August Strindberg<
Inferno
August Strindberg<

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XI

Der Ewige hat gesprochen

Der Winter mit seinem graugelben Himmel ist gekommen; kein Sonnenstrahl hat seit Wochen die Wolken durchleuchtet. Die kotigen Wege hindern uns, Spaziergänge zu unternehmen; die Blätter der Bäume faulen, die ganze Natur löst sich in stinkende Verwesung auf.

Das Morden des Herbstes hat begonnen, den ganzen Tag erheben sich die Schreie der Opfer gegen das schwarze Himmelsgewölbe; Blut und Leichen, wohin man tritt.

Es ist zum Sterben traurig, und meine Traurigkeit überträgt sich auf die beiden guten, barmherzigen Schwestern, die mich wie ihr krankes Kind pflegen. Dazu drückt mich meine Armut, die ich vor ihnen verbergen muß, und die Eitelkeit meiner Versuche, dem nahenden Elend vorzubeugen.

Zu meinem eigenen Besten wünscht man meine Abreise, da solch einsames Leben für einen Mann nichts tauge; im übrigen ist man darüber einig, daß ich einen Arzt nötig habe. Umsonst erwarte ich aus meiner Heimat das nötige Geld und bereite mich zu einer Flucht auf der Landstraße vor.

»Ich bin wie ein Pelikan der Wüste geworden und wie eine Eule in ihrem Versteck.«

Meine Gegenwart peinigt meine Verwandten, und wenn nicht meine Liebe zu dem Kinde wäre, so hätte man mich sicher schon hinausgejagt. Jetzt, da Kot oder Schnee das Spazierengehen erschweren, trage ich die Kleine auf meinen Armen die Wege entlang, steige auf Hügel hinauf und erklettere Felsen, so daß die beiden Alten sagen:

»Du machst dich krank, du wirst dir die Schwindsucht holen, du wirst dich töten!«

»O schöner Tod!«

 

Am 20. November, einem grauen, dunklen, häßlichen Tage, sitzen wir beim Mittagessen. Ich bin nach einer ruhelosen Nacht und neuen Kämpfen mit den Unsichtbaren bis aufs Blut zermartert, verfluche das Leben und jammere, daß keine Sonne scheint.

Meine Mutter hat mir prophezeit, daß ich erst zu Lichtmeß, wenn die Sonne wiederkehren wird, genesen werde.

»Das ist mein einziger Sonnenstrahl,« sage ich zu ihr und zeige auf meine kleine Christine mir gegenüber.

Da zerteilen sich in diesem Augenblick die seit Wochen aufgehäuften Wolken, und durch die Spalte dringt ein Lichtstrahl ins Zimmer und erhellt mein Gesicht, das Tischtuch, die Gläser ...

»Sieh doch die Sonne, Papa! sieh doch die Sonne!« ruft das Kind und faltet die Händchen.

Verwirrt erhebe ich mich, eine Beute der ungleichartigsten Empfindungen. Ein Zufall? Nein, sage ich mir.

Das Wunder, das Zeichen? Doch das wäre zuviel für einen in Ungnade Gefallenen wie mich! Der Ewige mischt sich nicht in die kleinen Angelegenheiten der Erdenwürmer. Und dennoch bleibt mir dieser Sonnenstrahl im Herzen, wie ein großes Lächeln im Antlitz eines Unzufriedenen ...

Während der paar Minuten, die mein Gang nach meinem Häuschen erfordert, ballen sich die Wolken zu Gruppen seltsamster Art, und im Osten, wo sich der Schleier gehoben hat, ist der Himmel grün wie ein Smaragd, wie eine Wiese mitten im Sommer. Ich stehe in meinem Zimmer und erwarte in einer sanften Zerknirschung, die aber frei von aller Furcht ist, etwas Unerklärliches.

Da erdröhnt ein einziger Donnerschlag über meinem Haupte. Kein Blitz ist ihm vorangegangen. Zuerst fürchte ich mich und erwarte den gewöhnlichen Regen und Sturm. Aber nichts geschieht; es herrscht vollständige Ruhe, und alles ist vorüber.

Warum, so frage ich mich, bin ich nicht vor der Stimme des Ewigen demütig niedergesunken?

Weil, als der Allmächtige mit einer majestätischen Inszenierung ein Insekt seiner Stimme würdigte, dieses Insekt sich von einer solchen Ehre erhoben und aufgebläht fühlte, indem es sich sogar in seinem Hochmut für ein besonders verdientes Wesen hielt. Es frei herauszusagen, ich fühlte mich dem Herrn auf gleicher Stufe, als einen integrierenden Teil seiner Person, einen Ausfluß seines Wesens, ein Organ seines Organismus. Er brauchte mich, um sich zu offenbaren, denn sonst hätte er mir sofort seinen Blitz gesendet. Woher dieser ungeheure Hochmut eines Sterblichen? Stamme ich vom Anfang der Jahrhunderte her, wo die gefallenen Engel sich zu einem Aufruhr gegen einen Herrscher verbanden, der sich mit der Herrschaft über ein Reich von Sklaven begnügte? Ist deshalb meine Erdenpilgerschaft eine Spießrutenstrafe geworden, wo die Letzten der Letzten eine Freude daran haben, mich zu peitschen, anzuspeien, zu besudeln?

Keine erdenkbare Demütigung, die ich nicht erduldet hätte; und dennoch wächst mein Hochmut immer im direkten Verhältnis zu meiner Erniedrigung. Was ist das? Jakob, mit dem Ewigen ringend und, ob auch ein wenig gelähmt, den Kampf ehrenvoll bestehend. Hiob, geprüft, und darauf beharrend, sich vor den ungerecht auferlegten Strafen zu rechtfertigen.

Von so viel unzusammenhängenden Gedanken bestürmt, stürze ich voll Müdigkeit aus meinem Größenwahn wieder herab und werde so klein, daß die verflossene Szene sich auf ein Nichts reduziert: auf einen Donnerschlag Ende November.

Aber das Echo des Donners wacht wieder auf, und ich öffne, von neuem in Ekstase, aufs Geratewohl die Bibel und bitte den Herrn, lauter zu reden, damit ich ihn verstehe!

Meine Blicke fallen alsbald auf diesen Vers Hiobs:

»Würdest du meinen Verstand vernichten wollen? Würdest du mich verdammen, um dich zu rechtfertigen? Hast du einen Arm wie der starke Gott? Donnerst du mit der Stimme wie er

Kein Zweifel mehr! Der Ewige hat gesprochen! Ewiger! was verlangst du von mir? Rede, dein Knecht hört.

Keine Antwort!

Gut! ich demütige mich vor dem Ewigen, der es für seiner würdig gefunden, sich vor seinem Knechte zu demütigen. Aber das Knie vor Volk und Mächtigen beugen? Niemals!

 

Am Abend empfängt mich meine gute Schwiegermutter auf eine Weise, die mir noch rätselhaft ist. Sie sieht mich mit einem forschenden Blick von der Seite an, als wolle sie den Eindruck erkennen, den das majestätische Schauspiel auf mich gemacht hat.

»Du hast gehört?«

»Ja, es ist sonderbar, ein Donnerschlag im November!«

Wenigstens hält sie mich nicht mehr für einen Verdammten!


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