August Strindberg<
Inferno
August Strindberg<

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Auszüge aus meinem Tagebuch

1896

13. Mai. Ein Brief meiner Frau. Sie hat aus den Zeitungen erfahren, daß ein Herr S. im Luftballon eine Reise nach dem Nordpol machen will, ist darüber in heller Verzweiflung, gesteht mir ihre unabänderliche Liebe und beschwört mich, diesem Plane, der gleichbedeutend mit Selbstmord sei, zu entsagen.

Ich kläre sie über ihren Irrtum auf; es ist ein Vetter von mir, der sein Leben für eine große wissenschaftliche Entdeckung aufs Spiel setzt.

14. Mai. In der vergangenen Nacht hatte ich einen Traum. Ein abgeschnittener Kopf wurde wieder auf den Rumpf eines Menschen gesetzt, der wie ein durch den Trunk herabgekommener Schauspieler aussah. Der Kopf fing an zu sprechen; ich bekam Furcht und warf meinen Bettschirm um, indem ich vermeintlich einen Polizisten vor mir hinstieß, um mich gegen den Angriff des Rasenden zu schützen. – In derselben Nacht sticht mich eine Mücke und ich mache sie tot. Am Morgen ist die rechte Handfläche mit Blut bespritzt.

Als ich auf dem Boulevard du Port-Royal meinen Spaziergang mache, sehe ich auf dem Trottoir einen Blutfleck. Sperlinge haben ihr Nest in den Rauchfang gebaut. Sie zwitschern fröhlich, als ob sie mein Zimmer bewohnten.

17. Mai und folgende Tage. Der Absinth um sechs Uhr auf der Terrasse der Brasserie des Lilas hinter dem Marschall Ney ist mein einziges Laster und meine einzige Freude geworden. Da, nach beendeter Tagesarbeit, wenn Körper und Seele erschöpft sind, erhole ich mich bei dem grünen Getränk, einer Zigarette, dem Temps und den Débats.

Wie süß ist doch das Leben, wenn der Nebel eines mäßigen Rausches seinen Schleier über des Daseins Miseren zieht! Wahrscheinlich beneiden mich die Mächte um diese Stunde einer eingebildeten Seligkeit zwischen 6 und 7 Uhr, denn von diesem Abend an wird dieses Glück durch eine Reihe von Verdrießlichkeiten gestört, die ich jetzt nicht dem Zufall zuschreiben möchte.

Am 17. Mai also ist mein Platz, der schon seit fast zwei Jahren mein Stammplatz ist, besetzt; ebenso alle anderen Stühle. Tief betrübt muß ich in ein anderes Cafe gehen.

18. Meine alte Ecke im Lilas ist wieder frei geworden und ich bin unter meiner Kastanie hinter dem Marschall zufrieden, selbst glücklich. Der wohlbereitete Absinth ist da, die Zigarette angezündet, und der Temps ausgebreitet.

Da geht ein Betrunkener vorüber; ein widerlicher Kerl, dessen tückische, höhnische Miene mich stört. Sein Gesicht ist weinrot, seine Nase preußischblau, sein Auge boshaft. Ich koste meinen Absinth und bin glücklich, daß ich nicht bin, wie dieser Säufer ... Da, ich weiß nicht wie, ist mein Glas umgefallen und leer. Ohne Geld zu einem andern, zahle ich und verlasse das Café, ganz gewiß war es wieder der böse Feind, der mir diesen Streich gespielt.

19. Mai. Ich wage nicht, ins Café zu gehen.

20. Mai. Ich bin um die Terrasse des Lilas herumgeschlichen und habe endlich meine Ecke frei gefunden. Man muß die bösen Geister bekämpfen, mag also der Krieg beginnen. Der Absinth ist gebraut, die Zigarette glimmt und der Temps erzählt große Neuigkeiten. Da, ich lüge nicht, mein Leser, entsteht über meinem Haupte im Hause des Cafés ein Schornsteinbrand! Allgemeine Panik. Ich bleibe sitzen, aber ein stärkerer Wille lenkt eine Wolke Ruß so gut auf mich herab, daß sich zwei große Flocken auf mein Glas setzen. Fassungslos, aber immer noch der alte Ungläubige und Zweifler, gehe ich weg.

1. Juni. Nach einer längeren Enthaltsamkeit wird die Sehnsucht nach meiner Kastanie wieder in mir rege. Mein Tisch ist besetzt, und ich setze mich an einen alleinstehenden und ruhigen andern. Man muß die bösen Geister bekämpfen ... Da kommt eine Familie kleiner Leute und setzt sich in meine Nähe; sie scheint aus unzähligen Gliedern zu bestehen und es werden noch immer mehr, immer mehr. Frauen stoßen an meinen Stuhl, Kinder wickeln ihre kleinen Geschäfte vor meinen Augen ab, junge Männer nehmen mir die Streichhölzer weg, ohne um Entschuldigung zu bitten. So sitze ich inmitten einer lärmenden, unverschämten Menge, aber ich wanke und weiche nicht. Da geschieht etwas, das ohne allen Zweifel die geschickten Hände des Unsichtbaren verrät, denn von einem Verdacht auf diese Personen, denen ich gänzlich unbekannt bin, kann nicht die Rede sein.

Ein junger Mann legt mit einer mir unverständlichen Gebärde einen Sou auf meinen Tisch. Fremd und allein unter einer Menge Menschen, lasse ich es über mich ergehen; aber blind vor Zorn suche ich nach einer Erklärung des Vorfalls.

Er gibt mir einen Sou wie einem Bettler!

Bettler! das ist der Dolch, den ich mir in die Brust stoße. Bettler! ja, denn du verdienst nichts und ...

Der Kellner bietet mir einen bequemeren Platz an, und ich lasse das Geldstück liegen. Welche Schande! Er bringt es mir nach und läßt mich mit höflichen Worten wissen, der junge Mann habe es unter meinem Tisch aufgehoben und geglaubt, daß es mir gehöre. –

Ich schäme mich, und um meinen Zorn zu besänftigen, bestelle ich einen zweiten Absinth.

Der Absinth ist da und alles ist wunderschön, als ein pestartiger Ammoniakgeruch mir den Atem benimmt.

Was war das wieder? Nun, weder ein Wunder, noch irgendeine böse Absicht ... Ein Abflußrohr öffnete sich am Rande des Trottoirs, wo gerade mein Stuhl stand. Ich fange an zu begreifen, daß die guten Geister mich von einem Laster heilen wollen, das zuletzt ins Irrenhaus führt. Gesegnet sei die Vorsehung, die mich gerettet hat!

 

25. Mai. Trotzdem die Hausordnung Frauen ausschließt, hat sich eine Familie neben meinem Zimmer einquartiert. Ein Tag und Nacht schreiender Säugling macht mir viel Vergnügen und erinnert mich an die gute alte Zeit zwischen dreißig und vierzig, wo das Leben am blühendsten war.

26. Mai. Die Familie zankt sich, das Kind heult; wie sich doch alles gleicht und wie süß es doch – heute – für mich ist!

Den Abend sah ich die Engländerin wieder. Sie war reizend und lächelte mir mit ihrem guten mütterlichen Lächeln zu. Sie hat eine Serpentintänzerin gemalt, die einer Nuß oder einem Gehirn gleicht. Das Bild hängt ziemlich versteckt im Restaurant hinter dem Büfett der Madame Charlotte.

29. Mai. Ein Brief meiner Kinder aus erster Ehe benachrichtigt mich, es sei eine Depesche gekommen, sie sollten in Stockholm dem vor meiner Nordpolfahrt stattfindenden Abschiedsfeste beiwohnen. Sie verstehen von alledem nichts und ich ebensowenig. Welch fataler Irrtum!

Die Zeitungen melden das Unglück in Saint Louis (Saint Louis!) in Amerika, wo ein Zyklon tausend Menschen getötet hat.

2. Juni. In der Avenue de l'Observatoire fand ich zwei genau herzförmige Kiesel. Am Abend fand ich im Garten eines russischen Malers ein drittes Herz von derselben Größe und vollkommener Ähnlichkeit mit den andern beiden. Der »Aufschwung« von Schumann hat aufgehört, und ich bin wieder ruhig.

4. Juni. Ich besuche den dänischen Maler in der Rue de la Santé. Der große Hund ist verschwunden, der Zugang frei. Wir gehen auf einer Terrasse im Boulevard Port-Royal speisen. Meinem Freund ist kalt und unbehaglich, und da er seinen Überzieher vergessen hat, lege ich ihm den meinigen über die Schultern. Zuerst beruhigt ihn dies, er fühlt sich von mir beherrscht und sträubt sich nicht dagegen. Wir sind über alle Punkte einig; er wagt sich nicht mehr zu widersetzen. Er gesteht, daß Popoffsky ein Lump sei und daß ich ihm alle meine Unfälle verdankte. Plötzlich überfällt ihn eine sonderbare Nervosität, er zittert wie ein Medium unter dem Einfluß des Hypnotiseurs, wird aufgeregt, schüttelt den Überzieher ab, hört auf zu essen, legt die Gabel beiseite, steht auf und verabschiedet sich.

Was war das? Ein Nessusgewand? Hat sich mein nervöses Fluidum in meinem Überzieher aufgespeichert und durch seine ungleiche Polarität ihn unterjocht? Sollte es das sein, worauf Hesekiel Kapitel 13, Vers 18 hinzielt: »So spricht der Herr Herr: Wehe euch, die ihr Kissen machet den Leuten unter die Arme und Pfühle zu den Häuptern, beides, Jungen und Alten, die Seelen zu fangen! ... Ich will eure Pfühle zerreißen und mein Volk aus eurer Hand erretten, daß ihr sie nicht mehr fangen sollt und sollt erfahren, daß ich der Herr sei.«

Bin ich ein Zauberer geworden, ohne daß ich es weiß?

7. Juni. Ich besuchte meinen dänischen Freund, um seine Bilder zu betrachten. Bei meiner Ankunft war er gesund und munter, aber nach einer halben Stunde bekam er einen nervösen Anfall, der sich dermaßen verstärkte, daß er sich auskleiden und zu Bett legen mußte.

Was fehlte ihm? Hatte er ein schlechtes Gewissen?

14. Juni. Sonntag. Im Jardin du Luxembourg finde ich noch ein viertes Kieselsteinherz von derselben Art, wie die drei vorigen. Der Stein ist mit einem Stückchen Flittergold beklebt; das Ganze bleibt mir ein Rätsel, dünkt mir aber eine Vorbedeutung. Ich vergleiche die vier Steine vor dem offenen Fenster, als die Glocken von Saint-Sulpice zu läuten beginnen, dann fängt die große Glocke von Notre-Dame an, und durch dieses gewöhnliche Läuten dringt ein Rollen, dumpf, feierlich, als käme es aus den Eingeweiden der Erde.

Ich frage den Kellner, der mir die Post bringt, was das sei.

»Die große Savoyarde von Sacré-Coeur de Montmartre.«

Wir haben also das Fest von Sacré-Coeur? Und ich betrachte diese vier harten Steinherzen, durch dies auffallende Zusammentreffen eigentümlich erregt.

Ich höre in der Richtung von Notre-Dame des Champs einen Kuckuck, und doch ist es unmöglich; oder sind meine Ohren so übermäßig fein geworden, daß sie Töne aus dem Walde von Meudon hören?

§§§

15. Juni. Ich fahre nach Paris, um einen Scheck in Noten und Gold umzuwechseln. Zu meinem Erstaunen schwankt der Quai Voltaire unter meinen Füßen; freilich auch die Karussell-Brücke erzittert unter dem Gewicht der Wagen. Aber heute setzt sich diese Bewegung über den Tuilerien-Hof bis zur Avenue de l'Opera fort. Eine Stadt zittert gewiß immer, aber um es zu merken, muß man raffinierte Nerven haben.

Die andere Seite des Wassers ist für uns Bewohner von Montparnasse eine fremde Welt. Ein Jahr fast ist es her, seit ich der Lyoner Kreditbank im Kredit Lyonnais oder dem Café de la Régence meinen letzten Besuch abstattete. Auf dem Boulevard des Italiens ergriff mich ein Heimweh, und ich eilte zum Wasser zurück, wo der Anblick der Rue des Saints-Pères mein Herz neu belebte.

In der Nähe der Kirche Saint-Germaine des Prés begegne ich einem Leichenwagen und später zwei kolossalen Madonnen, welche auf einem Karren fortgeschafft wurden. Die eine, die mit gefalteten Händen und gen Himmel gerichteten Blicken kniete, machte einen starken Eindruck auf mich.

16. Juni. Auf dem Boulevard Saint-Michel kaufe ich ein Bildchen, geschmückt mit einer Glaskugel, welche die Madonna von Lourdes in ihrer berühmten Grotte enthält; vor ihr kniet eine verschleierte Frau. Als ich das Bild in die Sonne stelle, wirft es wunderbare Schatten. Auf der hinteren Seite der Grotte hat der Gips zufälliger- und vom Künstler unvorhergesehenerweise einen Christuskopf gebildet.

18. Juni. Mein dänischer Freund tritt bestürzt und am ganzen Körper zitternd in mein Zimmer. Popoffsky ist unter der Anklage, eine Frau und zwei Kinder, seine Geliebte und seine zwei außerehelichen Kinder, ermordet zu haben, in Wien verhaftet worden.

Nach der ersten Überraschung und dem ersten aufrichtigen Mitleid für einen Freund, der mir doch einst so nahe gestanden hatte, überkommt meinen durch die monatelangen Drohungen gefolterten Geist eine tiefe Ruhe.

Unfähig, meinen gerechten Egoismus zu verhehlen, lasse ich meinen Gefühlen freien Lauf: Es ist schrecklich, und doch erleichtert es mich, wenn ich an die Gefahr denke, der ich entgangen bin.

Was mag ihn dazu getrieben haben? Wir vermuten als Grund Eifersucht der legitimen Gattin gegen die illegitime Familie und Kosten, die diese nach sich ziehen mußte. Vielleicht auch ...

»Was?«

»Vielleicht haben seine blutdürstigen Instinkte unlängst in Paris keinen Ausweg gefunden und haben sich nun irgendeinen andern, gleichviel welchen, gesucht.«

Bei mir selbst sage ich: wäre es möglich, daß meine glühenden Gebete den Dolch ab – und auf den Mörder selbst zurückgewendet hätten?

Ich grübele nicht weiter und schlage großmütig wie ein Sieger vor:

»Retten wir unseren Freund wenigstens literarisch; ich werde einen Aufsatz über seine schriftstellerischen Verdienste bringen, Sie zeichnen ein sympathisches Porträt, und das Ganze bieten wir der Revue Blanche an.

Im Atelier des Dänen (der Hund bewacht es nicht mehr), betrachten wir ein vor zwei Jahren gemaltes Porträt Popoffskys. Es gibt nur seinen Kopf, da der Rumpf von einer Wolke gleichsam abgeschnitten ist. Darunter kreuzen sich Totenknochen, wie man es auf Grabtafeln sieht. Der abgeschnittene Kopf macht uns schaudern, und der Traum vom dreizehnten Mai taucht wieder wie ein Gespenst vor mir auf.

»Wie sind Sie auf den Gedanken mit dieser Enthauptung gekommen?«

»Das ist schwer zu sagen; aber es ruhte ein Verhängnis auf diesem feinen Geiste mit genialischen Spuren, der vom höchsten Ruhme träumte, ohne den Preis dafür zahlen zu wollen. Das Leben läßt uns nur eines wählen, den Lorbeer oder die Sinnenlust.«

»Sie haben das endlich auch entdeckt?«

23. Juni. Ich hebe eine unechte Nadel mit einer falschen Perle auf. Aus dem Goldbad fische ich wieder ein goldenes Herz.

Als ich abends durch die Rue de Luxembourg wandere, sehe ich hinter der ersten Allee rechts über den gegen den Himmel sich zeichnenden Bäumen eine Hirschkuh. Als ich bewundernd stehenbleibe – so schön ist sie in Form und Farbe – bewegt sie den Kopf und verschwindet in südöstlicher Richtung. (Donau!)

Diese letzten Tage nach der Katastrophe des Russen ergreift mich eine neue Unruhe. Es scheint mir, daß man sich mit meinem Schicksal irgendwo beschäftigt, und ich vertraue dem dänischen Maler an, daß der Haß des gefangenen Russen mich wie das Fluidum einer elektrischen Maschine leiden läßt.

Es gibt Augenblicke, in denen ich voraus ahne, daß mein Aufenthalt in Paris bald zu Ende sein wird, und daß mich ein Umschwung meiner Verhältnisse erwartet.

Der Hahn auf dem Kreuze von Notre-Dame des Champs scheint mir mit den Flügeln zu schlagen, als wolle er fortfliegen, und zwar nach Norden.

Im Vorgefühl meiner baldigen Abreise vollende ich eilig meine Studien im Jardin des Plantes.

Eine Zinkwanne, in der ich Goldsynthesen auf feuchtem Wege vornehme, zeigt an den inneren Seiten eine durch verflüchtigte Eisensalze gebildete Landschaft. Ich verstehe, es ist eine Voraussagung, aber ich errate nicht, wo diese Landschaft liegen wird. Hügel mit Koniferen, vor allem mit Tannen bewaldet; zwischen ihnen Ebenen mit Obstbäumen; Kornfelder, alles weist auf die Nachbarschaft eines Flusses. Einer der Hügel mit Abhängen von schichtenförmiger Bildung ist mit der Ruine einer stolzen Burg gekrönt. Ich kenne mich noch nicht aus, aber ich werde nicht lange im Ungewissen bleiben.

25. Juni. Bei dem Haupt des wissenschaftlichen Okkultismus, dem Direktor der Initiation eingeladen. Als der Doktor und ich in Marolles en Brie anlangen, werden wir von drei schlechten Nachrichten empfangen. Ein Wiesel hatte die Enten getötet, eine Magd war erkrankt; das dritte ist mir entfallen.

Am Abend der Rückkehr nach Paris lese ich in einer Zeitung die so berühmt gewordene Geschichte von dem Gespensterhaus in Valence en Brie.

Brie? Argwöhnisch fürchte ich, daß die Bewohner meines Hotels Verdacht schöpfen, von meinem Ausflug nach Brie Wind bekommen und infolge meiner alchimistischen Arbeiten auf mich den Verdacht werfen könnten, daß ich jene Stänkerei oder besser Hexerei in Szene gesetzt hätte.

Ich habe mir einen Rosenkranz gekauft. Warum? Er ist schön und die bösen Geister fürchten das Kreuz; übrigens denke ich über die Triebfedern meiner Handlungen nicht mehr nach. Ich handle, wie es kommt, das Leben ist so viel unterhaltender.

In der Affäre Popoffsky zeigt sich ein Umschwung; sein Freund, der Däne, fängt an, die Wahrscheinlichkeit des Verbrechens zu bestreiten, indem er vorbringt, die Untersuchung habe die Anklage widerlegt. So ist also unser Artikel aufgeschoben, und die alte Kälte greift wieder Platz. Gleichzeitig taucht auch das Ungeheuer von Hund wieder auf, ein Wink für mich, auf meiner Hut zu sein.

Als ich nachmittags an meinem Fenstertisch schreibe, bricht ein Gewitter los. Die ersten Regentropfen fallen auf mein Manuskript und besudeln es derart, daß aus verwischten Buchstaben das Wort Alp entsteht und dazu noch ein Klecks in der Form eines riesigen Gesichts. Ich behalte die Zeichnung, sie ähnelt dem japanischen Donnergott, wie er in der ›Atmosphäre‹ Camille Flammarions abgebildet ist.

28. Juni. Ich habe meine Frau im Traume gesehen; sie hatte einen zahnlosen Mund. Sie gab mir eine Gitarre, die wie ein Donauboot aussah.

Derselbe Traum bedrohte mich mit Gefängnis.

Morgens hob ich in der Rue d'Assas einen Papierstreifen in Regenbogenfarben auf.

Nachmittags zerreibe ich auf einem Stück Pappe Quecksilber, Zinn, Schwefel und ein Ammoniakchlorat. Wie ich die Masse abnahm, behielt die Pappe den Abdruck eines Gesichtes, das eine außerordentliche Ähnlichkeit mit dem meiner Frau im Traume der vergangenen Nacht hatte.

1. Juli. Ich erwarte irgendwo eine Eruption, ein Erdbeben, einen Blitzschlag. Nervös wie ein Pferd beim Nahen der Wölfe wittere ich die Gefahr, packe meine Koffer zur Flucht, ohne mich indessen noch zu ihr entschließen zu können.

Der Russe ist aus Mangel an Beweisen aus dem Gefängnisse entlassen; sein Freund, der Däne, ist mein Feind geworden. Die Gesellschaft im Restaurant verfolgt mich. Das letzte Mittagessen wurde wegen der Hitze im Hofe aufgetragen. Der Tisch war zwischen der Müllkiste und den Aborten aufgestellt. Über der Müllkiste hängt das Bild meines ehemaligen amerikanischen Freundes, das gekreuzigte Weib. Man hat sich so an ihm gerächt, da er, ohne seine Schulden zu bezahlen, verschwunden ist. Neben dem Tisch haben die Russen eine Statuette, einen Krieger mit der traditionellen Sense, aufgestellt. Um mir Furcht zu machen! Ein junger Bursche aus dem Hause geht hinter meinem Rücken mit der schlecht verhehlten Absicht, mich zu ärgern, auf den Abort. Der Hof ist eng wie ein Schacht und läßt keine Sonne über die hohen Mauern herein. Die fast überall in den Etagen wohnenden Dirnen lassen aus ihren offenen Fenstern einen Hagel von Zoten auf unsere Köpfe niederprasseln. Die Mägde kommen mit ihren Körben voll Unrat, um sie in die Müllkiste auszuschütten. – Es ist die Hölle selber. Dazu suchen mich noch meine beiden Nachbarn, geständige Päderasten, durch ihre widerliche Unterhaltung in einen Streit zu verwickeln.

Warum bin ich hier? Weil mich die Einsamkeit zwingt, menschliche Wesen aufzusuchen und menschliche Stimmen zu hören.

Da, als meine seelische Qual ihren höchsten Grad erreicht, entdecke ich auf dem winzigen Gartenbeet einige blühende Stiefmütterchen. Sie schütteln ihre Köpfe, als wollten sie mir eine Gefahr anzeigen, und eines von ihnen mit einem Kindergesicht und großen Augen winkt mir:

»Geh fort!«

Ich erhebe mich und zahle; als ich hinausgehe grüßt mich der Bursche mit verstecktem Hohn, der mir übelmacht. Aber ich bleibe ruhig.

Ich habe Mitleid mit mir selbst, und schäme mich für die anderen. Ich vergebe den Schuldigen, als wären es Dämonen, die ihre Pflichten nun einmal erfüllen müssen. Inzwischen wird die Ungnade der Mächte allzu deutlich, und ich mache mich zu Hause daran, mein Soll und Haben zu überschlagen. Bis heute, und das war meine Stärke, habe ich mich vor den andern nicht zu beugen vermocht, jetzt aber, durch die Hand des Unsichtbaren niedergeschmettert, bemühe ich mich, mir selber unrecht zu geben, und Furcht erfaßt mich, da ich über mein Betragen während der letzten Wochen gründlich nachdenke. Mein Gewissen beichtet mir rückhalt- und erbarmungslos. Ich hatte durch Hochmut gesündigt, durch Hybris, das einzige Laster, welches die Götter nicht verzeihen. Durch die Freundschaft des Doktor Papus, der meine Untersuchungen gelobt hatte, ermutigt, bildete ich mir ein, die Sphinx enträtselt zu haben.

Ein Nacheiferer des Orpheus, hielt ich es für meine Rolle, die unter den Händen der Gelehrten verendete Natur aufs neue zu beleben.

Der Gunst der Mächte bewußt, schmeichelte ich mir, meinen Feinden gegenüber unbesiegbar zu sein und vergaß der gewöhnlichsten Regungen der Bescheidenheit.

Es ist hier der rechte Augenblick, die Geschichte meines geheimen Freundes einzuschalten, der eine entscheidende Rolle in meinem Leben, als Mentor, Ratgeber, Tröster, Richter und nicht zum wenigsten als ein in verschiedenen Zeiten der Not verläßlicher Helfer spielte. Schon 1890 schrieb er mir wegen eines Buches, das ich damals veröffentlichte. Er hatte zwischen meinen Ideen und denen der Theosophen Berührungspunkte gefunden und verlangte über die Geheimlehre und die Isis-Priesterin, Madame Blawatsky, meine Meinung zu hören. Der anmaßende Ton seines Briefes mißfiel mir, und ich verbarg dies auch in meiner Antwort durchaus nicht. Vier Jahre später veröffentlichte ich den Antibarbarus und erhalte im kritischsten Moment meines Lebens von der Hand dieses Unbekannten einen zweiten Brief, in dem er mir im gehobenen, fast prophetischen Stil eine schmerzens- und glorreiche Zukunft vorhersagt. Zugleich setzt er mir auseinander, er habe diesen Briefwechsel in einer Ahnung wieder aufgenommen, daß ich mich augenblicklich in einer seelischen Krise befände, in der mir ein Trostwort vielleicht nottäte. Schließlich bietet er mir seine Hilfe an, die ich jedoch, auf meine elende Unabhängigkeit eifersüchtig, ablehne.

Im Herbst 1895 fange ich die Korrespondenz wieder an, indem ich ihm meine naturgeschichtlichen Schriften zum Verlag anbiete. Seit diesem Tage unterhalten wir die freundschaftlichsten und intimsten brieflichen Beziehungen; wenn ich ein kurzes Zerwürfnis ausnehme, das entstand, als er mich einmal in verletzendem Tone über bekannte Dinge unterrichten zu müssen glaubte und mir in hochmütigen Worten meinen Mangel an Bescheidenheit vorpredigte.

Nachdem wir uns jedoch wieder ausgesöhnt, teilte ich ihm wieder alle meine Beobachtungen mit und gab mich ihm mit größerem Vertrauen, als es vielleicht klug war.

Ich beichtete diesem Manne, den ich nie gesehen hatte, alles und ertrug von ihm die ernstesten Ermahnungen, denn ich betrachtete ihn eher als eine Idee, denn als eine Person; er war für mich ein Bote der Vorsehung, mein guter Geist.

Doch gab es zwischen uns eine kardinale Meinungsverschiedenheit, die zu sehr lebhaften Erörterungen führte, ohne daß jedoch der Streit in Bitterkeit ausartete. Als Theosoph predigte er Karma, das heißt die ideelle Summe der menschlichen Geschicke, welche sich untereinander im Sinne einer gewissen Nemesis ausgleichen. Er war also ein Verfechter der mechanischen Weltordnung, ein Epigone der sogenannten materialistischen Schule. Mir hatten sich die Mächte als eine oder mehrere konkrete, lebende, individualisierte Personen offenbart, die den Lauf der Welt und die Schicksale der Menschen bewußt, oder, wie die Theologen sagen, persönlich lenken. Die zweite Meinungsverschiedenheit bezog sich auf die Verleugnung und Abtötung des eigenen Ichs, was für mich stets etwas völlig Törichtes ist und bleibt.

Alles, das heißt das Wenige, was ich weiß, geht auf das Ich als seinen Mittelpunkt zurück. Nicht der Kultus zwar, wohl aber die Kultur dieses Ichs erweist sich also als der höchste und letzte Zweck des Daseins. Meine endgültige und stete Antwort auf seine Einwendungen lauten also: Die Abtötung des Ichs heißt sein Selbstmord.

Vor wem soll ich mich überhaupt beugen? Vor den Theosophen? Niemals!

Vor dem Ewigen, den Mächten, der Vorsehung, lasse ich soviel als möglich, meinen bösen Instinkten immer und alle Tage freien Lauf. Kämpfen für die Erhaltung meines Ichs gegen alle Einflüsse, die eine Sekte oder Partei aus Herrschsucht auf mich ausüben will, das ist meine Pflicht, das sagt mir mein Gewissen, das mir die Gnade meiner göttlichen Beschützer gegeben hat.

Dessenungeachtet dulde ich es wegen der Eigenschaften dieses unsichtbaren Menschen, den ich lieben und bewundern muß, wenn er mich manchmal in anmaßender Weise als einen unter ihm Stehenden behandelt. Ich antworte ihm stets und verhehle ihm nicht meinen Widerwillen gegen die Theosophie.

Schließlich aber – es war gerade während des Popoffskyschen Abenteuers – fällt er in eine so hochmütige Sprache, und wird in seiner Tyrannei so unerträglich, daß ich fürchten muß, daß er mich für einen Narren hält. Er nennt mir Simon Magus, den Schwarzkünstler, und empfiehlt mir Madame Blawatsky. Ich schrieb ihm zurück, daß ich die Dame durchaus nicht nötig hätte, und daß überhaupt niemand mich etwas zu lehren hätte. Und womit droht er mir darauf? Daß er mich mit Hilfe stärkerer Mächte, als es die meinigen wären, auf den richtigen Weg wieder zurückbringen werde. Da bitte ich ihn, doch nicht an mein Schicksal rühren zu wollen, das die Hand der Vorsehung immer so gut gehütet und geleitet hat. Und um ihm meinen Glauben durch ein Beispiel deutlich zu machen, erzähle ich ihm folgende Einzelheit aus meinem an providentiellen Zwischenfällen so reichen Leben, indem ich jedoch vorausschicke, daß ich durch die Erzählung eben dieser Geschichte die Nemesis herauszufordern fürchtete.

 

Es war vor zehn Jahren, inmitten meiner lärmendsten literarischen Periode, als ich gegen die Frauenbewegung wütete, die außer mir jedermann in Skandinavien unterstützte. Ich ließ mich von der Wut des Kampfes fortreißen und überschritt die Grenzen der Schicklichkeit so weit, daß meine Landsleute mich für verrückt hielten.

Ich hielt mich gerade mit meiner ersten Frau und unsern Kindern in Bayern auf, als ein Brief von meinem Jugendfreund ankam, der mich und meine Kinder auf ein Jahr lang zu sich einlud. Meiner Frau tat er keine Erwähnung.

Der Charakter dieses Briefes flößte mir, besonders infolge seines geschraubten Stils, seiner Verbesserungen und Weglassungen, die eine Unschlüssigkeit des Schreibers in der Wahl der Gedanken bekundeten, Argwohn ein. Da ich eine Falle witterte, so lehnte ich das Anerbieten mit ein paar nichtssagenden, liebenswürdigen Worten ab.

Zwei Jahre später nach meiner ersten Scheidung lade ich mich allein bei meinem Freunde ein, der auf einer kleinen Küsteninsel in der Ostsee als Zollinspektor lebt.

Der Empfang ist herzlich, aber die ganze Stimmung verlogen und zweideutig, und die Unterhaltung schon mehr ein Polizeiverhör. Nach einer Nacht Nachdenken bin ich mir klar. Dieser Mann, dessen Eigenliebe ich in einem meiner Romane gekränkt habe, will mir, ungeachtet der Sympathie, die er mir entgegenbringt, nicht wohl. Ein Despot ohnegleichen, will er sich an meinem Geschick versuchen, mich bändigen und unterjochen, um mir so seine Überlegenheit zu zeigen.

Wenig rücksichtsvoll in der Wahl seiner Mittel, quält er mich eine Woche lang, vergiftet mich mit Verleumdungen und zur jeweiligen Gelegenheit erfundenen Märchen, macht es aber so ungeschickt, daß es mir immer mehr zur Überzeugung wird, daß er mich als Geisteskranken internieren will.

Ich leiste ihm keinen sonderlichen Widerstand und überlasse es meinem guten Sterne, mich zur rechten Zeit wieder zu befreien.

Meine scheinbare Unterwerfung gewinnt mir meinen Henker, und allein, mitten auf dem Meere, von seinen Nachbarn und Untergebenen gehaßt, gibt er seinem Bedürfnis, sich mir anzuvertrauen, nach. Er erzählt mir mit einer bei einem Fünfziger unbegreiflichen Naivität, daß seine Schwester vergangenen Winter verrückt geworden sei, und in einem Anfall von Geistesgestörtheit ihre Ersparnisse verbrannt habe.

Den andern Morgen erfahre ich von ihm des Weiteren, daß sein Bruder auf dem Festlande in einem Irrenhaus steckt.

Ich frage mich: Will er vielleicht gerade deshalb, um sich an dem Geschick zu rächen, auch mich in ein Tollhaus gesperrt sehen?

Nachdem er mir so sein Unglück geklagt hat, gewinne ich seine volle Zuneigung, so daß ich die Insel verlassen und mir auf einer benachbarten Insel, wo ich meine Familie antreffe, eine Wohnung mieten kann. Vier Wochen später ruft mich ein Brief zu meinem »Freunde«, der ganz gebrochen ist, weil sein Bruder in einem Anfall von Tobsucht sich den Schädel zerschmettert hat. Ich tröste ihn, meinen Henker, und seine Frau vertraut mir zum Überfluß unter Tränen ihre schon lange gehegte Befürchtung, daß ihren Mann dasselbe Schicksal wie die andern ereilen werde.

Ein Jahr darauf erzählen die Zeitungen, daß der älteste Bruder meines Freundes sich unter Umständen, welche auf Wahnsinn hindeuteten, das Leben genommen habe. Drei Schläge also auf das Haupt dieses Mannes, der mit dem Blitz hatte spielen wollen.

»Welcher Zufall!« wird man ausrufen. Und noch mehr! Welch verhängnisvoller Zufall, daß ich jedesmal, wenn ich diese Geschichte erzähle, dafür gezüchtigt werde.

 

Die große Julihitze lastet über der Stadt; das Leben ist unerträglich; alles stinkt und die hundert Aborte nicht am wenigsten.

Ich erwarte irgendeine Katastrophe.

Auf der Straße finde ich einen Fetzen Papier mit dem Worte Marder, in einer anderen Straße einen ähnlichen Fetzen, der von derselben Hand das Wort Geier enthält. Popoffsky gleicht vollkommen einem Marder wie seine Frau einem Geier. Sind sie nach Paris gekommen, um mich zu töten? Er, der Mörder ohne Vorurteile, ist zu allem fähig, nachdem er Frau und Kinder ermordet hat.

Die Lektüre des köstlichen Buches »La joie de mourir« erregt den Wunsch in mir, aus der Welt zu gehen. Die Grenze zwischen Leben und Tod kennenzulernen, lege ich mich auf das Bett, entkorke das Fläschchen mit Zyankali und lasse es seine vernichtenden Düfte ausströmen. Der Mann mit der Sense nähert sich sanft, wollüstig, aber im letzten Augenblick tritt immer jemand oder etwas dazwischen; entweder kommt der Kellner unter irgendeinem Vorwand oder eine Wespe fliegt durch das Fenster herein.

Die Mächte verweigern mir die einzige Freude, und ich beuge mich ihrem Willen.

 

Anfang Juli wird das Hotel leer, die Studierenden sind in die Ferien gereist. Um so mehr erregt ein Fremder, der das Zimmer auf Seiten meines Arbeitstisches bezieht, meine Neugierde. Der Unbekannte spricht niemals, er scheint sich hinter der Wand, die uns trennt, mit Schreiben zu beschäftigen. Merkwürdigerweise rückt er, stets wenn ich meinen Stuhl rücke, auch den seinigen, er macht und ahmt überhaupt alle meine Bewegungen nach, als ob er mich reizen wolle. So geht es drei Tage. Am vierten mache ich folgende Beobachtung: Gehe ich schlafen, so geht der andere im Zimmer neben meinem Tisch auch schlafen, liege ich aber völlig im Bett, so höre ich ihn sich im anderen Zimmer niederlegen und das Bett an meiner Wand besetzen. Ich höre es, wie er sich parallel mit mir ausstreckt; er blättert in einem Buch, löscht dann die Lampe aus, atmet laut, dreht sich auf die Seite und schläft ein. Eine tiefe Stille herrscht in dem Zimmer neben meinem Tisch. Er bewohnt also beide. Es ist unangenehm, von zwei Seiten belagert zu werden. Mutterseelenallein nehme ich mein Mittagessen auf einem Tablett auf meinem Zimmer ein und esse so wenig, daß der Kellner mich bedauert. Seit acht Tagen habe ich meine Stimme nicht mehr gehört, und ihr Ton beginnt aus Mangel an Übung bereits abzunehmen. Ich habe keinen Sou mehr, und Tabak und Briefmarken gehen mir aus. Da sammle ich meine Willenskraft zu einem letzten Versuch; ich will Gold machen, auf trocknem Wege durch Feuer. Das Geld dazu findet sich, Ofen, Schmelztiegel, Holzkohlen, Blasebalg und Zangen ebenfalls. Die Hitze ist furchtbar und, wie ein Schmiedearbeiter bis zu den Hüften entkleidet, schwitze ich vor dem offenen Feuer. Aber die Sperlinge haben ihr Nest in den Schornstein gebaut und die Kohlendämpfe schlagen ins Zimmer heraus. Ich möchte toll werden über diesen ersten Versuch, meine Kopfschmerzen und die Eitelkeit meiner Bemühungen; denn alles geht verkehrt. Nachdem ich die Masse dreimal im Feuer geschmolzen, sehe ich in das Innere des Tiegels. Der Borax hat einen Totenkopf mit zwei leuchtenden Augen gebildet, die meine Seele wie mit übernatürlicher Ironie durchbohren.

Wieder kein Metallkorn! Und ich verzichte auf alle folgenden Versuche.

Ich sitze in meinem Sessel und lese in der Bibel, wo ich sie gerade aufgeschlagen habe: »Sie gehen nicht in ihr Herz; keine Vernunft noch Witz ist da, daß sie doch dächten: Ich habe die Hälfte mit Feuer verbrannt und habe auf den Kohlen Brot gebacken und Fleisch gebraten und gegessen; und sollte das übrige zum Greuel machen und sollte knien vor einem Klotz? Es gibt Asche und täuscht das Herz, das sich zu ihm neigt; und kann seine Seele nicht erretten. Noch denkt er nicht: Ist das auch Trügerei, das meine rechte Hand treibt? ... So spricht der Herr, dein Erlöser, der dich von Mutterleibe hat zubereitet: Ich bin der Herr, der alles tut, der den Himmel ausbreitet allein und die Erde weit macht ohne Gehilfen, der die Zeichen der Wahrsager zunichte und die Weissager toll macht, der die Weisen zurückkehrt, und ihre Kunst zur Torheit macht

Zum ersten Male zweifle ich an meinen wissenschaftlichen Versuchen. Wenn das alles Torheit ist, ah, dann habe ich mein Lebensglück und das meiner Frau und Kinder einem Hirngespinst geopfert!

Wehe mir Verblendetem! Der Abgrund zwischen der Trennung von meiner Familie und diesem Augenblick öffnet sich! Ein und ein halbes Jahr, ebensoviel schmerzliche Tage und Nächte, um nichts!

Nein, das darf nicht sein, das ist nicht so.

Habe ich mich in einem dunklen Walde verirrt? Der gute Geist hat mich auf den rechten Weg nach der Insel der Seligen geleitet, aber Satan versucht mich. Man straft mich wieder. Schlaff sinke ich in meinen Sessel, eine ungewohnte Schwere lastet auf meinem Geiste. Aus der Wand scheint ein magnetisches Fluidum zu strömen und Schlaf schleicht sich in meine Glieder. Ich nehme mich zusammen, und stehe auf, um auszugehen. Als ich durch den Flur komme, höre ich zwei Stimmen in dem Zimmer neben meinem Tische flüstern.

Warum flüstern sie? In der Absicht, sich vor mir versteckt zu halten.

Durch die Rue d'Assas gehe ich nach dem Jardin de Luxembourg. Ich schleppe mich mühsam, vom Kreuz bis zu den Füßen gelähmt, vorwärts und sinke hinter Adam und seiner Familie auf eine Bank.

Ich bin vergiftet! Das ist mein erster Gedanke. Und Popoffsky, der Frau und Kinder durch giftige Gase getötet hat, ist hier. Er hat nach dem berühmten Experiment von Pettenkofer einen Gasstrom durch die Mauer geleitet. Was soll ich tun? Zur Polizei gehen! Nein, denn wenn ich keine Beweise vorbringen kann, wird man mich als einen Verrückten einsperren.

Vae soli! Wehe dem einsamen Menschen, dem Sperling auf dem Dache! Niemals war das Elend meines Daseins größer, und ich weine wie ein verlassenes Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet.

Abends wage ich aus Furcht vor einem neuen Attentat nicht an meinem Tisch sitzen zu bleiben und lege mich zu Bett, ohne daß ich mich einzuschlafen getraute. Die Nacht bricht herein und meine Lampe brennt. Da sehe ich draußen an der gegenüberliegenden Mauer von meinem Fenster aus, den Schatten einer menschlichen Gestalt sich abzeichnen, ob Mann oder Frau, wüßte ich nicht zu sagen, aber ich glaube, es war eine Frau.

Als ich aufstehe, um es auszuspionieren, senkt sich das Rouleau geräuschvoll nieder, dann höre ich den Unbekannten in das Zimmer neben meinem Alkoven treten und alles ist still.

Drei Stunden bleibe ich mit offenen Augen liegen, in die der gewöhnliche Schlaf nicht kommen will. Da durchläuft meinen Körper ein beunruhigendes Gefühl: ich bin das Opfer eines elektrischen Stromes, der zwischen den beiden benachbarten Zimmern hin und her geht. Die Spannung wächst, und trotz meines Widerstandes halte ich es im Bett nicht mehr aus, nur von einem Gedanken besessen:

»Man mordet mich! Ich will mich nicht morden lassen!«

Ich gehe hinaus, um den Diener in seiner Loge am Ende des Korridors zu sehen, aber ach, er ist nicht da. Man hat ihn also entfernt, beiseite gebracht, er ist stillschweigender Komplize, und ich bin verraten!

Ich steige die Treppe hinab und durcheile die Korridore, um den Vorstand der Pension zu wecken. Mit einer Geistesgegenwart, deren ich mich nicht für fähig gehalten, erzähle ich ihm von einem plötzlichen Unwohlsein, das von den Ausdünstungen meiner Chemikalien herrühre, und verlange für die Nacht ein anderes Zimmer.

Das einzige freie Zimmer liegt dank der zornigen Vorsehung gerade unter dem meines Feindes.

Ich öffne das Fenster und atme in vollen Zügen die frische Luft einer Sternennacht ein. Über den Dächern der Rue d'Assas und der Rue de Madame sind der Große Bär und der Polarstern sichtbar.

Nach Norden also! Omen accipio!

Als ich die Vorhänge meines Alkoven zuziehe, höre ich über meinem Kopfe den Feind, der aus dem Bett steigt und einen schweren Gegenstand in einen Koffer wirft, dessen Deckel er mit einem Schlüssel verschließt.

Er versteckt also etwas; vielleicht die Elektrisiermaschine!

 

Am andern Morgen, einem Sonntag, schnüre ich mein Bündel und gebe vor, ich wolle einen Ausflug ans Meer machen.

Dem Kutscher rufe ich Bahnhof Saint Lazare zu, aber vor dem Odeon ändere ich die Route und lasse ihn nach der Rue de la Clef in der Nähe des Jardin des Plantes fahren, woselbst ich inkognito bleiben will, um noch vor meiner Abreise nach Schweden meine Studien zu vollenden.


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