Auguste Supper
Der schwarze Doktor
Auguste Supper

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7. Kapitel.

Nahe bei unserer Wohnung, an dem Weg, den ich fast alltäglich machte, wenn ich die Lektionen des Dr. Rossa zu hören ging, am Ebracher Hof, wohnte ein Messerschmied, der besonders geschickt und wohlerfahren war in seiner Hantierung, zumal in Anfertigung von Lanzetten, Scheren und Messern für Mediziner.

Ich hatte in der letzten Zeit des öfteren dort gekauft, denn es war mir vieles vonnöten gewesen, da ich zugelassen war, im neuen Spital des Bischofs auf dem Judenkirchhof an allerlei Kranken zu lernen. Es galt dieses nach der kurzen Zeit, die ich studierte, für eine besondere Vergünstigung, von der mir die Professoren sagten, ich verdanke sie der Einsprach des Bischofs, der allezeit ein Auge auf mein fleißig Studium habe.

Der Messerschmied war ein schmächtig Männlein, auf einem Auge blind und des öfteren von bösen Brustschmerzen heimgesucht. Einmal, da ich hinkam, mir etwas zu kaufen, war er wieder krank, und ich traf statt seiner ein Mägdlein, seine Tochter, in der Stube. Dies Mägdlein, Renata, ward deine Mutter, Isabel Renata Ochsenhausin.«

Wie mein Vater soweit gekommen war in seiner Rede, schwieg er eine gute Zeit, als sei er versunken in Gedanken an das Verflossene. Das Lämplein auf dem Schemel verlosch knisternd aus Mangel an Öl, und ich hatte in meinem Bette die Arme um meine Knie gelegt und mühete mich, mein klopfend Herz zu meistern.

Nach einer Weile fuhr mein Vater also fort: »So mein 47 wilder Kammergenoß dann und wann von der schönen Isabel in der Ebrachergasse gesprochen, hatte ich dessen nicht acht gehabt; auch nicht gewußt, wer damit gemeint sei. Von da an wußte ich es. Isabel Ochsenhausin war die Jungfrau, die in der Stadt Würzburg bei jeder Prozession das Gnadenbild tragen, bei jedem Fest die Erste sein mußte. Sie war das Sprichwort der Stadt, davon man redete, so man Schönheit und reine Frömmigkeit mit einem Namen nennen wollte; und sie war das erste, das einzige Weib, das ich angesehen, und nach dem ich von dort an Verlangen trug.«

Da mein Vater also sprach, war es mir lieb, daß das Lämplein verlöscht war, denn es machte mich wirr und verlegen, den verschlossenen Mann reden zu hören von seiner Liebe.

Er aber fuhr fort, als sei er ganz allein und rede mit sich selber: »Es war ein Wunder, ein Wunder Gottes, daß dies Weib ihr Seel und Leib dahingab an einen schwarzen, einsilbigen Gesellen, den die Studenten spottweis den Doktor Faustus nannten, dieweil er ein Leben führete voll Grübelei und wühlender Arbeit, die Menschen mied und niemalen froh ward mit den Fröhlichen. Die mich verspotteten, die ahneten nicht, was mich schon dazumal so düster machte: Es war eine Marter für mich, zu sehen, wie Bischof Julius, der wahrhaftige, offenherzige, vertrauende, auf das Wohl der Elenden und Armen bedachte Mann, der Fürst mit den klugen, hellblickenden Augen und dem Herzen, das nichts Gemeines kannte, einem wohltat, der in schändlicher Lüge dahinlebte. Und es waren Höllenqualen für mich, zu sehen, wie dieser Mann in heiligem Eifer entbrannte für die katholische Sache, die ihm am Herzen lag, als das von Gott anvertraute Pfund. Und wiederum waren es Höllenqualen für mich, zu sehen, wie vor diesem Eifer des Unentwegten mancher lutherische Mann aus dem Hochstift entfloh und eher Erbgut und Eigentum, ja Weib und Kind ließ, als sein Bekenntnis. Hundertmal wollte ich mir selber den Bischof in meinem Herzen verächtlich machen um solchen unduldsamen Eifers willen; aber ich vermochte es nicht, und wieder hundertmal wollte ich die verjagten Protestanten für elende Schwachköpfe halten, die 48 um läppischer Dinge willen sich und die Ihren um des Lebens Glück betrügen; aber auch dies gelang mir nicht, und zuletzt blieb immer ich, ich allein der Verächtliche, der Elende, der Verworfene.

Es erhob sich mein sophistischer Verstand und schrie: Laß ab von deinem Grämen! Was man katholischen und lutherischen Glauben nennet, das ist alles nur Formel und Name; das Wesen und der Kern ist doch der Zug zu Gott, der auch in dir, ja vielleicht in dir mehr denn in anderen lebet. Aber mein Gewissen sprach dagegen: Gott ist die Wahrheit, und du wandelst in Lüge, in Feigheit und Niedertracht.

Danach kam mir auch der Gedanke: Tritt über, werde katholisch! Aber so mich auch an mein Bekenntnis nichts band, so hielt mich doch die bittere Scham, daß meine Lüge sollte an den Tag kommen.

Zuweilen auch dachte ich: Ermanne dich, brich ab zu Würzburg und ziehe von dannen. Aber hatte ich nicht hier weise und gütige Lehrer gefunden, gedieh nicht sichtlich meine Arbeit? War nicht im neuen Spital ein Feld für mich, wie kein zweites im Reich? War nicht Julius ein Gönner, wie es keinen mehr gab an Einsicht, Verständnis und Hochherzigkeit? War mir nicht seine Bücherei erschlossen, die unbezahlbare Schätze barg? War ich nicht den Siechen, den Wunden in Julius Stiftung ein Freund, ein Helfer geworden, nachdem sich, so oft er kam, viele Hände ausstreckten? Und hielt mich nicht die eine – deine Mutter?

So glich ich einem gefesselten Mann, und die letzte Fessel war die stärkste. Es war die Liebe zu der schönen Isabel wie ein Sturmwind, wie ein verzehrend Feuer über mich gekommen; hätte ich entsagen müssen, so wäre ich daran erlegen. Wie man sagt, daß ein still Wasser tief gründe, so ist es mit den verschlossenen Gesellen; mich packte alles bis auf der Seele Grund.

Hans Bütthard kam bald hinter mein Geheimnis. Er spottete meiner, und einmal sprach er: ›Du bist und bleibst ein Narr! Wenn so viel vornehme Domherren alltäglich am Fensterlein vorbeispazieren, wartet die schöne Isabel sicher nicht auf einen Fant, den nicht Amt noch Würde ziert, und der dem 49 Totengräber seine tägliche Arbeit verschafft.‹ Da der Gesell die Domherren erwähnte, kam mich ein rasender Zorn an, die Maid also beschimpfen zu hören, und mit der Kraft, die mir die Wut verlieh, schlug ich ihn, daß ihm das Blut aus der Nase sprang. Er wehrte sich nicht, denn wie fast allezeit war er auch dazumal betrunken; aber da er schwer auf sein Lager hinfiel, lallte er: ›Schuft und Grobian, ich will schon sorgen, daß die fromme Isabel nicht aus Versehen an einen Lutherischen gerät.‹ Danach schlief er ein.

In selbiger Nacht schloß ich kein Auge. Einmal trat ich an des Genossen Bett, und es war mir, als ob ich ihn, den Urheber meines Elends, erwürgen müßte.

Als der Morgen heraufzog und die Glocken vom Dom läuteten, erwachte mein Gefährte. Er sahe mich auf meinem Lager sitzen und meinte spöttisch: ›Ei, Johann Friedrich Burkhard, Schöffensohn von München, wer wird sich wohl von euch beiden bekehren? – die Jungfer Liebste zu deinem, oder du zu ihrem Glauben?‹ Mir war nach der durchwachten Nacht gar elend und kümmerlich zumut. Ich schäme mich nicht, es zu sagen, daß ich bei des Burschen Worten die Hände vors Gesicht schlug und ein ungestüm Schluchzen hemmen mußte, denn ich wußte nur allzuwohl, daß die Liebste mir verloren war, so sie, die fromme, bigotte Jungfer, in mir den Ketzer sah.

Ich weiß nicht, hat dieser mein Jammer, der so unstillbar hervorbrach, Hans Bütthard gerührt, oder wollte er ihn nützen, auch zu seinem Ziel zu kommen; – – er stund auf einmal vor mir und sagte ganz ernst: ›Hör, Johann, schwöre mir bei dem lebendigen Gott, schwöre mir bei deiner toten Mutter, schwöre mir bei deiner Liebe für die schöne Isabel: nimmermehr, zu keiner Stunde, nicht mit Wort noch mit Tat zu verraten, daß wir anders denn römisch-katholisch-apostolisch getauft sind, und ich schwöre dir dagegen, der Jungfer, die du liebst, niemalen kund zu tun, welches Glaubens du bist!‹ – Da ging es mir blitzschnell durch das Hirn, daß mir auch ein Schwur kein böserer Zwang sein könne, denn all das andere, und daß ich mein Liebesglück nur so erringen könnte. Wir knieten beide nieder und schwuren uns zu im grauen, anbrechenden Morgen. 50

Danach stand Hans Bütthard auf, reckte seine Arme, ließ einen lustigen Jauchzer hören und sagte: ›Nun trau ich dir erst ganz, Johann, und fühl mich wohl in meiner Haut, denn zuvor mußte ich immer besorgen, du spielest dir und mir einmal einen schlimmen Streich, so du dein Gewissen gerade frisch geschliffen hättest. Ja, so ein Schwur, der ist Golds wert und nicht zur Kurzweil erfunden!‹ Ich aber kniete noch lange am Boden; mir war, als könnte ich mich nimmermehr erheben aus Schmutz und Staub und Niedrigkeit. Bald darauf ward Isabel Ochsenhausin das Weib des Doktors Johann Friedrich Burkhard.

Als mir von dem Rektorat der Fakultät mein Diplom, von Julius selbst mit unterschrieben, zugestellt ward, lag ein eigenhändig Schreiben des Bischofs bei, darin er mich den Freund seiner Armen und Kranken im neuen Spital nannte und mich zum Spitalmeister daselbst einsetzte, mit dem Anfügen, daß er es für ein gut Recht und willkommene Pflicht eines Fürsten halte, so ein christlicher Mann einen gottgefälligen Hausstand gründe, dazu nach Kräften behilflich zu sein. Auch habe ich, als ein Mann, der die Rechte und die Medizin studieret, die beste Fähigkeit zu solchem Amt. Mein jung Weib küßte das Schreiben, mir aber war es wie ein Peitschenschlag, daß ich alles, alles, Studium, Ehestand und Amt, sollte auf eine Lüge gründen.

Für Isabel und mich ward in der Wallgasse eine Wohnstätte geschaffen, wie sie schöner in manchem adeligen Hof in der Stadt nicht war. Wir zogen ein in einem Taumel jungen Glücks, und ich vergaß für eine Zeit mein drückend Joch.

Der erste Gast, den wir hatten, war Hans Bütthard. Mit einem lachenden Mund erklärte er mir, für Mediziner sei zu Würzburg neben mir, dem Günstling des Bischofs, kein Raum mehr: auch habe er genug der Quacksalbereien und Pflasterschmierereien, derethalben studiere er jetzt die Rechte.

Es vergingen zwei Jahre eines stillen, großen Glücks. Ich hatte fast meiner Last vergessen, denn eine Fülle anstrengender Arbeit war zu verrichten, da des Bischofs Stiftung wuchs, wie ein Schwamm im Sommerregen. Meine Mußezeit erfüllte mein Weib und die Hoffnung auf ein Kommendes.

Im Juli des Jahres 1605 ward mir ein Sohn geboren. 51 Es ging der jungen Mutter fast ans Leben, und meine Kunst erschien mir als die armseligste, elendeste von allen, wie ich am Bette des Weibes hilflos und ratlos stund.

Das Kindlein wimmerte in seiner Wiege und verweigerte die Nahrung zu nehmen, die die Wärterin ihm bot. Die Mutter aber hatte nicht die Kraft, es zu nähren. Mir fiel ein, daß vor wenigen Tagen ein fremd Weib im Spital eines toten Kindleins genesen war, die holte ich nun eilends zu meinem Erstgeborenen. Es liefen mir die Tränen der Freude aus den Augen, wie der Knabe kräftig zog, und wie er danach friedlich einschlief. Am vierten Tag ward er getauft auf den Namen Salvator, denn ich hoffte, dies Kind sollte mir vollends der Erretter werden aus der halbüberwundenen Pein. Der Bischof selbst war Pate; er bot es mir an, da er mit mir durch die Krankensäle schritt, und ich konnte es nicht zurückweisen.

Die Taufe vollzog, dem hohen Paten zu Ehren, ein vornehmer Domherr, Philipp Adolf von Ehrenberg, der jüngste vom Kapitel.

Ich kannte diesen Priester schon zuvor, denn er weilte des öfteren im Spital, der Seelsorge bei Kranken und Sterbenden zu warten. Er war ein schöner Mann, doch hatte er unstete Augen und ein schleichend Wesen, das mich um so mehr abstieß, als er noch von so jungen Jahren war. Es hieß von Philipp Adolf, daß er an Ketzerhaß den Bischof weit übertreffe, und Hans Bütthard selbst, der ihn noch vom Kollegium her kannte, warnte mich einst vor diesem Manne, der sich zugeschworen habe, die Häretiker dieser Stadt ausfindig zu machen mit allen Mitteln. Und es hatte dazumal Bütthard mit Lachen zugefügt: ›Kein Lutherischer kommt ungerupft davon; am wenigsten aber ein lutherisch Mägdlein.‹

Dieser Mann taufte meinen Sohn und ward auch von selbigem Tag an meines Weibes Beichtvater.

Am Tauftage schaute deine Mutter zum erstenmal wieder klar um sich und verlangte nach ihrem Kindlein. Die Amme trug es herein an ihr Lager, und der Priester stund daneben. Sie beugte sich über den Knaben voll heißer Zärtlichkeit, dann schaute sie das fremde Weib an, das mit einem müden und 52 bleichen Gesicht dabei stund, und sie fragte voll Mitleids: ›Wo habt denn Ihr Euer Kindlein?‹

Die Fremde antwortete traurig: ›Es ist tot!‹ Isabel forschte weiter: ›Ist es getauft gestorben?‹ Da schüttelte das Weib den Kopf mit stillem Lächeln: ›Das nicht, doch ist es dessen ohngeachtet alsbald zu Gott zurück.‹ Aber mein Weib faltete ihre weißen Hände und sagte: ›Sprecht nicht wider unseren allerheiligsten Glauben!‹ Da lächelte die Fremde abermals und sagte leise: ›Mein Glaube lehret mich nicht so grausam oder so schwächlich denken vom ewigen Gott; ich bin ein lutherisch Weib und weiß, wo ich mein Kleines suchen muß.‹

Da sank Isabel hintenüber und zog ihr Bette in die Höhe, als käme sie Furcht und Entsetzen an, und sie schrie laut: ›Nehmt ihr mein Kind, nehmt ihr mein Kind!‹

Mir zog es wie ein eisiger Schauer durch Leib und Seele, ich fühlte, daß ich weiß wurde wie der Kalk an der Wand, doch biß ich auf meine Zähne und sagte: ›Isabel, du mordest dein Kind, so du es der Amme beraubst. Es ist zart und schwach, und woher sollen wir schnell ein katholisch Weib zum Säugen nehmen?‹

Doch die Kranke richtete sich wieder auf, und ich sahe, wie ihre Zähne im Fieber klapperten, als sie sprach: ›Was sagt Ihr, Hochehrwürden?‹ Der Priester aber entgegnete hart: ›Tausendmal lieber tot, denn also vergiftet! Denket an Eures Kindes unsterbliche Seele!‹ Da nickte deine Mutter mit starren Augen: ›Ja, lieber tot!‹

Ich legte mein Weib zurück und fühlte unter meinen Händen ihren Körper im Fieber glühen. Da schob ich die Amme mit dem Kinde hinaus und der Priester ging ihnen nach; ich aber konnte nicht mehr sprechen, sondern kniete nur hin an der Bewußtlosen Lager und schrie gell auf in meiner Not.

Von dort an stund nun der Tod eine Woche lang am Bette. Es war nicht oft, daß deine Mutter einen lichten Augenblick hatte, und ich hätte deshalb wohl mögen der fremden Amme das zarte Kindlein lassen; doch es lag mir in den Ohren: Lieber tot! So mußte ich denn meinen Erstgeborenen sterben sehen. Er ertrug keinerlei Nahrung, und bis ich ein katholisch Weib auftrieb, war er zu schwach; er ging hin. 53

Es wallte ein heißer Grimm auf deine Mutter in mir auf; mir war, als müßte ich sie von nun an hassen, die ihr Kind sterben ließ aus Eifer und Starrheit. Dem Priester aber fluchte ich in jener Stunde; er war meines Lebens größter Feind geworden.

Wäre ich ein Mann gewesen, den keine Lügenketten drückten, so hätte ich der Blindheit deiner Mutter, dem fanatischen Haß des Pfaffen getrotzt und mein Kind nicht dahingegeben; aber so war ich verstrickt in unseligen Fesseln, und je mehr ich mich darunter wand, je tiefer schnitten sie mir in das Fleisch.

Als ich an deiner Mutter Bette stund, und sie mich zum erstenmal wieder nach ihrem Knaben fragte, habe ich wahrhaftig aufgelacht; es war wie Wahnwitz in mir, wie eine gräßliche Schadenfreude, indes ich sagte: ›Er ist tot!‹

Ich hatte in dieser Stunde kein Erbarmen mit dem Weib, das weißer denn eine Lilie dalag. An mir fraß der Jammer um mein Gemordetes, und ich wollte sie quälen, wie ich gequälet war, indem ich rief: ›Dort draußen in der Kammer liegt dein Sohn Salvator, die lutherische Amme hätte ihn wohl retten mögen.‹

Doch nicht wie ein zu Tod gequältes Weib sah mich die Unglückliche an: Fast wie ein Staunen, ein Nichtverstehen lag es in ihren dunklen Augen. Dann stieg es ihr rot und warm in die Wangen; sie faltete die abgezehrten Hände, indes sie sprach: ›Von Abraham hat Gott den Isaak gefordert.‹

Da erschauerte ich bis ins innerste Mark vor meinem Weibe, das so Ungeheuerliches tat um seines Glaubens willen.«

Mein Vater schwieg, es klang wie Schluchzen durch die Kammer, doch wußt' ich nicht, war er's – war ich's! – Ganz müd und langsam fuhr er danach fort: »Seit jenem Tag war ich ein alter Mann. Als der erste dumpfe Schmerz vorüber war, begann ich ein ander Leben denn zuvor. Zwar der Tag gehörte nach wie vor den Kranken; aber bei Nacht saß ich neben unserer Kammer lange Stunden auf, las, suchte und wühlte. Es ist mehr denn einmal mein jung Weib mit bloßen Füßen und im Nachtgewand hinter mich getreten, so sie noch gegen Morgen mein Lager leer sah. Hätte des alten Messerschmieds Töchterlein gekonnt, was du kannst, Renata, 54 nämlich lesen und Latein verstehen, ich hätte wohl oft meine Bücher vor ihr verstecken müssen, denn es waren hochketzerische Schriften darunter, die ich studierte mit der Gier, mit der der Verschmachtende nach Wasser schreit. Unseren dermaligen Hauswirt, den Magister Lamprecht, hatte ich darum gebeten in aller Heimlichkeit, denn bei ihm fand ich sie dereinst, da ich ihn während einer bösen Seuche als Arzt besuchte und in einem Spind nach altem Linnen kramte. Er sahe mich, des ketzerfeindlichen Bischofs Günstling, dazumal mit erschrockenen Augen an bei meiner Bitte; doch gelobte ich ihm, daß kein ander Auge denn das meine die Bücher lesen sollte, und daß ich nichts Böses gegen ihn im Schilde führe.

Lamprecht glaubte mir Dank zu schulden und gab die Schriften schweren Herzens hin.

Es waren aber darunter eine Abhandlung über den Kirchenvater Augustin. ein Büchlein mit dem Titel: Die Heiligen der römisch-katholischen Kirche und ihr Amt im Himmel, mit einem Anhang von dem Greuel der Ohrenbeichte; sodann Postillen von Luther und Melanchthon, den Begründern der ketzerischen Lehre, und ein Heft, darauf stand: Wogegen die Protestanten protestieren.

Dergleichen Schriften und insonderheit die Evangelien las ich wieder und wieder mit brünstigem Suchen, denn so ich gleich eines lutherischen Pfarrers Sohn war, wußte ich von meinem Glauben nicht viel mehr denn den Ritus. Mich anders zu lehren, hatte mein Vater nicht Zeit gehabt vor Streiten, Prahlen, Verdammen und Wortklauben. In jenen stillen Nächten ging mir manchmal Gott vorüber wie dem Propheten Elias. Ich kam aus dem Gefühl heraus, das sich wie langsames Ersticken auf mich geleget hatte, aus dem Gefühl, für lächerliche Formeln, törichten, beschränkten Menschenwahn, so Gräßliches erduldet zu haben.

Ich weiß nicht, Renata, ob du es verstehen kannst, wenn ich dir sage: es traf mich wie Lebensluft, zu merken, daß Bischof Julius die Lutherischen hassen, verfolgen und ausrotten mußte, so wie der Winter den Lenz, die Nacht den Tag hassen muß. Und ich fand die lutherischen Männer, die alles dahinten ließen, nicht mehr beschränkt, armselig und 55 lächerlich, sondern ich wußte nun, daß es etwas gibt, das höher, größer, wichtiger ist denn alle Güter des Lebens, ja denn das Leben selbst.

Da lag ich nun manche Stunde vor Gott und weinte, wie dereinst Petrus weinte, da er den Herrn verleugnet hatte.

Damals lernte ich wieder atmen, Renata; aber frei ward ich nicht. So oft ich auch hintreten wollte vor den Bischof und ihm zurufen: Hier hast du mich, du völlig untadelig Werkzeug einer siechen Kirche; ich bin ein Lutheraner, mehr als alle im Hochstift! – fiel mir mein Schwur ein, und es fiel mir ein, daß ich niemanden nützete, denn mir allein; denen aber, die mir teurer waren als mein Leben, deiner Mutter, dem Bischof, meinen Kranken, nur Leid zufügen würde mit meinem Bekenntnis. Dann redete ich mir zu: das Bekenntnis ist nebensächlich, ist bedeutungslos! Ich hätte es übermächtig hinausschreien mögen in jedes Ohr, das sich lutherisch nannte: Lebe, lebe deinen lutherischen Glauben! Schwatz ihn nicht, verfecht ihn nicht, lobpreis ihn nicht, aber leb' ihn, leb' ihn, leb' ihn! Damals ward mir's gewiß, daß sich nie die Fessel um meine Seele geleget hätte, so ich einen Vater, so ich Lehrer gehabt hätte, die ihren Glauben nicht nur bekannt, sondern die ihn gelebt hätten.

Von da an machte ich nie mehr die Zeremonien mit, die meines Weibes Glaube erforderte; aber mir ward auch nie mehr enge dabei. Ich fühlete, wie eine Mutter fühlt, wenn sie die Kinder spielen siehet mit kindlichen Gebräuchen: Sie stört das Treiben nicht, sie denkt: der Ernst des Lebens wird auch dir einst kommen, inzwischen mache dir ein Abbild davon, wie Kinder gerne lieben.

Als mich deine Mutter einst darob befragete, auch wissen wollte, wann ich zuletzt gebeichtet, entgegnete ich: ›Isabel, mein lieb Weib, ich hab' Gott nicht vergessen!‹ Da hat sie mich nie wieder gefragt, denn kein Argwohn schlich in ihre Seele, dieweil sie nicht fassen konnte, daß einer, der Gottes redlich gedenke, ein Lutheraner sein könne, und dieweil sie sahe, wie mir die Zeit fehlte. So lebte ich dahin in rastlosem, ununterbrochenem Arbeiten, daß ich mich fast aufrieb im Dienste der Armen, Elenden und Kranken, die unser Spital immer mehr anfüllten. 56

Ich kam mir jetzt nicht mehr wie ein Lügner vor, sondern wie ein Mann, der das Wesen erkannt hat und die Formeln verachtet, wie einer, der nach allen Kräften seine Pflicht tut.

Wäre Bischof Julius ein anderer gewesen, ich hätte mich zuletzt einlullen mögen in Ruhe; aber seine große Persönlichkeit ließ es dazu nicht kommen. Je länger ich unter seinen Augen wirken durfte, je mehr ich seine Gunst erfuhr, desto brünstiger flog mein Herz und meine Bewunderung ihm zu, und zuletzt packte mich der lockende Gedanke immer mehr: Sag ihm alles! Sag ihm auch, was du in gebeterfüllten Nächten gefunden! Sag es ihm, denn er ist der Mann, die Wahrheit auch dann zu erfassen, wenn sie ihm wie ein zweischneidig Schwert die Hände zerfleischen sollte. Immer lockender wurde mir dies Bild, zuletzt verfolgte mich's bei Tag und Nacht, und dann kam die Stunde, da es über meinen besonnenen Willen hinauswuchs und mächtiger ward denn ich.

Am Bartholomäustag des Jahres 1610 war's, da zur Einweihung der neuen Brücke ein groß und fröhlich Fest gefeiert ward. Trompeter und Heerpauker durchzogen die Stadt, Tanzbelustigungen, Fechterspiele und Ringstechen wurden abgehalten. Bischof Julius kam des Nachmittags heraus ins Spital, allwo zurzeit gegen 400 Kranke lagen, darunter 22 mit der schauerlichen Pest des Aussatzes behaftet.

Im Hofe ließ er große Tafeln decken, daran ward gespeist, wer gehen konnte; aber zu den andern trat er herzu an eines jeglichen Lager. Ich sahe seine Hand nicht zittern, da er auf der Elenden Bette den Joachimstaler legte; auch keinen Zug von Abscheu oder Angst durch sein edel Angesicht gehen, wie er neben mir herschritt durch die Reihen jener ausgestoßenen, entsetzenerregenden Gestalten, davon manche ein einzig Bündel Tücher und Bandagen war.

Danach stund er stille, mitten in dem abgelegenen Gelaß, und blickte mit seinen hellglänzenden Augen rundum, als sollten einem jeden seine Worte besonders gelten, und er sagte mit einer Stimme, darin ein unendlich Mitleid lag: ›Ihr ärmsten, elendesten unserer Brüder, euern Leib müsset ihr wohl lebendig schon geben in Tod und Verwesung; aber eure unsterbliche Seele ruhet ewiglich in Gottes Hand. Sie ist in euch 57 erschaffen aus Gott zu Gott; dieselbige kann nimmermehr verwesen, so lasset denn den Leib dahingehen!‹ Wie er also redete in diesem Saal voll entsetzlichsten Siechtums, schien es mir, als gehe von ihm aus ein frischer Strom gesunder, reiner Luft, und mein Entschluß ward fest.

Da wir wieder draußen stunden im Hof, inmitten des fröhlichen Tumultes, schlossen sich die Herren vom Domkapitel ihrem Fürsten wieder an; in die toderfüllten Gemächer war ihm keiner gefolgt. Indes die Menschen um mich her immer toller wurden in ihrer Freude, denn der Wein vom letzten Jahr war gut und floß auf des Bischofs Kosten in Strömen, ward ich immer stiller und sann, wie, wo und wann ich dem Bischof möchte beichten, denn ich fühlte in mir ein hastig Drängen, als müsse es heute noch sein, als könnte mir mein Mut wieder entschwinden. Doch war der hohe Herr nie allein, sondern allezeit umringt von Volk und Geistlichkeit.

Es litt mich zuletzt nicht mehr unter der Menge mit meinem gärenden Verlangen in der Brust; ich schlich mich hinüber in mein Haus in der Wallgasse, das deine Mutter des Festes ohngeachtet nicht hatte verlassen können, ihres Zustandes wegen. Ich fand mein Weib ängstlich nach mir ausschauend, und nach wenigen Stunden wardst du mir geboren. Doch hatte die Angst dieser letzten Stunden mir meinen Plan nicht verscheuchen können, ja, wie ich dich, mein zweites Kind, in den Armen hielt, da schien es mir, als habe nur die Lüge das erste gemordet, und als könne nur die Wahrheit dich mir erhalten.

Sobald deine Mutter wohl gebettet und erschöpft im Schlafe lag, ließ ich sie in der Hut der Frankenres und ging mit schnellen Schritten und erhobenen Hauptes dem Rötelsenhof zu, denn es war schon gegen zehn Uhr, und der Bischof ritt an diesem Tag sicher nicht mehr auf den Marienberg, sondern blieb in seinem Stadthof.

Ich wurde allsofort zu dem hohen Herrn gelassen; ein großer, hagerer, junger Mann, des Bischofs erster Knecht, den man in der Stadt den langen Rupprecht hieß, führete mich zu ihm. Ich traf ihn allein, wie er im dunkeln Zimmer am offenen Fenster stund und hinunter sahe in die warme 58 Nacht und auf das Gewühle, davon Fackel- und Laternenschein flackernd ins Gemach fiel. Der Bischof wandte sich um und fragte nach meinem Begehren zu solcher Stunde. Ich sagte ihm voll Freude, daß mir eine Tochter geboren sei. Er trat einen Schritt her zu mir und wünschte mir Glück, doch klang zur gleichen Zeit unflätiger Lärm so stark herauf von der Gasse, daß ich seine Worte nicht alle verstand. Der Bischof lachte und sagte: ›Doktor, daheim in der Wallgasse schreit Euch ein kleines Kind, und mir da unten ein Haufe großer; ich achte, wir sind glückliche Väter!‹

Wie ich ihn so mild reden hörete von dem betrunkenen Haufen, ward ich meiner Sache noch sicherer. Und danach, Renata, stund ich neben ihm am niederen Sims und suchete mit meinen Augen die stillen Sterne, die auf das wüste Treiben so rein herniedersahen, und ich gedachte, daß ich durch mein Geständnis hindurch mich winden müßte zu Ruhe und Reinheit. Da begann ich zu reden und sagte ihm alles ohne einen Rückhalt.«



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