Jonathan Swift
Gullivers Reisen
Jonathan Swift

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Der Reisen zweiter Teil.
Eine Reise nach Brobdingnag.

Tafel II

Kapitel I.

Schilderung eines grossen Sturms; das Beiboot wird ausgeschickt, um Wasser zu holen; der Verfasser geht mit, um das Land zu erkunden. Er wird an Land zurückgelassen, wird von einem der Eingeborenen aufgegriffen und in das Haus eines Pächters gebracht. Wie er dort aufgenommen wurde, und welche Zufälle sich dort ereigneten. Schilderung der Eingeborenen.

Da mich Natur und Schicksal zu einem tatenreichen und rastlosen Leben verurteilt hatten, verliess ich zwei Monate nach meiner Heimkehr von neuem mein Land und ging auf der Rhede der Downs am 20. Juni 1702 auf der Adventure zu Schiff, die von Kapitän John Nicholas, einem Mann aus Cornwall, befehligt wurde und nach Surat segelte. Wir hatten sehr günstigen Wind, bis wir beim Kap der guten Hoffnung ankamen, wo wir landeten, um frisches Wasser einzunehmen; da wir jedoch ein Leck entdeckten, so löschten wir unsre Waren und überwinterten dort; denn der Kapitän erkrankte an einem Fieber, und so konnten wir das Kap nicht vor Ende des März verlassen. Dann gingen wir wieder unter Segel und hatten eine gute Fahrt, bis wir die Strasse von Madagaskar passierten; doch als wir nördlich von dieser Insel waren und etwa den fünften Grad südlicher Breite erreichten, begannen am neunzehnten April die Winde, die in diesen Meeren sonst, wie man beobachtet hat, von Anfang Dezember bis Anfang Mai in beständiger, gleichmässiger Stärke aus Nordwesten zu blasen pflegen, mit weit grösserer Heftigkeit und westlicher als gewöhnlich zu wehn; und so blieb es zwanzig Tage lang, während welcher Zeit wir bis wenig östlich von den Molucca-Inseln und bis etwa drei Grad nördlich von der Linie getrieben wurden; unser Kapitän stellte das durch eine Beobachtung fest, die er am zweiten Mai aufnahm, denn um diese Zeit liess die Briese nach, und es trat vollständige Windstille ein, worüber ich mich nicht wenig freute. Er aber, der die Seefahrt in diesen Meeren von Grund aus kannte, befahl uns, alles für einen Sturm zu rüsten, der denn auch am folgenden Tage losbrach, da ein südlicher Wind, den man den südlichen Monsun nennt, einzusetzen begann.

Da wir sahn, dass unser Sprietsegel wahrscheinlich über Bord gehn würde, so holten wir es ein und hielten uns bereit, auch unsre Pock aufzubinden; doch da das Wetter immer schlimmer wurde, so sahn wir nach, ob die Geschütze fest standen, und holten das Besansegel ein. Das Schiff nahm breitseits stark über, und daher hielten wir es für besser, vor der See zu lenssen, als völlig beizulegen. Wir refften also die Pock und setzten sie wieder, um sie dann kräftig beizuholen; das Ruder lag schwer in Luv. Das Schiff hielt sich wacker. Wir belegten die vordere Stag; aber das Segel war zerrissen, und wir mussten die Stange niederlegen, um das Segel ins Schiff zu nehmen, und alles losbinden, was klar von ihm stand. Es war ein wilder Sturm, und die See brach in merkwürdiger und gefährlicher Weise. Wir legten uns bei der Talje des Kolderstocks ein und halfen dem Mann am Ruder. Den Grossmast wollten wir nicht niedernehmen, sondern alles stehn lassen, denn das Schiff lief ganz gut vor der See und wir wussten, dass es um so stetiger blieb, so lange der Mast oben stand, und dass es bessre Fahrt machte, zumal wir raume See hatten. Als der Sturm vorüber war, setzten wir Fock und Grosssegel und holten das Schiff in den Wind. Und schliesslich setzten wir auch Besan, Grosstop und Vortop. Unser Kurs lief Ost-Nord-Ost, der Wind kaum aus Südwesten. Wir holten die Steuerbordsschwerter an Bord und warfen die Luvbrassen und Toppenanten ab, setzten die Leebrassen, zogen die Luvbulien nach vorn hin ein, holten sie fest und belegten sie; dann holten wir das Besansegel fest an den Wind und hielten es voll und so dicht, wie es nur liegen wollteDiese Schilderung ist natürlich parodistisch auf den in zeitgenössischen Reiseschilderungen beliebten Seemannsstil gemünzt..

Während dieses Sturms, dem ein starker westsüdwestlicher Wind folgte, wurden wir nach meiner Berechnung um etwa fünfhundert Meilen ostwärts abgetrieben, so dass selbst der älteste Seemann an Bord nicht mehr zu sagen vermochte, in welchem Teil der Welt wir uns befanden. Unsre Vorräte hielten gut aus, unser Schiff war in gutem Stand und unsre Mannschaft bei trefflicher Gesundheit; nur waren wir in grösster Wassernot. Wir hielten es für das beste, den gleichen Kurs zu halten, und nicht weiter nördlich zu gehn; denn dadurch wären wir vielleicht an die Nordwestküste Grosstatariens und in das Eismeer geraten.

Am 26. Juni 1703 entdeckte ein Schiffsjunge vom Topmast aus Land. Am siebzehnten kamen wir voll in Sicht einer grossen Insel oder eines Kontinents (denn ob es das eine oder das andre war, wussten wir nicht), in dessen Süden eine schmale Landzunge ins Meer hinaussprang und eine Bucht bildete, die zu flach war, um ein Schiff von über hundert Tonnen aufzunehmen. Wir warfen etwa eine Meile vor dieser Bucht Anker, und unser Kapitän schickte ein Dutzend seiner Leute wohl bewaffnet im Beiboot aus; sie hatten Gefässe für Wasser bei sich, falls solches zu finden war. Ich bat ihn um Urlaub, sie zu begleiten, denn ich wollte mir das Land ansehn und Entdeckungen machen, wenn ich es konnte. Als wir ans Land kamen, sahen wir keinerlei Fluss oder Quelle und auch keine Spur von Bewohnern. Unsre Leute wanderten also an der Küste entlang, um nahe am Meer frisches Wasser ausfindig zu machen, und ich zog etwa eine Meile landeinwärts, wo ich eine unfruchtbare und felsige Gegend fand. Ich begann, müde zu werden, und da ich nichts sah, was meine Neugier wach halten konnte, so kehrte ich langsam nach der Bucht zurück; da nun das Meer voll vor meinen Augen da lag, sah ich sogleich unsre Leute, die schon wieder im Boot waren und um ihr Leben auf das Schiff zu ruderten. Ich wollte ihnen eben, obwohl es zwecklos gewesen wäre, nachrufen, als ich ein riesiges Geschöpf bemerkte, das ihnen, so schnell es konnte, durchs Meer hin nachwatete; es kam nicht viel weiter als bis ans Knie ins Wasser und machte ungeheure Schritte; aber unsre Leute hatten eine halbe Meile Vorsprung vor ihm, und da die See rings voll spitziger Felsen lag, so war das Ungeheuer nicht imstande, das Boot einzuholen. Das habe ich erst später gehört, denn ich wagte es nicht, zu bleiben und den Ausgang des Abenteuers abzuwarten, sondern lief vielmehr, so schnell ich konnte, den Weg, den ich zuerst gegangen war, und kletterte dann einen steilen Hügel hinauf, der mir einen gewissen Ausblick ins Land erlaubte. Ich sah, dass es völlig bebaut war; doch was mich zunächst überraschte, das war die Länge des Grases, das auf diesen Wiesen, die man fürs Heu aufzusparen schien, etwa zwanzig Fuss hoch stand.

Ich schlug eine Landstrasse ein; denn dafür hielt ich sie, obwohl sie den Eingeborenen nur als Fusspfad durch ein Gerstenfeld diente. Hier ging ich eine Weile weiter, doch konnte ich auf den Seiten wenig sehn, da die Erntezeit bevorstand und das Korn wenigstens vierzig Fuss aufragte. Ich brauchte eine Stunde, um dieses Feld zu durchschreiten; und es war eingehegt mit einer Hecke von wenigstens hundertundzwanzig Fuss Höhe; die Bäume aber waren so hoch, dass ich ihre Höhe nicht einmal schätzen konnte. Aus diesem Felde führte ein Zauntritt in das nächste. Er hatte vier Stufen, und wenn man auf der obersten stand, hatte man noch einen Stein zu übersteigen. Es war mir nicht möglich, diesen Stufenweg zu erklettern, denn jede Stufe war sechs Fuss hoch, und der obere Stein mehr als zwanzig. Ich versuchte eben, eine Lücke in der Hecke zu finden, als ich einen der Eingeborenen entdeckte, der im nächsten Feld auf den Zauntritt zuging; er war von derselben Grösse wie der, den ich im Meer hatte unser Boot verfolgen sehn. Er schien mir so gross zu sein, wie ein gewöhnlicher Kirchturm, und mit jedem Schritt legte er, so weit ich es schätzen konnte, etwa zehn Ellen zurück. Mich befielen äusserste Furcht und höchstes Staunen, und ich lief, um mich im Korn zu verstecken, von wo aus ich ihn oben auf dem Zauntritt erspähte, wie er in das nächste Feld zur Rechten zurückblickte; dann hörte ich ihn mit einer Stimme rufen, die viele Male lauter war als ein Schallrohr: aber das Geräusch verhallte so hoch in der Luft, dass ich zunächst des sicheren Glaubens war, es sei ein Donner. Alsbald kamen sieben ihm gleiche Ungeheuer mit Sicheln in den Händen, deren jede etwa so gross war wie sechs Sensen, auf ihn zu. Diese Leute waren nicht so gut gekleidet wie der erste, dessen Diener oder Ackerknechte sie zu sein schienen; denn als er ein paar Worte zu ihnen sprach, kamen sie in das Feld herab, wo ich lag, um das Korn zu mähen. Ich hielt mich ihnen so fern, wie ich nur konnte, doch machte es mir grosse Schwierigkeit, mich zu bewegen, da die Halme des Korns bisweilen nicht mehr als einen Fuss von einander standen, so dass ich mich kaum zwischen ihnen durchzwängen konnte. Trotzdem aber gelang es mir, bis zu einem Teil des Feldes vorzudringen, wo das Getreide von Regen und Wind niedergelegt worden war. Hier war es mir nicht mehr möglich, auch nur noch einen Schritt weiterzugehn, denn die Halme waren so miteinander verwebt, dass ich nicht mehr durchkriechen konnte, und die Grannen der gefallenen Ähren waren so stark und spitz, dass sie mir durch die Kleider ins Fleisch eindrangen. Zu gleicher Zeit hörte ich die Schnitter keine hundert Ellen weit hinter mir. Da ich nun von der Anstrengung ganz entmutigt und von Gram und Verzweiflung übermannt war, so legte ich mich zwischen zwei Furchen nieder und wünschte von Herzen, dass ich dort meine Tage beschliessen könnte. Ich schluchzte um meine trostlose Witwe und meine vaterlosen Kinder. Ich beklagte meine eigne Narrheit und meinen Eigensinn, dass ich dem Rat all meiner Freunde und Verwandten zuwider doch noch eine zweite Reise unternommen hatte. In dieser furchtbaren Aufregung meines Geistes konnte ich nicht umhin, an Lilliput zu denken, dessen Einwohner mich als das grösste Wunder ansahn, das je in der Welt aufgetreten war; dort war ich imstande gewesen, eine kaiserliche Flotte mit meiner einen Hand zu ziehn und jene andern Taten zu vollbringen, die bis in ewige Zeiten werden von den Chroniken jenes Kaiserreichs berichtet werden, während die Nachwelt sie kaum glauben wird, obwohl sie von Millionen bezeugt wurden. Ich überlegte mir, wie demütigend es für mich sein musste, wenn ich nun hier in dieser Nation ebenso bedeutungslos erschien, wie ein einzelner Lilliputaner unter uns erscheinen würde. Aber das, so sagte ich mir, musste noch das geringste an meinem Unglück sein; denn da man beobachtet hat, dass die menschlichen Wesen im Verhältnis zu ihrer Grösse immer wilder und grausamer werden, was konnte da wohl ich andres erwarten, als dass ich zu einem Bissen für den Mund des ersten unter diesen unermesslichen Barbaren dienen würde, der mich etwa ergriffe? Unzweifelhaft haben die Philosophen recht, wenn sie uns sagen, dass nichts anders als verhältnismässig gross oder klein ist. Es hätte dem Schicksal auch gefallen können, die Lilliputaner eine Nation finden zu lassen, wo die Leute im Vergleich zu ihnen ebenso winzig gewesen wären, wie sie es im Vergleich zu mir waren. Und wer weiss, ob nicht selbst dieses ungeheure Geschlecht Sterblicher in einem fernen Teil der Welt, den wir noch nicht entdeckt haben, im gleichen Masse übertroffen werden mag.

Obwohl ich beängstigt und verwirrt war, konnte ich mich doch nicht enthalten, diese Überlegungen fortzuspinnen, als einer der Schnitter der Furche, in der ich lag, bis auf zehn Ellen nahe trat, so dass ich besorgen musste, er würde mich mit dem nächsten Schritt unter seinem Fuss zermalmen oder mich mit seiner Sichel in Stücke schneiden. Und als er also zu einer neuen Bewegung Anstalt machte, schrie ich so laut auf, wie ich in meiner Furcht nur schreien konnte. Sofort brach das riesige Geschöpf seinen Schritt ab und blickte eine Weile rings unter sich, bis er mich auf dem Boden liegend erspähte. Er überlegte eine Weile mit der Vorsicht dessen, der ein kleines gefährliches Tier so packen will, dass es ihn weder kratzen noch beissen kann, wie ich es selbst zuweilen in England mit einem Wiesel gemacht habe. Schliesslich wagte er es, mich zwischen Zeigefinger und Daumen an den Hüften zu fassen und mich drei Ellen weit von seinen Augen emporzuheben, um meine Gestalt genauer betrachten zu können. Ich erriet, was er wollte, und mein Glück gab mir soviel Geistesgegenwart, dass ich mich nicht im geringsten wehrte, als er mich etwa sechzig Fuss vom Boden in der Luft hielt und zwar, obwohl er mir die Seiten schmerzhaft kniff, weil er fürchtete, ich möchte ihm durch die Finger schlüpfen. Ich wagte nichts weiter zu tun, als dass ich die Augen zur Sonne emporhob und meine Hände in flehender Haltung faltete, wobei ich in einem demütigen, melancholischen Ton, wie er zu meiner Lage passte, einige Worte sprach. Denn ich besorgte sehr, er würde mich jeden Augenblick zu Boden schleudern, wie wir es in der Regel mit jedem verhassten kleinen Tier tun, das wir vernichten möchten. Aber mein guter Stern wollte es so, dass ihm meine Stimme und meine Gesten zu gefallen schienen, und dass er mich als eine Kuriosität anzusehn schien, wobei es ihn sehr wundernahm, mich deutlich artikulierte Worte sprechen zu hören, obwohl er sie nicht verstehn konnte. Inzwischen konnte ich mich nicht enthalten, zu stöhnen und Tränen zu vergiessen und meinen Kopf nach meinen Flanken zu drehn, indem ich ihm, so gut ich es vermochte, andeutete, wie grausam mich der Druck seines Daumens und seines Fingers schmerzte. Er schien zu begreifen, was ich meinte; denn er hob einen Zipfel seines Rocks und legte mich sanft hinein, worauf er alsbald mit mir zu seinem Herrn lief, der ein wohlhabender Gutspächter war; es war aber dieselbe Persönlichkeit, die ich zuerst im Felde gesehn hatte.

Nachdem der Pächter (wie ich aus ihren Reden schloss) den Bericht über mich erhalten hatte, den sein Diener ihm geben konnte, nahm er ein Stückchen dünnen Strohs von etwa der Grösse eines Spazierstocks und hob damit die Schösse meines Rocks empor; es schien, als hielt er ihn für eine Art Körperbedeckung, die die Natur mir mitgegeben hatte. Er blies mein Haar zur Seite, um mein Gesicht besser sehn zu können. Dann rief er seine Knechte zusammen und fragte sie (wie ich später erfuhr), ob sie auch sonst schon je in den Feldern ein kleines Geschöpf gesehn hätten, das mir ähnelte. Dann setzte er mich sanft mit allen Vieren auf die Erde, doch ich stand sofort wieder auf und ging langsam hin und her, um den Leuten zu zeigen, dass ich nicht die Absicht hätte, davonzulaufen. Sie setzten sich alle im Kreise um mich her, um meine Bewegungen besser beobachten zu können. Ich zog den Hut und machte vor dem Pächter eine tiefe Verbeugung. Dann fiel ich auf die Knie, hob Hände und Blicke empor und sprach, so laut ich konnte, mehrere Worte: ich nahm eine Geldbörse voll Gold aus der Tasche und überreichte sie ihm in Demut. Er nahm sie auf seiner Handfläche entgegen, hielt sie dicht unter sein Auge, um zu sehn, was es wäre, und wandte sie mehrmals mit der Spitze einer Nadel, die er sich aus dem Ärmel zog, um; doch wusste er nichts damit anzufangen. Da winkte ich ihm, er möchte seine Hand auf den Boden legen, nahm die Börse, öffnete sie und schüttete ihm all das Gold auf die flache Hand. Es waren sechs spanische Vierpistolenstücke und etwa zwanzig bis dreissig kleinere Münzen. Ich sah, wie er die Spitze seines kleinen Fingers an der Zunge befeuchtete und damit erst eins, dann ein zweites der grössten Stücke aufnahm; doch schien er durchaus nicht zu verstehn, was es war. Er gab mir ein Zeichen, sie wieder in die Börse zu tun, und die Börse wieder in meine Tasche; und nachdem ich sie ihm mehrmals angeboten hatte, hielt ich es auch für das beste, das zu tun.

Der Pächter war mittlerweile überzeugt, dass ich ein vernunftbegabtes Wesen sein müsste. Er sprach oft mit mir, und obwohl der Klang seiner Stimme mir wie der Schall einer Wassermühle das Ohr zerriss, waren doch seine Worte deutlich artikuliert. Ich antwortete in mehreren Sprachen, so laut ich konnte, und er hielt sein Ohr oft bis auf zwei Ellen zu mir herab, aber alles war vergeblich, denn wir blieben einander völlig unverständlich. Dann schickte er seine Diener an die Arbeit, nahm sein Taschentuch aus der Tasche, breitete es doppelt auf seiner linken Hand aus, legte sie mit der Fläche nach oben auf den Boden und winkte mir, hinaufzutreten; das war nicht schwer, denn die Hand war nicht über einen Fuss dick. Ich hielt es für das Beste, zu gehorchen, und aus Furcht, ich möchte fallen, legte ich mich in voller Länge hin, worauf er mich zur weiteren Sicherheit bis zum Kopf in das Taschentuch einwickelte und mich in dieser Weise nach Hause trug. Dort rief er sein Weib und zeigte mich ihr; sie aber schrie auf und lief davon, wie es Frauen in England beim Anblick einer Kröte oder einer Spinne tun. Als sie aber eine Weile zugesehn hatte, wie ich mich benahm und wie genau ich die Zeichen beachtete, die ihr Gatte mir gab, liess sie sich schnell versöhnen und wurde allmählich ausserordentlich zärtlich gegen mich.

Es war etwa zwölf Uhr mittags, und eine Magd brachte das Mittagessen. Es war nur ein einziges kräftiges Fleischgericht (wie es für den einfachen Stand eines Landwirts passte) in einer Schüssel von etwa vierundzwanzig Fuss Durchmesser. Die Tischgesellschaft bestand aus dem Pächter, seinem Weibe, drei Kindern und einer alten Grossmutter. Als sie sich gesetzt hatten, stellte der Pächter mich in einiger Entfernung von sich auf den Tisch, der dreissig Fuss überm Boden stand. Ich war in furchtbarer Angst, und hielt mich aus Furcht vor einem Fall, so weit ich nur konnte, vom Rand entfernt. Das Weib hackte ein wenig Fleisch und zerkrümelte ein wenig Brot auf einem hölzernen Teller, den sie vor mich hinsetzte. Ich machte ihr eine tiefe Verbeugung, zog mein Messer und meine Gabel und langte zu, was sie aufs höchste entzückte. Die Pächterin schickte ihre Magd nach einem Schnapsglas aus, das etwa zwei Gallonen fassteCa. 9 Liter., und füllte es mit einem Getränk. Ich nahm das Gefäss mit vieler Mühe in beide Hände und trank in der ehrfurchtsvollsten Weise auf die Gesundheit der Dame, wobei ich die englischen Worte so laut wie nur möglich aussprach; die ganze Gesellschaft lachte so herzlich, dass der Lärm mich fast taub machte. Das Getränk schmeckte wie ein Landzider und war nicht unangenehm. Dann gab mir der Hausherr einen Wink, neben seinen Teller zu treten. Doch als ich übern Tisch hinging, stolperte ich, da ich, wie der Leser es sich leicht denken kann und entschuldigen wird, die ganze Zeit hindurch in grosser Überraschung war, über eine Kruste und fiel flach aufs Gesicht, doch ohne mich zu verletzen. Ich sprang sofort wieder auf, und da ich sah, dass die guten Leute in grosser Sorge waren, nahm ich meinen Hut (den ich aus Wohlerzogenheit unterm Arm hielt), schwang ihn überm Kopf und rief dreimal Hurrah, um zu zeigen, dass ich mir bei meinem Fall keinen Schaden getan hatte. Doch als ich auf meinen Herrn (wie ich ihn künftig nennen werde) zuging, ergriff mich sein jüngster Sohn, der neben ihm sass, ein Schlingel von etwa zehn Jahren, an den Beinen und hielt mich so hoch in die Luft, dass ich an allen Gliedern zitterte; sein Vater aber entriss mich ihm und gab ihm zugleich einen Backenstreich auf die linke Seite, der in Europa eine Schwadron Reiter zu Boden geworfen hätte; worauf er befahl, ihn vom Tisch zu entfernen. Da ich jedoch fürchtete, der Junge möchte mir seinen Groll nachtragen, und da ich wohl wusste, wie heimtückisch bei uns von Natur alle Kinder gegen Sperlinge, Kaninchen, junge Katzen und Hunde sind, so fiel ich auf die Knie und gab, indem ich auf den Knaben zeigte, meinem Herrn zu verstehn, so gut ich es konnte, dass ich wünschte, er möge seinem Sohn verzeihn. Der Vater tat mir den Willen, und der Knabe nahm seinen Platz wieder ein. Ich aber trat zu ihm und küsste ihm die Hand, die mein Herr nahm, um ihn zu zwingen, dass er mich sanft damit streichelte.

Während des Mittagessens sprang meiner Herrin ihre Lieblingskatze in den Schoss. Ich hörte hinter mir ein Geräusch, wie das von einem Dutzend Strumpfwirker, die bei der Arbeit sind. Und als ich den Kopf wandte, sah ich, dass es von dem Schnurren dieses Tieres herkam, das dreimal so gross zu sein schien wie ein Ochse; wenigstens schloss ich das aus dem Anblick ihres Kopfes und ihrer einen Tatze, während ihre Herrin sie fütterte und streichelte. Die Wildheit der Erscheinung dieses Tieres brachte mich ganz aus der Fassung; obwohl ich über fünfzig Fuss entfernt ganz am andern Ende des Tisches stand und obwohl ihre Herrin sie fest hielt, aus Furcht, sie könnte anspringen und mich mit ihren Krallen packen. Doch war gar keine Gefahr vorhanden, denn die Katze nahm nicht die geringste Notiz von mir, als mein Herr mich ihr bis auf drei Ellen näherte. Und da man mir immer gesagt hatte, wie ich es auch auf meinen Reisen durch die Erfahrung als richtig erfunden habe, dass es das sicherste Mittel ist, ein wildes Tier zur Verfolgung oder zum Angriff zu reizen, wenn man vor ihm flieht oder Furcht verrät, so beschloss ich, in dieser gefährlichen Lage keinerlei Besorgnis zu zeigen. Ich ging unerschrocken fünf oder sechsmal dicht vor dem Kopf der Katze hin und her und näherte mich ihr bis auf eine halbe Elle; da aber zog sie sich zurück, als fürchtete eher sie sich vor mir. Weniger Besorgnis weckten in mir die Hunde, von denen, wie es in den Häusern der Landpächter üblich ist, drei oder vier ins Zimmer kamen; einer von ihnen war eine Dogge, die an Umfang vier Elefanten gleichkam; ein zweiter ein Windspiel, das noch etwas grösser war als die Dogge, aber nicht so breit.

Als das Mittagessen fast vorüber war, kam die Amme mit einem einjährigen Kind auf dem Arm herein, das mich sofort erblickte und mit der üblichen Beredsamkeit der Kinder ein Geschrei erhob, das man hätte von London-Bridge bis Chelsea hören können, um mich zum Spielzeug zu erhalten. Die Mutter nahm mich aus reiner Nachgiebigkeit auf und hielt mich dem Kinde hin, das mich sofort am Gürtel packte und meinen Kopf in seinen Mund schob, wo ich so laut brüllte, dass der Knirps erschrak und mich fallen liess; ich hätte mir unfehlbar den Hals gebrochen, wenn nicht die Mutter ihre Schürze unter mir aufgehalten hätte. Die Amme machte, um ihren Säugling zu beruhigen, Gebrauch von einer Rassel; sie bestand aus einer Art hohlen Gefässes, das mit grossen Steinen gefüllt und mit einem Tau am Gürtel des Kindes befestigt war; aber es war alles vergebens, so dass sie gezwungen war, das letzte Mittel anzuwenden, indem sie es an die Brust nahm. Ich muss gestehen, dass mir nichts je solchen Abscheu eingeflösst hat, wie der Anblick ihrer ungeheuerlichen Brust; ich weiss nicht, womit ich sie vergleichen soll, um dem neugierigen Leser eine Vorstellung von ihrem Umfang, ihrer Farbe und ihrer Form zu geben. Sie ragte sechs Fuss vor, und ihr Umfang konnte nicht weniger als sechzehn betragen. Die Warze war etwa halb so gross wie mein Kopf, und die Farbe sowohl dieser Warze wie der übrigen Brust war so gesprenkelt mit Flecken, Finnchen und Sommersprossen, dass nichts ekelhafter aussehen konnte. Ich sah sie nämlich ganz aus der Nähe, da sie sich hinsetzte, um das Kind bequemer saugen zu lassen, und ich auf dem Tisch stand. Da musste ich an die glatte Haut unsrer englischen Damen denken, die uns so schön erscheinen, und zwar einzig, weil sie von unsrer eignen Grösse und die Fehler der Haut nur durch ein Vergrösserungsglas zu sehn sind; denn durch eine Lupe sieht, wie wir durchs Experiment feststellen können, die glatteste und weisseste Haut grob und rauh und fleckig aus.

Ich entsinne mich, dass mir, als ich in Liliput war, die Haut dieser winzigen Menschen als die schönste von der Welt erschien; und als ich mit einem Gelehrten, der eng mit mir befreundet war, über dieses Thema sprach, sagte er mir, mein Gesicht erscheine ihm viel glatter und reiner, wenn er mich vom Boden aus ansehe, als aus grösserer Nähe, wenn ich ihn zum Beispiel in die Hand nähme und hochhöbe; denn dann, das gab er zu, war es zunächst ein scheusslicher Anblick. Er sagte mir, er könne in meiner Haut grosse Löcher entdecken; die Stoppeln meines Bartes seien zehnmal so stark wie die Borsten eines Ebers, und die Farbe meiner Haut bestehe aus vielen geradezu unangenehmen Farbflecken; ich muss freilich bitten, sagen zu dürfen, dass ich einen ebenso hellen Teint habe wie die meisten Leute meines Geschlechts und meiner Heimat; und trotz all meiner Reisen bin ich nur wenig sonnenverbrannt. Andrerseits sagte er mir oft, wenn er von den Damen am Hofe jenes Kaisers sprach, die eine habe Sommersprossen, eine zweite einen zu breiten Mund, eine dritte eine zu grosse Nase, während ich von all dem nichts zu erkennen vermochte. Ich gebe zu, dass diese Überlegung auf der Hand lag, aber ich konnte sie nicht unterdrücken, damit der Leser nicht etwa denkt, diese ungeheuren Geschöpfe seien wirklich missgestaltet gewesen: denn ich muss ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen und sagen, dass sie eine schöne Rasse sind; und besonders die Gesichtszüge meines Herrn schienen mir, obwohl er nur ein Pächter ist, wenn ich ihn in seiner Höhe von sechzig Fuss betrachtete, sehr gut proportioniert.

Als das Mittagessen vorüber war, ging mein Herr zu seinen Knechten hinaus, nachdem er zuvor seinem Weibe (ich konnte das aus seiner Stimme und seinen Gesten entnehmen) strengen Auftrag gegeben hatte, auf mich zu achten. Ich war sehr ermüdet und schlafbedürftig, und da meine Herrin das merkte, legte sie mich auf ihr eignes Bett und deckte mich mit einem sauberen, weissen Tuch zu, das freilich grösser und gröber war, als das Grosssegel eines Kriegsschiffes.

Ich schlief etwa zwei Stunden hindurch und träumte, ich sei mit Weib und Kindern zu Hause; das steigerte meinen Kummer nur noch, als ich erwachte und sah, dass ich in einem ungeheuren Zimmer von zwei- bis dreihundert Fuss Breite und über zweihundert Fuss Höhe allein war und in einem zwanzig Ellen breiten Bett lag. Meine Herrin war an ihre Hausarbeit gegangen und hatte mich eingeschlossen. Das Bett stand acht Ellen über dem Boden. Ein paar Bedürfnisse der Natur verlangten, dass ich hinunterstiege; ich wagte nicht zu rufen, und hätte ich es gewagt, so wäre es vergeblich gewesen, da meine Stimme auf die Entfernung von dem Zimmer, in dem ich lag, bis zur Küche, wo die Familie sich aufhielt, nicht gereicht hätte. Als ich in dieser Not war, krochen zwei Ratten an den Vorhängen herauf und liefen witternd auf dem Bett hin und her. Die eine von ihnen kam fast bis zu meinem Gesicht heran, worauf ich entsetzt aufsprang und meinen Hirschfänger zog, um mich zu verteidigen. Diese scheusslichen Tiere waren verwegen genug, um mich von beiden Seiten her anzugreifen, und das eine legte den Vorderfuss auf meinen Kragen; zu meinem Glück aber gelang es mir, ihm den Bauch aufzuschlitzen, ehe es mir etwas antun konnte. Es fiel mir zu Füssen nieder, und als das andere das Schicksal seines Gefährten sah, entfloh es, doch nicht ohne eine schöne Wunde auf dem Rücken, die ich ihm auf der Flucht beibrachte, und aus der das Blut niederrieselte. Nach dieser Tat ging ich langsam auf dem Bett hin und her, um wieder zu Atem zu kommen und meinen Mut zurückzugewinnen. Diese Geschöpfe waren etwa so gross wie ein grosser Kettenhund, aber unendlich viel gewandter und wilder, so dass ich unfehlbar in Stücke gerissen und verschlungen worden wäre, hätte ich meinen Gürtel abgelegt, ehe ich schlafen ging. Ich mass den Schwanz der toten Ratte und fand, dass er zwei Ellen weniger einen Zoll lang war; aber es widerstrebte mir, den Leichnam vom Bett hinunterzuziehn, wo er, immer noch blutend, liegen blieb; ich sah, dass noch ein wenig Leben darin war, doch mit einem kräftigen Hieb über den Nacken beförderte ich ihn vollends.

Bald darauf kam meine Herrin ins Zimmer, und als sie mich ganz blutig sah, kam sie herbeigelaufen und nahm mich in die Hand. Ich zeigte auf die tote Ratte, lächelte und gab ihr andre Zeichen, um zu zeigen, dass ich unverletzt war; sie freute sich höchlich und rief die Magd, damit sie die tote Ratte mit einer Zange aufnahm und zum Fenster hinauswarf. Dann setzte sie mich auf einen Tisch, wo ich ihr meinen blutigen Hirschfänger zeigte, um ihn dann an meinen Rockschössen abzuwischen und wieder in die Scheide zu stecken. Es drängte mich, mehr als ein Geschäft zu verrichten, das kein andrer für mich abtun konnte, und deshalb bemühte ich mich, meiner Herrin verständlich zu machen, dass ich auf den Boden gesetzt zu werden wünschte, doch als sie das tat, duldete meine Schamhaftigkeit nicht, dass ich mich anders ausdrückte als durch einen Wink nach der Tür und durch mehrere Verbeugungen. Schliesslich begriff die gute Frau mit vieler Mühe, was ich wünschte, und indem sie mich wieder in die Hand nahm, ging sie in den Garten hinaus, wo sie mich niedersetzte. Ich ging auf der einen Seite etwa zweihundert Ellen weiter, winkte ihr, nicht hinzusehn und mir auch nicht zu folgen, verbarg mich zwischen zwei Sauerampferblättern und befriedigte dort die Bedürfnisse der Natur.

Ich hoffe, der feinfühlige Leser wird mich entschuldigen, wenn ich auf diesen und ähnlichen Einzelheiten verweile; denn so unbedeutend sie auch gewöhnlichen und niedrigfliegenden Geistern erscheinen werden, so werden sie doch gewiss dem Philosophen helfen, sein Denken und seine Phantasie zu erweitern, so dass er sie verwende zum Nutzen sowohl des öffentlichen wie des privaten Lebens; und das war meine einzige Absicht, wenn ich in der Welt diesen und andere Berichte über meine Reisen darbot; ich habe vor allem nach der Wahrheit gestrebt, ohne den Schmuck der Gelehrsamkeit oder des Stils zu suchen. Aber die ganze Szene dieser Reise machte auf meinen Geist einen zu starken Eindruck, und sie hat sich meinem Gedächtnis so stark eingeprägt, dass ich bei der Niederschrift keinen einzigen wesentlichen Umstand ausliess; wenn ich auch bei einer strengen Durchsicht ein paar weniger wichtige Stellen strich, die in meiner ersten Niederschrift standen, und zwar, weil ich den Tadel fürchtete, ich sei weitschweifig und kleinlich, und dieser beiden Fehler beschuldigt man Reisende gar oft und nicht ohne Recht.


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