Jonathan Swift
Gullivers Reisen
Jonathan Swift

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Kapitel V.

Der Verfasser unterrichtet seinen Herrn auf dessen Befehl von den Verhältnissen Englands. Die Ursachen des Krieges unter den europäischen Fürsten. Der Verfasser beginnt Ihm die englische Verfassung darzulegen.

Der Leser möge freundlichst beachten, dass der folgende Auszug aus vielen Unterredungen, die ich mit meinem Herrn führte, eine Inhaltsangabe der wichtigsten Punkte enthält, die zu verschiedenen Zeiten, während eines Zeitraums von über zwei Jahren besprochen wurden, denn oft verlangte seine Gnaden genauere Auskunft, nachdem ich mich in der Sprache der Houyhnhnms vervollkommnet hatte. Ich legte ihm, so gut ich konnte, den ganzen Zustand Europas dar; ich sprach von dem Handel und der Fabrikation, von den Künsten und Wissenschaften; und die Antworten, die ich auf all seine Fragen gab, wie sie sich bei den verschiedenen Themen erhoben, bildeten eine unerschöpfliche Grundlage für unsre Unterhaltungen. Doch will ich hier nur das wichtigste von dem niederschreiben, was wir in bezug auf meine eigne Heimat besprachen; und so gut ich kann, will ich es ordnen, ohne mich um die Zeit und andre Äusserlichkeiten zu kümmern; doch werde ich mich streng an die Wahrheit halten. Meine einzige Sorge ist die, dass ich kaum werde imstande sein, den Argumenten und Ausdrücken meines Herrn gerecht zu werden, da sie notwendig unter meinem Mangel an Begabung sowie durch eine Übersetzung in unsre barbarische Sprache leiden müssen.

Den Befehlen Seiner Gnaden gehorsam, berichtete ich ihm also von der Revolution unter dem OranierWilhelm III. von Oranien, der ins Land gerufen wurde, um den Thron des Staats zu besteigen.; von dem langen Kriege mit Frankreich, den besagter Fürst begann, und den seine Nachfolgerin, die gegenwärtige Königin, fortsetzteSiehe Band I »Das Verhalten der Verbündeten usw.« im Appendix., in den die grössten Mächte der Christenheit verwickelt waren, und der noch immer wütete; ich berechnete auf sein Verlangen, dass in seinem ganzen Verlauf etwa eine Million Yahoos getötet, vielleicht hundert Städte eingenommen und dreimal so viel Schiffe verbrannt und in den Grund gebohrt worden sein mochten.

Er fragte mich, welches die gewöhnlichen Ursachen oder Motive seien, um deretwillen ein Land mit einem andern Krieg führte. Ich erwiderte, diese Motive seien zahllos, und ich wolle nur ein paar der wichtigsten erwähnen. Bisweilen sei es der Ehrgeiz der Fürsten, die immer glauben, sie hätten noch nicht genug Land oder Volk zu regieren; bisweilen sei es die Verderbtheit der Minister, die ihren Herrn in einen Krieg verwickeln, um das Geschrei der Untertanen wider ihre schlechte Verwaltung zu ersticken oder abzulenken. Meinungsverschiedenheiten haben viele Millionen Menschenleben gekostet; zum Beispiel die Meinungsverschiedenheit darüber, ob Fleisch Brot sei oder Brot Fleisch; ob der Saft einer gewissen Beere Blut sei oder Wein; ob es ein Laster oder eine Tugend sei, wenn man pfeift; ob es besser ist, einen Pfosten zu küssen oder ihn ins Feuer zu werfen; welches die beste Farbe für den Rock sei, ob Schwarz, Weiss, Rot oder Grau; und ob er lang oder kurz, eng oder weit, schmutzig oder sauber sein solle, nebst vielen andern Dingen. Und keine Kriege sind so wütend und blutig und dauern so lange wie die, die veranlasst sind durch Meinungsverschiedenheiten; besonders wenn es sich um gleichgültige Dinge handelt.

Bisweilen soll der Krieg zwischen zwei Fürsten entscheiden, welcher von ihnen ein Drittel seiner Besitzungen aufzugeben hat, wo keiner von beiden Rechte geltend machen kann. Bisweilen zankt ein Fürst sich mit einem andern, weil er fürchtet, der andre möchte sich mit ihm zanken. Bisweilen wird ein Krieg begonnen, weil der Feind zu stark ist, und bisweilen, weil er zu schwach ist. Bisweilen fehlen unsern Nachbarn die Dinge, die wir haben, oder sie haben die Dinge, die uns fehlen; und wir kämpfen miteinander, bis sie unsre nehmen oder uns ihre geben. Ein sehr berechtigter Grund zum Kriege ist es auch, wenn man in ein Land einfallen will, nachdem das Volk durch eine Hungersnot geschwächt oder durch eine Seuche vernichtet oder durch Parteispaltungen verwirrt ist. Es ist auch berechtigt, wenn wir unsern nächsten Verbündeten mit Krieg überziehn, weil eine seiner Städte uns bequem liegt, oder weil ein Stück Land unser Gebiet abrunden und vervollständigen würde. Wenn ein Fürst Streitmächte in eine Nation entsendet, wo das Volk arm und unwissend ist, so darf er gesetzlich die Hälfte der Bevölkerung hinrichten lassen und die andre zu Sklaven machen, um es so zu zivilisieren und es abzubringen von seiner barbarischen Lebensweise. Es ist sehr königlich, ehrenwert und häufig der Brauch, dass, wenn ein Fürst einen andern um Hilfe bittet wider einen Eindringling, der Helfer, nachdem er den Eindringling vertrieben hat, selbst die Ländereien besetzt und den Fürsten, dem er zu Hilfe kam, tötet, gefangen nimmt oder verbannt. Blutsverwandtschaft oder Bündnis durch Ehen ist unter Fürsten eine häufige Kriegsursache; und je näher die Verwandtschaft ist, um so grösser ist auch ihr Hang, sich zu zanken: arme Nationen sind hungrig, und reiche Nationen sind stolz, und Stolz und Hunger werden sich stets in den Haaren liegen. Aus diesen Gründen gilt das Gewerbe eines Soldaten als das ehrenhafteste von allen Gewerben; denn ein Soldat ist ein Yahoo, der gedungen ist, kalten Bluts so viele seiner eignen Art, die ihn nie beleidigt haben, zu töten, wie er nur irgendwie kann.

Es gibt ferner ein Geschlecht von Bettlerfürsten in Europa, die nicht imstande sind, für sich allein Krieg zu führen, und die ihre Truppen gegen eine Summe von soundsoviel für den Tag und den Mann an reichere Nationen vermieten; von jener Summe aber behalten sie dreiviertel für sich, und die ergeben den grössern Teil ihres Lebensunterhalts; das sind die in Deutschland und andern nördlichen Gegenden Europas.

»Was Du mir über das Thema des Krieges gesagt hast,« sprach mein Herr, »zeigt freilich wunderbar die Wirkungen jener Vernunft, auf die Ihr Anspruch macht; es ist nur ein Glück, dass die Schmach grösser ist als die Gefahr, und dass die Natur Euch unfähig machte, viel Unheil anzurichten.

Denn da Eure Münder flach in den Gesichtern liegen, so könnt Ihr einander nicht einmal kräftig beissen, es sei denn, dass Ihr gegenseitig einwilligt. Und die Krallen an Euren Vorder- und Hinterfüssen sind so kurz und schwach, dass einer unsrer Yahoos ein Dutzend von Euch vor sich her treiben würde. Und deshalb kann ich mir nichts andres denken, als dass Du bei Deinem Bericht über die Zahlen derer, die in der Schlacht gefallen sind, ›gesagt hast, was nicht ist‹.«

Ich konnte mich nicht enthalten, den Kopf zu schütteln und ob seiner Unwissenheit ein wenig zu lächeln. Und da ich in der Kriegskunst kein Fremdling war, so gab ich ihm eine Schilderung der Kanonen, Feldschlangen, Musketen, Karabiner, Pistolen; des Pulvers, der Kugeln, der Schwerter, Bajonette, Schlachten, Belagerungen, Rückzüge, Angriffe, Unterminierungen, Konterminierungen, Bombardierungen, Seegefechte; der Schiffe, die mit tausend Mann versinken, der zwanzigtausend Toten auf beiden Seiten, des Sterberöchelns, der Gliedmassen, die durch die Luft hinfliegen, des Rauchs, des Lärms, der Verwirrung, der Leiber, die unter Pferdehufen zu Tode gestampft werden, der Flucht, der Verfolgung, des Siegs; der Felder, die übersät sind mit Leichen, den Hunden und Wölfen und Raubvögeln zum Frass; der Plünderungen, Beraubungen, Leichenschändungen, Verbrennungen und Vernichtungen. Und um die Tapferkeit meiner eigenen teuren Landsleute ins rechte Licht zu setzen, versicherte ich ihm, ich hätte selbst gesehn, wie sie bei einer Belagerung hundert Feinde auf einmal, und ebensoviel zugleich auf einem Schiff in die Luft gesprengt hätten, und ich hätte es erlebt, wie zur grossen Unterhaltung der Zuschauer die Leichen in Fetzen aus den Wolken herabgestürzt kamen.

Ich wollte mich eben in weitere Einzelheiten einlassen, als mein Herr mir zu schweigen befahl. Er sagte, wer das Wesen der Yahoos durchschaue, werde es leicht für möglich halten, dass ein so verworfenes Tier jeder Tat, die ich erwähnt hätte, fähig wäre, wenn ihre Kraft und ihre List ihrer Tücke gleich sei. Wie aber meine Rede seinen Abscheu vor der ganzen Gattung nur gesteigert habe, so finde er, trage sie ihm auch eine Störung in den Geist, wie sie ihm bislang völlig fremd geblieben sei. Er glaube, wenn seine Ohren sich an so grauenhafte Worte gewöhnten, so möchten sie sie allmählich mit weniger Abscheu aufnehmen. Obwohl er die Yahoos seines Landes hasse, mache er ihnen doch ihre scheusslichen Eigenschaften so wenig zum Vorwurf, wie er einen ›gnnayh‹ (Raubvogel) ob seiner Grausamkeit tadle oder einen scharfen Stein, weil er ihm den Huf zerschneide. Doch wenn ein Geschöpf, das Anspruch auf Vernunft mache, solcher Ungeheuerlichkeiten fähig sei, so fürchte er, dass die Verderbnis eben dieser Vernunft schlimmer sein könne, als die Blöde des Viehs. Und daher schien er überzeugt zu sein, dass wir statt der Vernunft nur eine Eigenschaft besässen, die unsre natürlichen Laster zu steigern geeignet sei; so wie der Widerschein eines unruhigen Stroms einen missgestalteten Körper nicht nur grösser zeige, sondern auch verzerre.

Er fügte noch hinzu, er habe bereits nur zu viel über das Thema des Kriegs gehört, sowohl in dieser Unterredung wie in einigen frühern Gesprächen. Es sei noch ein andrer Punkt vorhanden, der ihm ein wenig zu schaffen mache. Ich habe ihm gesagt, dass einige Leute meiner Mannschaft ihr Land verlassen hätten, weil sie durch ›das Gesetz‹ zu Grunde gerichtet worden waren; ich habe den Sinn dieses Wortes zwar schon erklärt, aber er könne nicht begreifen, wie das Gesetz, das zur Erhaltung aller Menschen gegeben werde, irgend jemandem zum Verderben zu gereichen vermöchte. Deshalb wünsche er des genaueren darüber aufgeklärt zu werden, was ich unter dem Gesetz verstände, und welches nach dem gegenwärtigen Brauch in meinem Lande die Hüter dieses Gesetzes wären. Denn er halte die Natur und die Vernunft für ausreichende Leiter eines vernunftbegabten Tieres, wie wir es doch zu sein vorgäben, da sie uns zeigen, was wir zu tun und zu meiden hätten.

Ich versicherte Seinen Gnaden, das Gesetz sei eine Wissenschaft, mit der ich mich nicht viel abgegeben hätte; ich habe nur gelegentlich einiger Ungerechtigkeiten, die mir angetan worden seien, vergeblich Advokaten angestellt; doch wolle ich ihm die Aufklärung geben, die zu geben ich imstande sei.

Ich sagte ihm, es gäbe unter uns eine Klasse von Menschen, die von Jugend auf in der Kunst unterrichtet würden, durch eigens zu dem Zweck gehäufte Worte zu beweisen, dass Weiss schwarz ist und Schwarz weiss, und zwar, je nachdem sie dafür bezahlt werden. Dieser Klasse seien alle übrigen Menschen als Sklaven untertan. Wenn es zum Beispiel meinen Nachbar nach meiner Kuh gelüstet, so mietet er sich einen Anwalt, damit der beweise, dass er von mir meine Kuh erhalten müsste. Ich muss mir dann einen zweiten dingen, um mein Recht zu verteidigen, da es allen Regeln des Gesetzes widerspricht, dass ein Mensch für sich selber reden dürfte. Nun leide in diesem Fall ich, der ich der rechte Eigentümer bin, unter zwei grossen Nachteilen. Zunächst ist mein Anwalt, der fast von der Wiege an darin geübt wurde, die Unwahrheit zu verteidigen, ganz ausserhalb seines Elements, wenn er der Fürsprecher der Gerechtigkeit sein soll, denn als ein ihm unnatürliches Amt greift er es stets äusserst linkisch, wenn nicht gar mit Widerwillen an. Der zweite Nachteil ist der, dass mein Anwalt sehr vorsichtig auftreten muss, sonst erhält er von den Richtern einen Verweis und seine Amtsbrüder verabscheun ihn als einen Menschen, der die juristische Praxis schmälern möchte. Und deshalb bleiben mir nur zwei Wege, um meine Kuh zu behalten. Der erste ist der, dass ich den Anwalt meines Gegners durch ein doppeltes Honorar für mich gewinne; denn der wird dann Verrat an seinem Klienten üben, indem er zu verstehn gibt, dass er das Recht auf seiner Seite habe. Der zweite Weg ist der, dass mein Anwalt meine Sache als so ungerecht erscheinen lässt wie er nur kann, indem er zugibt, dass die Kuh meinem Gegner gehört: wenn das geschickt gemacht wird, so wird es mir sicherlich die Gunst des Gerichtshofs gewinnen.

Nun muss Euer Gnaden wissen, dass diese Richter Personen sind, ernannt, um sowohl alle Streitigkeiten über den Besitz zu entscheiden wie auch die Prozesse angeklagter Verbrecher; und sie werden ausgewählt aus den gewandtesten Anwälten, doch erst, wenn sie alt oder träge geworden sind; und da sie ihr ganzes Leben lang wider die Wahrheit und Gerechtigkeit eingenommen wurden, so werden sie mit verhängnisvoller Notwendigkeit den Betrug, den Meineid und die Bedrückung begünstigen; das geht so weit, dass ich mehrere unter ihnen kannte, die auf der Seite, bei der das Recht war, lieber grosse Bestechungen zurückwiesen, als dass sie den Stand schädigten, indem sie etwas taten, was sich für ihr Wesen und ihr Amt nicht ziemte.

Es ist unter diesen Anwälten ein anerkannter Grundsatz, dass, was je zuvor getan worden ist, wieder getan werden darf; und deshalb verwenden sie ganz besondere Sorgfalt auf ein Verzeichnis all der früher wider das Recht und wider jede Vernunft der Menschen gefällten Entscheidungen. Die führen sie unter dem Namen der Präzedenzfälle als Autoritäten an, um die unbilligsten Meinungen zu rechtfertigen; und die Richter verfehlen niemals, demgemäss zu entscheiden.

Wenn sie ihre Sache vertreten, so vermeiden sie es streng, sich auf die guten Seiten dieser Sache einzulassen; aber laut und heftig und umständlich verweilen sie bei allen Einzelheiten, die nicht zur Sache gehören. In dem erwähnten Fall zum Beispiel wünschen sie niemals zu wissen, welches Recht oder welchen Anspruch mein Gegner an meine Kuh hat; wohl aber, ob besagte Kuh rot oder schwarz war, ihre Hörner lang oder kurz; ob das Feld, auf dem ich sie weiden lasse, rund oder viereckig ist; ob sie im Hause gemelkt wird oder draussen, unter welchen Krankheiten sie leidet und dergleichen mehr; dann suchen sie nach Präzedenzfällen, vertagen die Sache von Zeit zu Zeit und kommen in zehn, zwanzig oder dreissig Jahren zu einer Entscheidung.

Es lässt sich gleichfalls beobachten, dass diese Klasse eine eigne Sprache hat oder einen Dialekt spricht, den kein andrer Sterblicher verstehn kann. In dieser Sprache sind all ihre Gesetze geschrieben, und sie mühen sich emsig, sie immer mehr auszubaun. Auf diese Weise haben sie das innerste Wesen von Wahrheit und Falschheit, von Recht und Unrecht vertauscht; so dass sie dreissig Jahre brauchen, um zu entscheiden, ob das Feld, das mir durch sechs Generationen hin von meinen Vorfahren hinterlassen wurde, mir gehört oder einem Fremden, der um dreihundert Meilen entfernt wohnt.

Bei den Verhandlungen gegen Leute, die eines Verbrechens wider den Staat angeklagt sind, ist das Verfahren viel kürzer und löblicher: der Richter schickt erst zu denen, die im Besitz der Macht sind, um sie zu sondieren, und dann kann er den Verbrecher leicht unter strenger Beobachtung aller gehörigen Rechtsformen hängen oder retten.

Hier unterbrach mich mein Herr und sagte, es sei schade, dass Geschöpfe von so ungeheurer geistiger Begabung, wie es nach der Schilderung, die ich von ihnen entworfen hätte, diese Anwälte sicherlich sein müssten, nicht lieber ermutigt würden, andre in der Weisheit und im Wissen zu unterrichten. Zur Antwort versicherte ich Seinen Gnaden, dass sie ausserhalb ihres Gewerbes in allen Dingen fast immer die unwissendste und bornierteste Gesellschaft unter uns seien, die verächtlichste in jeder gewöhnlichen Unterhaltung, eingestandene Feinde jedes Wissens und jeder Gelehrsamkeit, und geneigt, die allgemeine Vernunft der Menschen in jedem andern Gesprächsthema genau so sehr zu verdrehn, wie in den Reden, die zu ihrem Beruf gehörten.


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