stieg, nachdem ich zuvor den Schiebeverschluss des Daches, den ich bereits erwähnt habe, und der eigens dazu angebracht war, um Luft hereinzulassen, zurückgeschoben hatte, da ich aus Mangel an ihr fast erstickte, mit vieler Mühe aus der Hängematte.

Wie oft wünschte ich nun bei meiner lieben Glumdalklitsch zu sein, von der mich eine einzige Stunde so weit getrennt hatte! Und ich kann in aller Wahrheit sagen, dass ich mitten in meinem Unglück nicht umhin konnte, meine arme Amme zu beklagen und an den Schmerz zu denken, den mein Verlust ihr bereiten musste, da sie des Missvergnügens der Königin und ihres Sturzes in der Gunst gewiss war. Vielleicht haben nicht viele Reisende unter grössern Schwierigkeiten und grösserer Not gelebt als ich in dieser Lage, während ich jeden Augenblick erwarten musste, meine Schachtel zerschmettert, oder wenigstens vom ersten heftigen Windstoss oder jeder steigenden Woge umgeworfen zu sehn. Ein Sprung in einer einzigen Glasscheibe wäre der unmittelbare Tod gewesen; und nichts hätte die Fenster zu schützen vermocht, wären nicht die starken Drahtgitter gewesen, die sie auf Reisen vor Unfällen sichern sollten. Ich sah, wie durch mehrere Fugen das Wasser eindrang, wenn auch nirgends ein nennenswertes Leck vorhanden war, und ich versuchte, sie, so gut ich konnte, zu verstopfen. Das Dach meiner Kammer vermochte ich nicht zu heben, sonst hätte ich es sicherlich getan, um mich oben darauf zu setzen, wo ich mich wenigstens ein paar Stunden länger hätte halten können, als jetzt, eingeschlossen in dem Gefängnis, wie ich es wohl nennen kann. Und wenn ich auch diesen Gefahren ein oder zwei Tage lang entging, was konnte ich anders erwarten, als einen elenden Tod durch Kälte und Hunger? Vier Stunden lebte ich in dieser Lage, und derweilen erwartete ich, ja wünschte ich mit jedem Augenblick, es möge mein letzter sein.

Ich habe dem Leser bereits gesagt, dass an der fensterlosen Seite meiner Schachtel zwei starke Klammern angebracht waren, in die der Diener, der mich zu Pferde zu tragen hatte, einen ledernen Riemen zog, um ihn sich an den Gürtel zu schnallen. Als ich nun in dieser trostlosen Lage war, hörte ich (oder meinte wenigstens es zu hören) ein scharrendes Geräusch auf der Seite der Kammer, an der die Klammern angebracht waren; und bald darauf begann ich zu glauben, dass die Schachtel durchs Meer gezogen oder getaut wurde; denn hin und wieder spürte ich einen Ruck, der die Wogen am obern Ende meiner Fenster in die Höhe trieb, so dass ich fast im Dunkeln war. Das weckte eine schwache Hoffnung auf Rettung in mir, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wie es zustande kommen mochte. Ich wagte es, einen meiner Stühle, die stets an dem Boden befestigt waren, loszuschrauben; und indem ich ihn mit vieler Mühe genau unter dem Gleitbrett, das ich zuvor geöffnet hatte, wieder festschraubte, stieg ich hinauf, hielt meinen Mund, so dicht ich konnte, an das Luftloch und rief mit lauter Stimme und in allen Sprachen, die ich kannte, um Hilfe. Schliesslich band ich auch mein Taschentuch an einen Spazierstock, den ich meist bei mir hatte, streckte ihn durch das Loch hinauf und schwang ihn mehrmals in der Luft, damit, wenn etwa ein Boot oder ein Schiff in der Nähe wäre, die Seeleute sich denken könnten, dass in der Schachtel ein unglücklicher Sterblicher eingeschlossen war.

Ich merkte nicht, dass irgend etwas, was ich tat, eine Wirkung gehabt hätte, aber ich erkannte jetzt klar, dass meine Kammer sich vorwärts bewegte; und nach etwa einer Stunde oder etwas mehr schlug die Seite der Schachtel, an der sich die Klammern befanden und die keine Fenster hatte, gegen etwas Hartes. Ich fürchtete, es möchte ein Fels sein, und ich wurde stärker umhergestossen als je. Auf der Decke meiner Kammer hörte ich deutlich ein Geräusch, das dem eines Taus glich und das zu scharren begann, als es durch den Ring lief. Dann merkte ich, wie ich allmählich um mindestens drei Fuss höher gehoben wurde, als ich mich zuvor befunden hatte. Und von neuem streckte ich den Stock mit dem Taschentuch hinaus, indem ich um Hilfe rief, bis ich fast heiser war. Ich hörte jetzt auch ein Trampeln über meinem Kopf, und alsbald rief jemand mit lauter Stimme in englischer Sprache durchs Loch herab: »Wenn jemand dort unten ist, so möge er sprechen!« Ich erwiderte, ich sei ein Engländer, den sein Unglück in die grösste Notlage gebracht habe, die je ein menschliches Geschöpf erfahren habe; und ich bat bei allem, was rühren konnte, mich aus dem Gefängnis, in dem ich sässe, zu befreien. Die Stimme erwiderte, ich sei in Sicherheit, denn meine Schachtel sei an ihrem Schiff befestigt und der Zimmermann würde sofort herabkommen und ein Loch ins Dach sägen, das gross genug sei, um mich herauszuziehen. Ich rief hinauf, das sei nicht nötig und würde zu lange dauern, denn es brauche nichts weiter zu geschehn, als dass einer von der Mannschaft den Finger in den Ring steckte und die Schachtel aus dem Wasser ins Schiff und in die Kabine des Kapitäns höbe. Manche von ihnen glaubten, als sie mich so sinnlose Reden führen hörten, dass ich wahnsinnig sei; andre lachten. Mir aber war es noch nicht in den Sinn gekommen, dass ich wieder unter Menschen meiner eignen Statur und Kraft gelangt war. Der Zimmermann kam und sägte in wenigen Minuten ein Loch von etwa vier Quadratfuss in die Decke und liess eine kleine Leiter hinab, auf der ich hinaufstieg, um dann in sehr geschwächtem Zustand ins Schiff hinübergenommen zu werden.

Die Seeleute schwebten alle in höchstem Staunen und stellten mir tausend Fragen, auf die zu antworten ich keine Lust verspürte. Ich selbst war ebenso verwirrt über den Anblick so vieler Pygmäen, denn dafür hielt ich sie, nachdem ich meine Augen so lange an die ungeheuren Wesen gewöhnt hatte, die hinter mir geblieben waren. Als aber der Kapitän, Herr Thomas Wilcocks, ein würdiger, ehrlicher Mann aus Shropshire, sah, dass ich einer Ohnmacht nahe war, führte er mich in seine Kabine, gab mir ein Stärkungsmittel und liess mich auf seinem eignen Bett liegen, indem er mir riet, mich ein wenig auszuruhn, denn ich hätte es sehr nötig. Ehe ich schlafen ging, gab ich ihm zu verstehn, dass ich in meiner Schachtel einige wertvolle Einrichtungsgegenstände hätte, die zu gut dazu seien, um einfach verloren zu gehn; eine schöne Hängematte, ein hübsches Feldbett, zwei Stühle, einen Tisch und einen Schrank: dass meine Kammer auf allen Seiten mit Seide und Baumwolle verhangen oder vielmehr gepolstert sei: und wenn er also einem aus seiner Mannschaft befehlen wolle, meine Kammer in seine Kabine zu bringen, so würde ich sie vor seinen Augen öffnen und ihm alles zeigen. Als der Kapitän mich solche Absurditäten reden hörte, zog er den Schluss, dass ich irre sei; er versprach mir jedoch (ich vermute, um mich zu beruhigen), den gewünschten Befehl zu erteilen; und indem er auf Deck ging, schickte er einige seiner Leute in meine Kammer hinunter, aus der sie (wie ich später erkannte) all meine Sachen herausholten und die Polsterung herunterrissen, die Stühle, der Schrank und die Bettstelle aber wurden, da sie an den Boden geschraubt waren, infolge der Unwissenheit der Seeleute, die sie mit Gewalt losrissen, sehr beschädigt. Dann schlugen sie sich ein paar der Bretter los, die sie für ihr Schiff gebrauchen konnten, und liessen, als sie alles hatten, was sie sich wünschten, die leere Schale ins Meer zurückfallen; und infolge der vielen Breschen im Boden und in den Seiten, sank sie senkrecht unter. Und wahrlich, ich freute mich, dass ich bei dem Zerstörungswerk nicht zugeschaut hatte, denn ich bin überzeugt, es hätte mich empfindlich geschmerzt, indem es mir frühere Dinge ins Gedächtnis rief, die ich lieber vergass.

Ich schlief ein paar Stunden hindurch, aber mich störten fortwährend Träume von den Gegenden, die ich verlassen hatte, und den Gefahren, denen ich entronnen war. Doch fühlte ich mich, als ich erwachte, weit wohler. Es war etwa acht Uhr abends, und der Kapitän bestellte auf der Stelle das Nachtmahl, da er glaubte, ich hätte schon allzu lange gefastet. Er bewirtete mich sehr freundlich, denn er sah, dass ich weder irr dreinblickte noch zusammenhangslos redete: und als wir allein blieben, bat er mich, ihm einen Bericht über meine Reisen zu geben und ihm zu sagen, durch welchen Zufall ich in jener ungeheuren hölzernen Kiste auf dem Meer ausgesetzt worden sei. Er sagte, als er gegen zwölf Uhr mittags durch sein Glas spähte, habe er sie in der Ferne entdeckt und für ein Segel gehalten; und er habe es berühren wollen, da es nicht weit von seinem Kurs abfuhr, um vielleicht ein paar Biskuits kaufen zu können; denn seine eignen begännen ihm auszugehn. Als er dann näher kam und seinen Irrtum erkannte, habe er sein Beiboot ausgeschickt, um zu erkunden, was ich wäre. Seine Leute seien in hellem Entsetzen zurückgekommen und hätten geschworen, sie hätten ein schwimmendes Haus gesehn. Er habe über ihre Narrheit gelacht und sei selbst ins Boot gestiegen, indem er seinen Leuten befahl, ein starkes Tau mitzunehmen. Und da die See ganz glatt war, sei er mehrmals um mich herumgerudert, wobei er meine Fenster beobachtete, sowie auch die Drahtgitter, die sie schützten. Er habe an der einen Seite zwei Klammern entdeckt, während die Wand dort ganz aus Brettern bestanden hätte, ohne jeden Durchgang für das Licht. Er habe also seinen Leuten befohlen, an diese Seite heranzurudern, an einer der Klammern ein Tau zu befestigen und meine Kiste (wie er es nannte) zum Schiff zu ziehn. Als sie es erreichten, habe er Anweisung gegeben, ein weiteres Tau durch den Ring im Dach zu legen und meine Kiste mit der Winde hochzuheben, aber all seine Matrosen seien nicht imstande gewesen, sie um mehr als zwei oder drei Fuss in die Höhe zu bringen. Er sagte, sie hätten gesehn, wie ich meinen Stock mit dem Taschentuch durch das Loch hinausstreckte, und daraus geschlossen, dass irgend ein unglücklicher Mensch im Hohlraum eingeschlossen sein müsse. Ich fragte, ob er oder die Mannschaft um die Zeit, als sie mich zuerst entdeckten, irgend welche ungeheuren Vögel in der Luft gesehn hätten. Er erwiderte, darüber habe er mit den Matrosen gesprochen, während ich schlief, und einer von ihnen habe gesagt, er hätte drei Adler nach Norden fliegen sehn, doch habe er nichts davon verlauten lassen, dass sie etwa grösser gewesen wären als gewöhnlich, was, wie ich mir denke, der grossen Höhe zuzuschreiben ist, in der sie flogen. Er aber konnte den Grund meiner Frage nicht erraten. Dann fragte ich den Kapitän, wie weit wir seiner Meinung nach vom Lande entfernt seien; er sagte, nach der genauesten Schätzung, die ihm möglich sei, wären es mindestens hundert Meilen. Ich versicherte ihm, er müsse sich um fast die Hälfte irren, denn ich hätte das Land, aus dem ich gekommen sei, nicht mehr als zwei Stunden, bevor ich ins Meer fiel, verlassen. Da begann er von neuem zu denken, mein Verstand sei gestört; er liess eine Andeutung darüber fallen und riet mir, in einer Kabine, die er mir habe herrichten lassen, zu Bett zu gehn. Ich versicherte ihm, ich sei ganz erfrischt durch seine gute Bewirtung und Gesellschaft und so sehr bei Verstand, wie nur je in meinem Leben. Er aber wurde ernst und bat mich, offen fragen zu dürfen, ob ich nicht durch das Bewusstsein irgend eines ungeheuren Verbrechens geistesgestört sei, für das man mich auf Befehl eines Fürsten bestraft habe, indem man mich in jener Kiste aussetzte, wie wohl auch in andern Ländern schon Verbrecher gezwungen worden seien, in einem lecken Schiff ohne Vorräte in See zu gehn: denn obgleich es ihm leid tun würde, einen so schlimmen Menschen in sein Schiff aufgenommen zu haben, so wolle er doch sein Wort verpfänden, mich im ersten Hafen, den wir erreichten, wohlbehalten an Land zu setzen. Er fügte hinzu, sein Argwohn werde noch sehr verstärkt durch einige absurde Reden, die ich gleich zu Anfang den Matrosen, später aber auch ihm selbst gegenüber über meine Kammer oder Kiste geführt hätte; ferner aber auch durch meine wunderlichen Blicke und mein Benehmen beim Nachtmahl.

Ich bat ihn, geduldig zuzuhören, während ich ihm meine Geschichte erzählte; ich tat es getreulich von dem Augenblick an, in dem ich England zum letzten Mal verlassen hatte, bis er mich zuerst entdeckte. Und da sich die Wahrheit in vernünftigen Seelen stets ihren Weg erzwingt, so überzeugte sich auch dieser ehrliche, würdige Herr, an dem ein wenig Gelehrsamkeit abgefärbt hatte und der sehr gesunden Verstand besass, auf der Stelle von meiner Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit. Zur ferneren Bestätigung all dessen aber, was ich gesagt hatte, flehte ich ihn an, Befehl zu erteilen, dass man meinen Schrank brächte, dessen Schlüssel ich in der Tasche hätte (denn er hatte mir bereits gesagt, wie die Matrosen mit meiner Kammer umgegangen waren). Ich öffnete ihn in seiner Gegenwart und zeigte ihm die kleine Sammlung von Seltenheiten, die ich in jenem Lande angelegt hatte, aus dem ich auf so seltsame Art und Weise befreit worden war. Ich hatte den Kamm, den ich mir aus den Haarstümpfen vom Bart des Königs gemacht hatte, und einen zweiten aus demselben Material, jedoch montiert auf einem Spahn vom Daumennagel Ihrer Majestät, der als Rücken diente. Ich hatte eine Sammlung von Näh- und Stecknadeln, die zwischen einer Länge von einem Fuss und einer halben Elle schwankten; vier Wespenstacheln, die Tischlerstiften glichen: ein paar ausgekämmte Haare der Königin und einen goldnen Ring, den sie mir in sehr liebenswürdiger Weise zum Geschenk gemacht hatte, indem sie ihn vom kleinen Finger zog und mir wie ein Halsband über den Kopf warf. Ich bat den Kapitän, er möchte diesen Ring als Anerkennung seiner Höflichkeiten anzunehmen geruhn, aber er weigerte sich unbedingt. Ich zeigte ihm ein Hühnerauge, das ich mit eigner Hand vom Zeh einer Ehrendame geschnitten hatte; es war etwa so gross wie ein Apfel aus Kent; es war so hart geworden, dass ich es, als ich nach England zurückkehrte, zu einem Becher aushöhlen und in Silber fassen lassen konnte. Zuletzt bat ich ihn, sich die Hose anzusehn, die ich trug und die aus dem Fell einer Maus gemacht war.

Ich konnte ihm nichts aufdrängen ausser dem Zahn eines Lakaien, den er, wie ich bemerkte, mit grosser Neugier betrachtete, woraus ich entnahm, dass er ihn gern besessen hätte. Er nahm ihn mit überströmendem Dank entgegen, mit mehr, als eine solche Kleinigkeit verdiente. Er war einem von Glumdalklitschs Leuten, der Zahnschmerzen hatte, von einem ungeschickten Chirurgen versehentlich gezogen worden, denn er war so gesund wie nur irgend einer in seinem Mund. Ich liess ihn reinigen und legte ihn mir in den Schrank. Er war etwa einen Fuss lang und hatte vier Zoll im Durchmesser.

Der Kapitän war sehr zufrieden mit dem schmucklosen Bericht, den ich ihm gegeben hatte, und er sagte, er hoffe, wenn wir nach England zurückkehrten, würde ich ihn zu Papier bringen und veröffentlichen. Ich erwiderte, meiner Meinung nach seien wir schon überreichlich mit Reisebüchern versehn; nichts könne mehr Erfolg haben, als das ganz Ausserordentliche; mir scheine freilich, dass manche Schriftsteller darin weniger an die Wahrheit dächten als an ihre Eitelkeit, ihr Interesse oder das Vergnügen unwissender Leser. Meine Geschichte könne wenig enthalten ausser ganz gewöhnlichen Ereignissen und müsse jene schmückenden Schilderungen seltsamer Pflanzen, Bäume, Vögel und andrer Tiere oder der barbarischen Sitten und der Götzendienern wilder Völker, von denen die meisten Schriftsteller voll seien, völlig entbehren. Ich dankte ihm jedoch für seine gute Meinung und versprach, mir die Sache zu überlegen.

Er sagte, eins nehme ihn sehr wunder; dass ich nämlich so laut spräche; und er fragte, ob etwa der König oder die Königin jenes Landes schwerhörig wären. Ich sagte ihm, daran hätte ich mich seit mehr als zwei Jahren gewöhnt; und ich wundre mich ebenso sehr über seine und seiner Leute Stimmen, denn mir sei, als flüsterten sie nur, und doch könnte ich sie deutlich hören. Wenn ich aber in jenem Lande gesprochen hätte, so sei es gewesen, wie wenn ein Mensch auf der Strasse mit einem andern spräche, der oben aus einem Kirchturm blicke; es sei denn, dass man mich auf einen Tisch gestellt hatte oder dass mich jemand in seiner Hand hielt. Ich sagte ihm, ich hätte auch noch eins bemerkt; als ich nämlich zuerst ins Schiff gekommen sei und all die Matrosen mich umstanden, da habe ich sie für die kleinsten und verächtlichsten Geschöpfe gehalten, die ich je erblickt hätte. Denn auch während ich im Reiche jenes Königs gewesen sei, habe ich es nie ertragen können, in einen Spiegel zu blicken, nachdem meine Augen sich einmal an so ungeheure Wesen gewöhnt hatten; der Vergleich habe mir einen zu geringen Begriff von mir selber gegeben. Der Kapitän sagte, während wir beim Abendbrot gesessen hätten, habe ich alles mit einer Art Verwunderung angeblickt, und oft habe es ausgesehn, als könnte ich kaum mein Lachen unterdrücken; er habe nicht recht gewusst, wie er das aufnehmen sollte, habe es aber irgend einer Verwirrung in meinem Gehirn zugeschrieben. Ich erwiderte, das sei sehr wahr, und ich wundere mich, wie ich es habe zurückhalten können, als ich seine Schüsseln sah, die so gross seien wie ein silbernes Dreipencestück; der Schweineschinken sei ja kaum ein Bissen, der Becher nicht einmal so gross wie eine Nussschale; und so fuhr ich fort, in derselben Weise auch den Rest des Hausrats und der Speisen zu schildern. Denn obgleich die Königin mir eine kleine Ausstattung mit allem verschafft hatte, was ich brauchte, so lange ich in ihren Diensten stand, so wurden doch meine Gedanken vollständig von dem in Anspruch genommen, was ich auf allen Seiten rings um mich sah; und über meine eigne Kleinheit sah ich hinweg, wie die Menschen über ihre eignen Fehler hinwegsehn. Der Kapitän verstand meine Spötterei sehr gut und erwiderte mit dem alten englischen Sprichwort, dass meine Augen grösser zu sein schienen als mein Magen, denn der scheine nicht so gar gut zu sein, obwohl ich den ganzen Tag hindurch gefastet habe; und indem er seine Scherze fortsetzte, sagte er, er würde gern hundert Pfund dafür geben, wenn er meine Kammer hätte im Schnabel des Adlers und nachher ihren Sturz aus solcher Höhe bis ins Meer hinunter mit ansehn können; das sei sicherlich etwas ganz Erstaunliches gewesen, wert, dass man eine Schilderung davon zukünftigen Generationen übermittelte; und der Vergleich mit Phaeton lag so nahe, dass er ihn nicht unterdrücken konnte, obgleich ich diesen Gedanken nicht sehr bewunderte.

Der Kapitän war in Tonkin gewesen und auf dem Rückweg nach England nordöstlich bis zur einer Breite von vierundvierzig und bis zu einer Länge von hundertdreiundvierzig Grad abgetrieben worden. Da er aber zwei Tage nachdem ich zu ihm an Bord gekommen war, einen Passatwind traf, segelten wir lange nach Süden hin, und an der Küste von Neu-Holland entlang schlugen wir einen westsüdwestlichen Kurs ein, um uns dann nach Südsüdwest zu wenden, bis wir das Kap der guten Hoffnung umfuhren. Unsre Reise war sehr glücklich, aber ich will den Leser nicht mit einem Tagebuch belästigen. Der Kapitän lief in zwei oder drei Häfen an und schickte sein Beiboot nach Vorräten und frischem Wasser aus; ich aber verliess das Schiff nicht ein einziges Mal, bis wir die Rhede der Downs erreichten, was am 3. Juni 1706 geschah, etwa neun Monate nach meiner Entführung. Ich erbot mich, meine Habe als Sicherheit für die Zahlung meiner Überfahrt zurückzulassen: aber der Kapitän beteuerte, er würde keinen Heller annehmen. Wir nahmen freundlichen Abschied von einander, und er musste mir versprechen, mich in meinem Hause in Redriff zu besuchen. Ich mietete mir für fünf Schilling, die ich von dem Kapitän borgte, ein Pferd und einen Führer.

Als ich dann auf der Strasse war und die Kleinheit der Häuser, der Bäume, des Viehs und der Leute bemerkte, begann ich zu glauben, ich sei in Lilliput. Ich fürchtete, jeden Reisenden, den ich begegnete, zu zertreten und rief ihnen oft zu, aus dem Wege zu gehn, so dass ich mir ein- oder zweimal fast einen gebrochenen Schädel für meine Unverschämtheit geholt hätte.

Als ich mein eignes Haus erreichte, nach dem ich zu befragen gezwungen war, und einer der Dienstboten mir die Tür auftat, bückte ich mich (wie eine Gans unter einem Tor) beim Eintreten, um mir nicht den Kopf zu stossen. Mein Weib kam herausgelaufen, um mich zu umarmen, ich aber neigte mich tiefer als bis zu ihren Knien hinab, weil ich glaubte, sie werde sonst nimmermehr imstande sein, meinen Mund zu erreichen. Meine Tochter kniete nieder, um mich um meinen Segen zu bitten, doch sah ich sie nicht eher als bis sie aufstand; so lange war ich daran gewöhnt gewesen, Kopf und Augen zu einer Höhe von mehr als sechzig Fuss zu erheben; und dann hob ich sie mit einer Hand um ihre Hüften auf. Auf die Dienstboten und einen oder zwei Freunde, die im Hause waren, blickte ich hinab, als wären sie Pygmäen und ich ein Riese. Ich sagte meinem Weibe, sie sei zu sparsam gewesen, denn ich fände, sie hätte sich und ihre Tochter zu einem wahren Nichts zusammenhungern lassen. Kurz, ich benahm mich so unerklärlich, dass alle, die mich zuerst sahn, der Meinung des Kapitäns waren und glaubten, ich hätte den Verstand verloren. Ich erwähne das als ein Beispiel der grossen Macht der Gewohnheit und des Vorurteils.

In kurzer Zeit jedoch kamen ich und meine Familie und meine Freunde zur rechten Verständigung: mein Weib aber protestierte dagegen, dass ich je wieder zur See ginge; mein arges Schicksal freilich wollte es so, dass sie keine Macht hatte, mich zurückzuhalten, wie der Leser es später erfahren wird. Inzwischen beschliesse ich hier den zweiten Teil meiner unglücklichen Reisen.

 


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