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Der Totenkopfschmetterling.

Anmerkung des Übersetzers. Nicht identisch mit dem in »Inferno« (1897) aufgenommenen, 1895 geschriebenen Essay, sondern eine neue Bearbeitung von 1896.

Versuch eines rationellen Mystizismus.

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Die Blecke, die an der Oberfläche des Wassers lebt und der Sonne ins Auge sieht, ist silberweiß und hat nur einen blaugrünen Strich am Rücken entlang. Das Rotauge, das seichtes Wasser sucht, hat bereits eine ausgeprägtere Farbe, und zwar eine seegrüne. Der Barsch, der in tiefem Wasser auf dem Steingrund steht, ist bereits dunkel geworden, und seine Striche am Rücken entlang sind schwarz wie die Zeichnung der Wellen auf den Seiten. Der Karpfen und die Flunder, die im Schlamm wühlen, sind dunkel geworden wie der olivengrüne Schlamm. Die Makrele trägt den Wellenschlag in so scharfer Zeichnung auf dem Rücken, daß ein Marinemaler ihn kopieren und perspektivisch auf eine Leinwand bringen könnte, um die Wogen wiederzugeben. Aber die Goldmakrele, die sich in den Wellenkammern aufhält, hat alle Farben des Regenbogens und doch Gold und Silber daneben.

Was ist das anders als Photographie? Auf seiner Silberplatte, die sowohl Chlor-, Brom- wie Jodsilber sein kann, da das Meerwasser alle drei Halogene enthalten soll, oder auf seiner Eiweiß- oder Gelatinplatte, die versilbert ist, fängt der Fisch die Farben auf, die durchs Wasser gebrochen werden. Da er im Entwickler, schwefelsaure Magnesia (Eisen) zum Beispiel, lebt und sich bewegt, wird die Wirkung in statu nascenti so kräftig, daß die Farbenphotographie direkt ausgeführt wird. Und der Fixierer oder das unterschwefligsaure Natron kann für den Fisch nicht weit entfernt sein, der in Chlornatrium und schwefelsauren Salzen lebt und außerdem selbst einen Vorrat Schwefel bei sich trägt.

Ist das mehr als eine Metapher von der Erfindung des Niepce de Saint-Victor und seiner Nachfolger? Das ist es wohl, wenn es auch nicht die ganze Wahrheit ist! Beweisen, daß die silberglänzenden Fischschuppen Silber sind, wird wohl schwer sein denen gegenüber, welche die Prämissen nicht annehmen, daß es aber Zinn sein könnte oder eins der Äthylphosphine oder Amine habe ich an anderer Stelle wahrscheinlich gemacht. (Daß man in Österreich silberglänzende Perlen aus den Schuppen der Blecken macht, zeigt, daß die Schuppen einen selbständigen Metallcharakter haben.)

Daß der Ritterfisch, Eques lanceolatus, den Schatten seiner großen Nackenflosse auf beide Seiten des Körpers photographiert, daran zweifle ich nicht, ebensowenig wie daran, daß der Zipfelfisch, der einem Aal gleicht, sich an der Vegetation des Bodens versehen hat. Ich glaube auch, daß der Eisvogel, der seine buntgefärbten Federn gleich Schuppen auf Hals und Flügelbug trägt, die dadurch bekommen hat, daß er stundenlang Tag ein, Tag aus dasitzt und nach seinen Opfern starrt. Woher der Fasan und die Boa constrictor ihre Ellipsen bekommen haben können, habe ich früher schon angedeutet, als ich von den Augenzeichnungen auf den Schwanzfedern des Pfaues sprach.

Höher hinauf, zu den Säugetieren, reicht die Chemie schwerlich; der Tiger hat die schmalblättrigen aber hochgewachsenen Gräser des Djungels auf den Flanken und an der Stirn trägt er eine Kombination von Palme und Bambus. Der Panther und der Leopard geben den bunten Schattenteppich des Laubwaldes wieder, während der Löwe nur den gelbbraunen Ton des Wüstensandes und der verbrannten Klippen führt.

Es kann ja zuweilen für diese graphischen Reproduktionen der Natur andere Ursachen geben als die sogenannten chemischen, die sich schließlich doch als ebenso mechanisch erweisen. So lebt das Tigerzebra auf der Steppe. Scheu von Natur, ist es immer zum Sprung bereit, die Klauen des Tigers in seiner empfindlichen Haut fühlend, die sie in Falten legt, um einen Anlauf zur Flucht zu nehmen. Der Leopard hat Flecken, die dem Schatten des Laubwerks gleichen können, aber auch den Fußspuren eines nassen Hundes oder einer nassen Katze täuschend ähnlich sind. Ist einmal ein tragendes Weibchen mit Hunden oder Katzen in Kampf geraten, sind die Jungen gebrandmarkt und dann, als die Flecken schön gefunden wurden, bei der Auslese vorgezogen worden?

Das hätte Darwin sagen können, wenn er auch solche freistehenden Schöpfungsakte leugnet, jedoch nicht, als er von dem Stier spricht, der seinen Schwanz in der Stalltür verlor und dann der Stammvater von schwanzlosem Vieh wurde. Die Rolle des Zufalls bei Entstehung der Arten!

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Daß Kolibris Blumen gleichen und Blumen Schmetterlingen und anderen Insekten, ist ja bekannt, aber wie der Totenkopfschmetterling seinen Schädel auf den Thorax bekommen hat, das erfährt vielleicht niemand. Ich hatte Acherontia Atropos niemals selbst gesehen, hatte aber den Verdacht gehegt, die Abbildungen seien nicht ganz getreu. Dann ging ich hin und kaufte ihn bei einem Naturalienhändler und fand, daß in Wirklichkeit der Totenkopf von einer frappanteren Ähnlichkeit ist als auf den Bildern. Und dann las ich von ihm, daß die Bretagner glauben, er verkünde den Tod; daß er einen traurig singenden Laut hören läßt; daß seine Puppe tief in die Erde gegraben wird; daß die Larve von echtem Jasmin, von Bohnen und dem schönen aber tötenden Stechapfel lebt.

Da war verschiedenes für die Phantasie. Die Begräbniszeremonie beim Nachtschmetterling, der Trauergesang, die giftige Nahrung … und dann kommen die Bohnen mitten hinein, so unschuldig, scheint es, aber an der Donau sagte mir ein frommes Weib, die Bohnen seien die Köpfe der Toten – ich lächelte natürlich.

Leser! ich bin bisher nicht gewesen, was Sie abergläubisch nennen, als ich aber, nachdem ich diese Details über den Totenkopfschmetterling gesammelt, sah, daß Réaumur, der berühmte Physiker, beobachtet hatte, daß dieser Schmetterling periodisch und meist bei großen Pesten auftritt, da fing ich an nachzusinnen, ob es nicht einen Zusammenhang zwischen dem Totenschädel auf dem Thorax und den Lebensgewohnheiten des Schmetterlings gibt.

Zu dem Zweck stellte ich diese Prämissen auf, um damit anzufangen. Die Larve von Acherontia Atropos lebt vom Stechapfel, dessen Gift Daturin heißt und eine Mischung von Atropin und Hyoscyamin sein soll, das erste von Belladonna, das letzte vom Bilsenkraut. Die beiden Gifte sind Pflanzenalkaloide, dem Morphium nahestehend, aber auch den Leichengiften verwandt. Die Leichengifte riechen zuweilen nach Jasmin (da ist der Jasmin!), Rose, Moschus. (Die Gattung Sphinx, wozu der Totenkopfschmetterling früher gerechnet wurde, hat Arten, die nach Moschus riechen.) Es gibt Aasblumen (Arvidea, Stapelia, Orchis u. a.), die nach Kadaver riechen, Kadaverfarbe haben und die Insekten anlocken, die sonst tote Tierkörper suchen. Wird es da nicht logisch, daß Acherontia nach Orten gelockt wird, wo Epidemien wüten und es Kadaver in reichlicher Menge gibt?

Wie ist dieser Schmetterling entstanden und von welchen Stammesverwandten? Seine Larve gleicht der des gewöhnlichen Ligusterschmetterlings sehr, und er selbst ist diesem Schmetterling so ähnlich, daß man den Unterschied nur in der Größe, einigen Farbentönen und dem Totenkopf bemerkt, wenn man einige Exemplare von beiden nebeneinander sieht. Da niemand dabei war, als Acherontia entstand, habe ich ein Recht, dieses Märchen zu dichten.

Es war einmal ein Tagesschmetterling; der lebte auf dem Liguster, welcher sehr unschuldig ist. Aber die Liguster gingen im Winter aus, und als die Puppen im Frühling barsten, gab es nichts zu essen. Da alle Schmetterlinge gewaltige Botaniker sind, und die natürlichen Familien mit ihren sechs Füßen kennen, suchten sie die Syringen auf, die dem Liguster nahe stehen. Aber eines Tages verflog sich ein Schmetterling in eine Gegend, wo es keine Syringen gab, und er legte seine Eier auf ein Kraut, das in der Farbe der Syringe glich, aber nicht so gut roch. Und dann starb er. Als der Frühling kam, krochen die Larven aus und aßen von dem kleinen Baum der Erkenntnis, den sie nicht kannten. Sie verpuppten sich, und Schmetterlinge schwärmten aus und um Belladonna herum, wo sie geboren waren. Aber siehe da, sie konnten nicht mehr den Schein der Sonne vertragen, denn das Atropin hatte ihre Augen so erweitert, daß sie nicht geschlossen werden konnten. Und darum schliefen sie am Tage und gingen nur nach Sonnenuntergang aus. So können die Nachtschmetterlinge entstanden sein.

Als aber der Ligusterschmetterling vom Stechapfel zu essen anfing, da bekam er Schlaf, schlief den Tag über, ging nachts aus, aber nur vor Mitternacht. Davon wurde er fett und nahm im Wachsen zu, ganz wie die Schweine, die in Frankreich mit dem Samen des Stechapfels gemästet werden, der Schlaf gibt. Als er aber den Liguster verließ, dessen Beeren einen Saft haben, so lieblich rosenrot wie der Sonnenuntergang, verlor er seine rosenroten Bänder auf dem Unterleib und wurde häßlich wie ein Schläfer. In seinem Liebesrausch und Giftschwindel konnte er seine Giftpflanze nicht immer finden, trotzdem deren Blüte erst nach sieben Uhr abends duftet, während die Blätter den ganzen Tag stinken, und in der Dunkelheit wurde er zu Kadaverplätzen, Kirchhöfen vielleicht, geführt, wo nur gebleichte Totenschädel seinen Weg erleuchteten, und dort legte er seine Eier. Die Larven aßen abwechselnd Aas und Solanin, und als sie sich verpuppen wollten, flohen sie das Licht und gruben sich ein Grab, denn sie hatten ja keine Ahnung von der Auferstehung.

Da niemand weiß, wie es eigentlich zuging, als Acherontia Atropos mit der Giftetikette versehen wurde, ist der Weg offen für Vermutungen, auch für die meine.

Nachdem ich obiges geschrieben, las ich in Bernardin de St. Pierre, daß der Totenkopfschmetterling französisch »haïe« genannt wird, weil er diesen Laut hören läßt. Welcher Ton, dieses »haïe«! Der Schmerzensschrei bei allen Volksstämmen; der Ruf, mit dem das Faultier über die Last des Daseins klagt; der Ton, mit dem Apollo nach dem Tode seines Freundes Hyacinthus seine Sehnsucht ausdrückte und der sich in der Blume abzeichnete, die den Namen des Abgeschiedenen trägt.

Doch es gibt noch eine Blume, bei welcher der Klagelaut auf den Boden des Kelches gezeichnet ist; als Kinder haben wir ihn alle gelesen, als wir kaum lesen konnten. Das ist der cyanblaue Rittersporn, Delphinium Ajacis, den Ovid als konsequenter Transformist aus der Erde entspringen läßt, auf die das Blut des Ajax floß. Blut und Cyan! Schlachtfeld, Kirchhöfe, Kadavergift und Totenschädel! Ai!

Aber Bernardin de St. Pierre fügt ganz wissenschaftlich hinzu: der Staub von den Flügeln des Totenkopfschmetterlings ist sehr gefährlich für die Augen. Ich habe unterm Mikroskop diesen Staub behandelt, der aus Schuppen und Haaren besteht. Mit Reagentien erwies er sich als ein Pflanzenalkaloid, also wie Atropin, Strychnin usw., was nicht wunderbarer ist, als daß der Sandkäfer (Cicindela campestris) Triäthylphosphin, und daß die spanischen Fliegen Cantharidin hervorbringen, das in der Chemie unter die Alkaloiden aufgenommen wird, und zwar dicht vor Digitalin.

Wenn ich mich jetzt diesen Versuchen, der Ursache auf die Spur zu kommen, warum der Schmetterling den Totenkopf trägt, selbst skeptisch gegenüber stelle, so kenne ich sehr wohl die Methode und habe sie bereits benutzt.

Zuerst sage ich: es ist eine Laune der Natur. Eine Laune wie die, daß die Wespe ihr Nest nach der Gestalt ihres Auges aus Sechsecken baut; daß die Blumenknospen der Ackerwinde den Schirmschuppen der Getreidearten ähnlich werden; daß der Hund seinem Herrn gleich wird, daß der Herr seiner Frau gleich wird, und daß Katharina von Emeritz das Stigma auf die Hände bekommt.

Morphologisch-psychologisch: die Sphinxe, zu denen Acherontia früher gehörte, haben die ungewöhnliche Eigentümlichkeit, daß ihre Larven die ersten Segmente nebst dem Kopf in die folgenden Segmente hineinziehen können, die mit Flecken versehen sind, die Augen imitieren. Warum sich diese gerade einen Schutz für die Augen geschaffen haben, kann ja auf den bekannten Einfluß des Atropins auf das Gesicht beruhen; warum aber haben die hinteren Segmente das eingeschobene Auge photographiert? – Atropin und Morphium werden als Entwickler in der Photographie benutzt! – Warum haben so viele Schmetterlinge die Zeichnung des Auges auf den Flügeln?

Was macht die Larve in der Puppe?

Wissenschaftlich gesprochen, unterliegen die Gewebe der Larve einer Histolyse, das heißt einer Fettdegenereszens oder einer phylogenetischen Nekrobiose. Übersetzen wir: Die Larve macht denselben Todesprozeß in der Puppe durch wie die Leiche im Grabe, die in ein ammoniakalisches Fett verwandelt wird.

Nekrobiose, ja, das sind zwei Worte, von denen das erste Tod, das zweite Leben bedeutet. Aber die Physiologen sagen: Nekrobiose ist die Form des Absterbens, die der Kaseïndegeneration (Tuberkulisation) vorangeht. Mit einem Wort: die Larve ist tot in der Puppe, da sie alle Form verloren hat und nur aus einer Fettmasse besteht! Aber wie kann sie leben! Wie? Sie ist tot, aber sie lebt! Vielleicht gibt es überhaupt keinen Tod? Vielleicht sind die Toten in den Gräbern nicht tot, trotzdem der Arzt Leichenbläue und Fettdegeneration konstatiert hat.

Es gibt latente Wärme, die Kälte ist; es gibt latentes Leben im Samen, der leblos aussieht wie ein Sandkorn und einer Amyloiddegeneration unterworfen war; es gibt Kräfte, die wir nicht kennen, wie die Kraft Katalyse in der Chemie, wo ein Körper durch seine bloße Gegenwart zerstörend wirkt, ohne in ein bemerkbares Verhältnis zum Körper einzutreten.

Die Larve ist tot in der Puppe, aber sie lebt und sie aufersteht, nicht als eine zurückgegangene niedrigere mineralische oder elementare Materie, sondern als eine höhere Form in Schönheit und Freiheit. Ist das nur ein poetisches Bild, was ist dann die Poesie wert?

Ein Kind hat gefragt: Wo bleibt die Lichtflamme, wenn sie gelöscht wird? Die Naturforscher des vorigen Jahrhunderts antworteten: sie kehrt zum Urlicht zurück, von wo sie kam. Unsere Naturforscher, welche die Zerstörbarkeit der Kraft erklären, sagen gleichwohl: sie hörte auf. – Hörte auf zu existieren, wahrgenommen zu werden? Aber nichts kann ja aufhören.

Wo bekam der Schmetterling seine Augen auf die Flügel oder der andere seinen Totenkopf auf den Thorax? Unbedeutende Fragen gegenüber der großen, daß die Larve tot ist, physiologisch, anatomisch, vollkommen wissenschaftlich tot, und daß sie dennoch lebt!

1896.

 

Anmerkung des Übersetzers. Strindberg schreibt am 3. August 1903 an den Übersetzer: »Ihr Deutschen, die Ihr alles wißt, hat nicht ein einziger Gelehrter den histolytischen Verlauf in der Puppe des Schmetterlings (und anderer) geschildert und abgebildet? Ich meine nicht den Hautwechsel der Larve, sondern der ganzen Larve Histolyse in der Puppe. Kein Darwinist, kein Haeckel hat dies Universalproblem behandelt; individuelles Leben, das nach Auflösung der Gewebe zu einem Schleim fortdauert; das ist das Unsterblichkeitsproblem; die Unzerstörbarkeit der individuellen Energie; die Auferstehung vom Tode, des Körpers Auferstehung auch!« – Und am 11. Oktober 1903: »Ich glaube, niemand hat über dies geschrieben, das das Interessanteste von allem ist. Ich habe das Wunder beobachtet! Eine Puppe des Maikäfers, die auf meinem Schreibtisch lag, bewegte sich und gab einen Laut von sich. Ich öffnete sie und fand nur einen gelben Schleim. Unterm Mikroskop aber war, weiß in gelb, die Skizze zum künftigen Käfer zu sehen, doch nur wie ein projiziertes helleres Bild auf einem weniger hellen Hintergrund. Ein französischer Zoologe Perrier spricht von der Histolyse, der Auflösung der Gewebe in der Puppe und ihrer Umschaffung. Die Larve löst sich in einen amorphen Schleim auf; aus diesem Urschleim wird die neue Existenz geschaffen. Das ist unglaublich! Ein Schleim mit Bewegungsvermögen und Sensibilität. Denn er schnellte, als ich ihn reizte, und nahm seine gekrümmte Stellung wieder an, als ich ihn gerade machte. Das ist ja der Tod und die Auferstehung in einem ›verklärten Leib‹.«

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