August Strindberg<
Inferno
August Strindberg<

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VII

Die Hölle

Endlich tritt eine Pause in meinen Strafen ein. Stundenlang sitze ich in meinem Sessel auf dem Vorplatz des Gartenhauses, betrachte die Blumen im Garten, und überdenke die letzte Vergangenheit. Die Ruhe, die mich nach meiner Flucht überkommt, überzeugt mich, daß mich nicht irgendeine Krankheit ergriffen hat, sondern daß wirkliche Feinde mich verfolgt haben. Den Tag über arbeite ich und schlafe ruhig zur Nacht. Von den Unsauberkeiten meines vorigen Aufenthalts endlich befreit, fühle ich mich unter den Stockrosen dieses Gartens, den Lieblingsblumen meiner Jugend, wie verjüngt.

Der Jardin des Plantes, dieses den Parisern selber unbekannte Wunder von Paris, ist mein Park geworden. Die gesamte Schöpfung in einem Gürtel, diese Arche Noahs, dieses wiedergewonnene Eden, in dem ich ohne Gefahr inmitten wilder Tiere wandle; es ist zuviel Glück! Von den Steinen gehe ich zum Pflanzen- und Tierreich über, bis ich zum Menschen komme, und hinter dem Menschen finde ich den Schöpfer. Diesen großen Künstler, der sich schaffend entwickelt, Entwürfe macht, die er wieder verwirft, gescheiterte Pläne wieder aufnimmt und die primitiven Formen ohne Ende vervollkommnet und vervielfältigt. Alles ist von seiner Hand erschaffen. Oft macht er in der Erfindung der Arten ungeheure Sprünge, und dann kommt die Wissenschaft und stellt die Lücken und die fehlenden Glieder fest, und bildet sich ein, daß die Zwischenarten verschwunden seien.

 

Da ich mich nun vor meinen Verfolgern sicher wähne, sende ich meine Adresse nach der Pension Orfila, um durch Wiederaufnahme meiner Korrespondenz mit der Außenwelt wieder in Verbindung zu treten.

Aber kaum habe ich mein Inkognito gelüftet, ist der Friede gebrochen. Es beunruhigt mich wieder allerlei, und das frühere Unbehagen kehrt zurück.

Zunächst werden in dem Zimmer, das neben dem meinen im Erdgeschoß liegt, und in dem bisher keine Möbel waren, Sachen aufgestapelt, deren Gebrauch mir unerklärlich ist.

Ein alter Herr mit grauen, boshaften Bärenaugen trägt leere Warenschachteln, Blechstreifen und andere unbestimmbare Gegenstände hinein.

Gleichzeitig beginnt die Rue de la Grande Chaumière über meinem Kopfe wieder zu lärmen. Man feilt und hämmert, als wollte man eine nihilistische Höllenmaschine aufstellen.

Zugleich ändert auch die Vorsteherin, die zuerst über meinen Aufenthalt erfreut war, ihr Benehmen; sucht mich auszukundschaften und ärgert mich durch die Art, mit der sie mich grüßt.

Ferner wechselt der erste Stock über mir die Mieter. Ein stiller alter Herr, dessen schwerfällige Schritte mir bekannt waren, ist nicht mehr da.

Es ist ein zurückgezogen lebender Rentier, der schon seit Jahren das Haus bewohnt. Er ist nicht ausgezogen, er hat nur das Zimmer gewechselt. Warum? Das Dienstmädchen, das mein Zimmer besorgt und mir die Mahlzeiten bringt, ist ernst geworden und wirft mir mitleidige Seitenblicke zu.

Jetzt fängt mit einem Male ein Rad an, sich über mir zu drehen, den ganzen Tag über zu drehen. Ich bin zum Tode verurteilt! Das ist meine feste Überzeugung. Von wem? Von den Russen, den Muckern, Katholiken, Jesuiten, Theosophen? Als was? Als Zauberer oder Schwarzkünstler?

Oder von der Polizei? Als Anarchist? Es ist das ja ein sehr guter Vorwand, persönliche Feinde zu beseitigen. In diesem Augenblick, da ich dies schreibe, weiß ich nicht mehr, was sich in dieser Julinacht, als der Tod sich auf mich stürzte, ereignete, aber ich werde mein Leben lang jene Lektion nicht vergessen.

Sollten Eingeweihte glauben, daß ich damals der Wirkung einer von Menschenhand gesponnenen Intrige erlegen sei, so mögen sie erfahren, daß ich niemandem zürne, denn, was ich heute weiß, ist, daß eine andere, stärkere Hand jene Hände, ihnen unbewußt, ja gegen ihren Willen geführt hat.

 

War es andrerseits keine Intrige, so muß ich annehmen, daß mir meine Einbildungskraft selbst diese korrigierenden Geister zur eignen Strafe geschaffen hat.

Wir werden in der Folge sehen, inwieweit diese Annahme wahrscheinlich ist.

Am Morgen des letzten Tages stehe ich mit einer Resignation auf, die ich religiös nennen möchte; nichts bindet mich mehr ans Leben: Ich habe meine Papiere geordnet, die notwendigen Briefe geschrieben und verbrannt, was verbrannt werden mußte.

Dann gehe ich, um der Schöpfung Lebewohl zu sagen, in den Jardin des Plantes.

Die schwedischen Magneteisenblöcke vor dem Mineralogischen Museum grüßen mich von meinem Vaterlande. Die Robinie, die Zeder des Libanon und die Denkmäler großer Epochen der noch lebenden Wissenschaft, ich grüße sie alle.

Ich kaufe Brot und Kirschen für meine alten Freunde. Der alte Martin, der Bär, kennt mich genau, denn ich bin der einzige, der ihm abends und morgens Kirschen anbietet. Das Brot bringe ich dem jungen Elefanten, der mir ins Gesicht spuckt, nachdem er alles gefressen hat, der junge, treulose Undank.

Lebt wohl, ihr Geier, die ihr den Himmel mit einem schmutzigen Käfig vertauschen mußtet, lebe wohl, Bison und du, Flußpferd, du angeketteter Dämon; lebt wohl, Otarias, liebendes Pärchen, das die eheliche Liebe über den Verlust des Ozeans und der weiten Horizonte tröstet; lebt wohl, Steine, Pflanzen, Blumen, Bäume, Schmetterlinge, Vögel, Schlangen, ihr alle eines guten Gottes Geschöpfe! Und ihr großen Männer, Bernardin de Saint-Pierre, Linné, Geoffrey Saint-Hilaire, Hauy, deren Namen golden auf der Front des Tempels prangen, – lebt wohl! nein, auf Wiedersehn! So scheide ich denn von diesem irdischen Paradies, und Seraphitas erhabene Worte fallen mir ein: »Lebe wohl, arme Erde, lebe wohl!«

Als ich den Hotelgarten wieder betrete, wittere ich die Gegenwart eines Menschen, der während meiner Abwesenheit gekommen sein muß. Ich sehe ihn nicht, aber ich fühle ihn.

Was meine Verwirrung noch erhöht, ist die sichtbare Veränderung, die sich mit dem anstoßenden Zimmer zugetragen hat. Eine über einen Strick gehängte Decke soll offenbar etwas verbergen. Auf dem Kaminsims sind Stöße von durch Hölzer isolierten Metallplatten aufgestapelt, auf jedem Stoß liegt ein Photographiealbum oder irgendein anderes Buch, augenscheinlich, um diesen Höllenmaschinen, die ich für Akkumulatoren halten möchte, ein unschuldiges Äußere zu geben. Zum Überfluß sehe ich auf einem Dach der Rue Censier und gerade meinem Gartenhause gegenüber zwei Arbeiter. Was sie da oben machen, kann ich nicht erkennen, aber sie scheinen es auf meine Glastür abgesehen zu haben und hantieren mit Gegenständen, die ich nicht unterscheiden kann.

Warum fliehe ich nicht? Weil ich zu stolz bin, weil das Unvermeidliche ertragen werden muß.

Ich bereite mich also auf die Nacht vor. Ich nehme ein Bad und wasche besonders sorgfältig meine Füße, denn meine Mutter hat mich schon als Kind gelehrt, daß schmutzige Füße etwas Schimpfliches seien.

Ich rasiere und parfümiere mich und lege die Wäsche an, die ich mir vor drei Jahren in Wien zu meiner Hochzeit gekauft habe... die Toilette eines zum Tode Verurteilten.

In der Bibel lese ich die Psalmen, in denen David die Rache des Ewigen auf seine Feinde herabruft.

Die Bußpsalmen? Nein. Zu bereuen habe ich kein Recht, denn nicht ich habe meine Geschicke geleitet. Ich habe niemals Böses mit Bösem vergolten, außer wenn es meine Verteidigung galt. Bereuen heißt, die Vorsehung kritisieren, die uns unsere Sünde als ein Leiden auferlegt und um uns durch den Ekel, den jede schlechte Tat uns einflößt, zu läutern.

Der Abschluß meiner Lebensrechnung ist für mich, daß die Posten sich aufheben. Habe ich gesündigt, nun, auf mein Ehrenwort! ich habe genug Strafe dafür erlitten! Das steht fest! Die Hölle fürchten? Ich habe hier tausend Höllen, ohne zu zucken, durchwandert, genug, um den brennenden Wunsch zu empfinden, von den Eitelkeiten und falschen Freuden dieser Welt, die ich immer verachtet, zu scheiden. Mit Heimweh nach dem Himmel geboren, weinte ich als Kind über die Schmutzigkeit des Daseins und fühlte mich fremd und heimatlos unter Eltern und Freunden. Von Kindheit auf habe ich meinen Gott gesucht und habe den Teufel gefunden. Ich habe das Kreuz Jesu Christi in meiner Jugend getragen und habe einen Gott geleugnet, der sich über Sklaven zu herrschen begnügt, über Sklaven, die ihre Peiniger lieben!

Als ich die Vorhänge meiner Glastüre niederlasse, sehe ich im Privatsalon eine Gesellschaft von Herren und Damen beim Champagner sitzen. Augenscheinlich sind es diesen Abend angekommene Fremde. Aber es ist keine lustige Gesellschaft; die Gesichter sind alle ernst, man debattiert, scheint Pläne zu schmieden und macht sich leise Mitteilungen, als handele es sich um eine Verschwörung. Meine Qual auf die Spitze zu treiben, drehen sie sich auf ihren Stühlen um, und zeigen mit den Fingern nach der Richtung meines Zimmers.

Um zehn Uhr lösche ich meine Lampe aus und schlafe ruhig, resigniert wie ein Sterbender ein.

 

Ich wache auf; eine Uhr schlägt zwei, eine Tür wird zugemacht und ... ich bin außerhalb des Bettes, als hätte man mir eine Luftpumpe ans Herz gesetzt und mich so herausgezogen. Zugleich trifft ein elektrischer Strom meinen Nacken und drückt mich zu Boden. Ich richte mich wieder auf, ergreife meine Kleider und stürze, eine Beute des fürchterlichsten Herzklopfens, in den Garten hinab.

Als ich mich angekleidet, ist mein erster klarer Gedanke, zur Polizei zu gehen und eine Haussuchung zu veranlassen.

Doch die Haustür ist verschlossen, ebenso die Portierloge. Ich taste mich vorwärts, öffne zur Rechten eine Tür und trete in die Küche, in der eine Nachtlampe brennt. Ich stoße sie um und stehe in tiefster Finsternis.

Die Furcht gibt mir meine Besinnung wieder, und ich kehre mit dem Gedanken auf mein Zimmer zurück: Wenn ich mich täusche, so bin ich verloren. Bin ich krank? Unmöglich, denn bis zur Lüftung meines Inkognitos ging es mir vortrefflich. Bin ich das Opfer eines Attentats? Ja, denn man traf vor meinen Augen die Vorbereitungen dazu. Übrigens fühle ich mich hier im Garten, außerhalb der Gewalt meiner Feinde, wieder wohl und mein Herz schlägt vollkommen regelmäßig. Während dieser Gedanken höre ich jemanden in dem an meines anstoßenden Zimmer husten. Sogleich antwortet ein leises Husten im darüberliegenden Zimmer. Ohne Zweifel sind das Zeichen, und zwar gerade dieselben, die ich in der letzten Nacht in der Pension Orfila gehört habe. Ich will die Glastür des Parterrezimmers aufbrechen, aber das Schloß widersteht.

Vom unnützen Kampf gegen die Unsichtbaren ermüdet, sinke ich auf einen Gartenstuhl. Und der Schlaf erbarmt sich meiner, so daß ich unter den Sternen einer schönen Sommernacht zwischen den im lauen Juliwind flüsternden Stockrosen entschlummere.

 

Die Sonne weckt mich, und ich danke der Vorsehung, die mich vom Tode errettet hat. Ich packe meine Sachen. Ich will nach Dieppe, um dort bei Freunden ein Unterkommen zu finden, die ich zwar wie alle andern vernachlässigt habe, die aber nachsichtig und edelmütig gegen Entgleiste und Schiffbrüchige sind.

Als ich die Vorsteherin des Hauses sprechen will, ist sie nicht sichtbar und läßt mir sagen, sie sei unwohl. Ich mußte es eigentlich von ihr so erwarten, da sie gewiß an dem Komplott gegen mich beteiligt gewesen war. Ich verlasse mit einem Fluche auf das Haupt meiner bübischen Feinde das Haus und rufe den Himmel an, sein Feuer auf diese Räuberherberge fallen zu lassen; ob mit Recht oder Unrecht, wer weiß es?

 

Meine Diepper Freunde erschraken, als sie mich mit meinem von Manuskripten schweren Mantelsack den Hügel ihrer Orchideenstadt heraufsteigen sahen.

»Woher kommen Sie, Ärmster?«

»Ich komme vom Tode.«

»Ich bezweifle es, denn Sie sind noch nicht wieder ausgegraben!«

Die liebe, gute Frau des Hauses nimmt mich bei der Hand und führt mich vor einen Spiegel, damit ich mich selbst sehen könne. Ich sah zum Erbarmen aus: das Gesicht vom Rauch der Lokomotive geschwärzt, die Backen eingefallen, die Haare voll Schweiß und grau geworden, die Augen scheu und die Wäsche voll Schmutz.

Als ich aber in der Toilette von der liebenswürdigen Dame, die mich wie ein krankes, verlassenes Kind behandelte, allein gelassen war, prüfte ich mein Gesicht näher. Es war da ein Ausdruck in meinen Zügen, der mir Entsetzen einflößte. Das war weder der Tod noch das Laster, das war noch etwas anderes; und hätte ich damals Swedenborg gekannt, so würde mich der durch den bösen Geist zurückgelassene Eindruck über meinen Seelenzustand und die Begebenheiten der letzten Wochen aufgeklärt haben.

Jetzt schämte und entsetzte ich mich vor mir selber, und mein Gewissen peinigte mich wegen meiner Undankbarkeit gegen diese Familie, die mir einst, wie so vielen anderen Gescheiterten, ein rettender Hafen gewesen war.

Zur Buße werde ich auch von hier durch die Furien verjagt werden. Ein schönes Künstlerheim, ein geordneter Haushalt, eheliches Glück, reizende Kinder, Sauberkeit und Luxus, Gastfreundschaft ohne Grenzen, Großherzigkeit im Urteil, eine Atmosphäre von Schönheit und Güte, die mich blendet, ein Paradies und in ihm ich, – ein Verdammter.

Vor meinen Augen breitet sich aus, was alles das Leben an Glück bieten könnte, und was ich verloren habe.

 

Ich beziehe eine Dachstube mit der Aussicht auf einen Hügel, wo ein Hospiz für alte Leute liegt. Am Abend beobachte ich zwei Männer, wie sie über die Mauer der Anstalt nach unserer Villa herüberspähen und auf mein Fenster deuten. Die Idee, elektrisch verfolgt zu werden, nimmt mich aufs neue in Besitz.

Die Nacht vom 25. zum 26. Juli 96 bricht an. Meine Freunde haben zu meiner Beruhigung ihr möglichstes getan; wir haben alle Mansardenzimmer neben dem meinigen, ja selbst den Bodenraum, gemeinschaftlich durchsucht, damit ich sicher sein könne, daß sich da niemand in schlechter Absicht versteckt halte. Nur in einer Rumpelkammer macht ein an und für sich gleichgültiger Gegenstand einen entmutigenden Eindruck auf mich. Es ist nur das als Teppich dienende Fell eines Eisbären; aber der gähnende Rachen, die drohenden Eckzähne, die funkelnden Augen irritieren mich. Warum mußte dieses Tier gerade da liegen und das gerade jetzt.

Unausgekleidet lege ich mich aufs Bett, entschlossen, die verhängnisvolle zweite Stunde abzuwarten.

Indes ich lese, kommt Mitternacht heran. Es schlägt ein Uhr, und das ganze Haus schläft ruhig. Endlich schlägt es zwei Uhr! Nichts geschieht! Da, in einem Anfall von Anmaßung und um die Unsichtbaren herauszufordern, vielleicht auch nur in der Absicht, ein physikalisches Experiment auszuführen, erhebe ich mich, öffne die beiden Fenster und zünde zwei Kerzen an. Dann setze ich mich an den Tisch hinter die Leuchter, biete mich mit entblößter Brust als Zielscheibe dar und fordere die Unbekannten heraus:

»Heran, wenn ihr euch getraut!«

Da fühle ich, zuerst nur schwach, etwas wie ein elektrisches Fluidum. Ich sehe auf meinen Kompaß, aber er zeigt keine Spur einer Abweichung. Also keine Elektrizität.

Aber die Spannung wächst, das Herz schlägt energisch; ich leiste Widerstand, aber wie von einem Blitzschlag ist mein Körper mit einem Fluidum überladen, das mich erstickt und mir das Blut aussaugt ...

Ich stürze die Treppe hinunter, nach dem Salon im Erdgeschoß, wo man mir ein provisorisches Bett für den Fall der Not aufgeschlagen hat. Da liege ich fünf Minuten und denke nach. Ist es ausstrahlende Elektrizität? Nein, denn der Kompaß hat nichts angezeigt. Ein krankhafter Zustand, den die Furcht vor der zweiten Stunde heraufbeschwört? Nein, denn mir fehlt nicht der Mut, den Angriffen zu trotzen. Warum mußte ich aber die Kerzen anzünden, um das unbekannte Fluidum anzuziehen?

In einem Labyrinth von Fragen weiß ich nur keine Antwort und suche endlich einzuschlafen, aber wie ein Zyklon trifft mich eine neue Entladung, reißt mich vom Bett, und die Jagd beginnt aufs neue. Ich verstecke mich hinter die Mauern, stelle mich unter die Türen, vor die Kamine. Überall, überall finden mich die Furien.

Von Seelenangst überwältigt, flüchte ich in panischem Schrecken vor allem und nichts von Zimmer zu Zimmer und ende damit, mich auf dem Balkon zusammenzukauern.

Graugelb bricht der Morgen an, die sepiafarbenen Wolken zeigen bizarre, ungeheuerliche Formen, welche meine Zerknirschung vermehren. Ich suche das Atelier meines Freundes auf, lege mich auf den Teppich und schließe die Augen. Kaum daß es fünf Minuten ruhig, weckt mich ein störendes Geräusch. Eine Maus lugt mich an und scheint noch näher kommen zu wollen. Ich jage sie fort; sie kommt mit einer zweiten zurück. Mein Gott, habe ich den Säuferwahnsinn? Und habe doch die letzten drei Jahre mäßig gelebt! (Tags darauf überzeugte ich mich von dem Dasein von Mäusen im Atelier. Es war also ein Zufall, aber wer hat ihn herbeigeführt und was bezweckt es?)

Ich wechsele den Platz und lege mich auf den Teppich des Vorraums. Barmherziger Schlaf senkt sich auf meinen gemarterten Geist, und auf etwa eine halbe Stunde verliere ich das Bewußtsein meiner Schmerzen.

Ein klar artikulierter Schrei »Alp!« läßt mich plötzlich auffahren.

Alp! so nennt der Deutsche einen quälenden, drückenden Traum. Alp! Das ist das Wort, das der Gewitterregen damals im Hotel Orfila auf mein Papier gemalt hat.

Wer hat es gerufen? Niemand, denn das ganze Haus liegt im Schlaf. Teufelsspuk! Poetisches Wort, das vielleicht die ganze Wahrheit enthält!

Ich steige die Treppe nach meiner Mansarde hinauf. Die Kerzen sind heruntergebrannt, tiefes Schweigen herrscht ...

Das Angelus wird geläutet! Es ist der Tag des Herrn.

Ich schlage mein römisches Gebetbuch auf und lese: De profundis clamavi ad Te, Domine! Das tröstet mich, und ich sinke aufs Bett wie ein Toter.

 

Sonntag, den 26. Juli 1896. Ein Zyklon verwüstet den Jardin des Plantes. Die Zeitungen bringen die Einzelheiten, die mich sonderbar interessieren. Heute soll der Ballon Andrées zu seiner Nordpolfahrt aufsteigen; aber die Vorzeichen sind schlecht. Der Zyklon hat verschiedene Ballons, die an verschiedenen Punkten aufgestiegen sind, herabgeschleudert und mehrere Luftschiffer getötet.

Elisée Reclus hat das Bein gebrochen. Zu gleicher Zeit hat sich in Berlin ein gewisser Pieska auf merkwürdige Weise das Leben genommen; er schlitzte sich nach japanischer Manier den Bauch auf. Ein blutiger Tag.

Mit einem Segensspruch über das Haus, in dessen wohlberechtigtes Glück meine Traurigkeit ihre Schatten geworfen, scheide ich am andern Morgen von Dieppe.

Da ich noch nicht an das Eingreifen übersinnlicher Mächte glauben will, bilde ich mir ein, von einer nervösen Krankheit ergriffen zu sein. Ich werde also nach Schweden reisen und einen befreundeten Arzt aufsuchen.

Als Andenken an Dieppe nehme ich ein Eisenmineral mit, dessen Form dreiblättrig wie eine Spitzbogenscheibe und mit dem Zeichen des Malteserkreuzes gezeichnet ist. Ein Kind hat es am Strande gefunden und erzählt mir, diese Steine seien vom Himmel gefallen und von den Wogen ans Land geworfen worden.

Ich glaube ihm gern und behalte das Geschenk als einen Talisman, dessen Bedeutung mir noch verborgen bleibt.

(An der Küste der Bretagne pflegen die Strandbewohner nach dem Sturm Steine von kreuzartiger Form und goldähnlichem Schimmer aufzusammeln. Man nennt diese Steine Staurolithen.)

 

Das Städtchen, nach dem ich mich nun begab, liegt ganz im Süden Schwedens am Meere; es ist ein altes Piraten- und Schmugglernest, das von manchem Weltumsegeler her die exotischen Spuren aller Weltteile trägt. So macht die Wohnung meines Arztes den Eindruck eines buddhistischen Klosters. Die vier Flügel des einstöckigen Gebäudes bilden einen viereckigen Hof, in dessen Mitte der kuppelförmig gebaute Holzschuppen das Grabmal Tamerlans zu Samarkand nachahmt. Die Bauart und die Bekleidung des Dachstuhls mit chinesischen Ziegeln erinnern an den äußersten Orient. Eine apathische Schildkröte kriecht über das Pflaster und verschwindet in dem Nirwana unendlich sich hinziehenden Unkrauts.

Ein dickes Gesträuch von bengalischen Rosen schmückt die äußere Mauer des westlichen Flügels, den ich allein bewohne. Zwischen diesem Hof und den beiden Gärten liegt dunkel und feucht ein Hühnerhof mit einer Kastanie und ewig zankenden schwarzen Hühnern.

Im Blumengarten steht ein im Pagodenstil gehaltenes Sommerhaus, ganz von Aristolochien überwuchert.

In diesem ganzen Kloster mit seinen unzähligen Zimmern wohnt nur eine einzige Person, der Direktor des Kreiskrankenhauses. Er ist Witwer, allein und unabhängig und hat aus der harten Schule des Lebens jene starke und edle Menschenverachtung davongetragen, welche zu einer tiefen Erkenntnis der Eitelkeit aller Dinge, das eigene Ich inbegriffen, führt.

Der Eintritt dieses Mannes in mein Leben war so unerwarteter Art, daß ich ihn zu den Theatercoups ex machina rechnen möchte.

Bei unserm ersten Wiedersehen nach meinem Diepper Aufenthalt sieht er mich forschenden Blickes an und fragt plötzlich: »Du bist nervenkrank! gut! aber das ist's nicht allein. Du blickst so seltsam, daß ich dich nicht wiedererkenne. Was hast du gemacht? Ausschweifungen, Laster, verlorene Illusionen, Religion? Erzähle mir, Alter!«

Aber ich erzähle nichts, denn mein erster Gedanke ist der Argwohn: er ist gegen mich eingenommen, hat Näheres über mich erfahren und will mich einsperren lassen.

Ich erzähle von Schlaflosigkeit, Nervosität, bösen Träumen, und dann sprechen wir von anderen Dingen.

In meinem Stübchen fällt mir sogleich das amerikanische Bett auf seinen vier von Messingkugeln gekrönten Pfeilern auf, die wie die Leiter einer Elektrisiermaschine aussehen. Nimmt man noch die elastische Matratze mit kupfernen und gleich Rhumkorffschen Spiralen gewundenen Sprungfedern, so kann man sich meine Wut diesem teuflischen Zufall gegenüber vorstellen. Dabei ist es unmöglich, ein anderes Bett zu fordern, weil ich sonst als wahnsinnig beargwöhnt werden könnte. Um mich dessen zu versichern, daß über mir nichts versteckt sei, steige ich in den Bodenraum hinauf. Oben ist nur ein einziger Gegenstand, aber er steigert meine Verzweiflung aufs höchste. Ein ungeheures, zusammengerolltes Drahtnetz steht gerade über meinem Bett. Man könnte sich keinen besseren Akkumulator wünschen. Im Falle eines Gewitters, der hier sehr häufig eintritt, wird das Drahtgeflecht den Blitz anziehen, und ich werde auf dem Konduktor liegen ... Aber ich wage kein Wort zu sagen. Zugleich beunruhigt mich das Getöse einer Maschine. Seit ich das Hotel Orfila verlassen, verfolgt mich ein Ohrenbrausen wie das Stampfen eines Wasserrades. Im Zweifel über das eigentliche Wesen jenes Lärms frage ich nach seiner Ursache.

Es ist die Presse der Druckerei nebenan.

Alles erklärt sich so geläufig, und ich erschrecke, wie wenig genügt, meinen Geist zu verwirren.

Die gefürchtete Nacht kommt. Der Himmel ist bedeckt, die Luft schwül; man erwartet ein Gewitter. Ich wage nicht, mich schlafen zu legen und schreibe zwei Stunden lang Briefe. Wie zerschlagen vor Mattigkeit kleide ich mich endlich aus und schleiche mich ins Bett. Die Lampe ist erloschen, eine entsetzliche Stille herrscht im Hause. Ich fühle, wie jemand im Dunkeln auf mich lauert, mich berührt, mein Blut zu saugen, nach meinem Herzen tastet.

Ohne es abzuwarten, springe ich aus dem Bett, reiße das Fenster auf und stürze mich in den Hof hinunter – aber ich habe die Rosensträucher vergessen, deren spitzige Dornen mir das Hemd durchstechen. Zerrissen und blutüberströmt taste ich mich über den Hof.

Kieselsteine, Disteln und Brennesseln zerschinden meine nackten Füße, unbekannte Gegenstände bringen mich zum Ausgleiten, endlich gewinne ich die Küche, die an die Wohnräume des Arztes stößt. Ich klopfe. Keine Antwort! – Plötzlich entdecke ich, daß es fortwährend regnet! Oh Elend über Elend! Was habe ich getan, diese Martern zu verdienen? Hier ist die Hölle! Miserere! Miserere!

Ich klopfe wieder, wieder.

Es ist zu sonderbar, daß nie jemand da ist, wenn ich angegriffen werde. Immer diese Abwesenheit! Worauf deutet sie sonst als auf ein Komplott aller gegen mich!

Endlich die Stimme des Arztes:

»Wer da?« –

»Ich bin es, ich bin krank! Öffne, oder ich sterbe!«

Er öffnet.

»Was fehlt dir?«

Ich beginne meinen Bericht mit dem Attentat in der Rue de la Clef, das ich Feinden zuschreibe, die mir auf elektrischem Wege nachstellen.

»Schweig, Unglücklicher! Du bist geisteskrank!«

»Zum Teufel! Prüfe doch meinen Verstand; lies, was ich Tag für Tag schreibe, und was man druckt ...«

»Still! Kein Wort zu irgendwem! Die Bücher der Irrenhäuser kennen diese elektrischen Geschichten gründlich!«

»Das wäre ja noch besser! Ich kümmere mich so wenig um eure Irrenhaus-Bücher, daß ich mich, um hierin Klarheit zu schaffen, morgen im Lunder Irrenhaus werde untersuchen lassen!«

»Dann bist du verloren! Jetzt kein Wort mehr, leg dich hier nebenan schlafen!«

Ich weigere mich und bestehe darauf, daß er mich anhört; er schlägt es mir ab und will nichts hören.

Als ich allein bin, frage ich mich: Ist es möglich, daß ein Freund, ein ehrenhafter Mann, der sich immer von schmutzigen Händeln frei erhalten, am Ende seiner tadellosen Laufbahn der Versuchung erliegt? Aber wer hat ihn versucht? Ich habe keine Antwort, aber um so mehr Vermutungen. Every man his price, jeder hat seinen Preis! Nun, bei diesem wackeren Manne war gewiß eine große Summe nötig gewesen. Aber eine gewöhnliche Rache zahlt man nicht übermäßig. So muß er selbst ein starkes Interesse daran haben! Halt! Da liegt's! – Ich habe Gold gemacht; der Doktor hat es halb und halb zuwege gebracht, obwohl er leugnet, meine ihm damals brieflich mitgeteilten Versuche wiederholt zu haben.

Er leugnet, und dabei habe ich heute abend, als ich mich über das Hofpflaster schleppte, Proben von seiner eigenen Hand gefunden. Also lügt er.

Übrigens hat er sich an demselben Abend darüber verbreitet, welch traurige Folgen die jedem mögliche Herstellung von Gold für die Menschheit nach sich ziehen würde. Allgemeinen Bankrott, allgemeine Verwirrung, Anarchie, Weltuntergang.

»Man müßte den Mann totschlagen!« schloß er.

Ferner kenne ich die ziemlich bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnisse meines Freundes. Nie erstaune ich, ihn von einem bevorstehenden Ankauf des Grundstücks, auf dem er wohnt, sprechen zu hören. Er hat Schulden, muß sich sogar einschränken und will Grundbesitzer werden!

Alles vereinigt sich, mir meinen guten Freund verdächtig zu machen.

Verfolgungswahnsinn! Zugegeben, aber welcher Schmied schmiedet die Glieder dieser höllischen Syllogismen?

»Man müßte den Mann totschlagen!« – Mit diesem Gedanken schläft mein gequälter Geist gegen Sonnenaufgang ein.

 

Wir haben eine Kaltwasserkur angefangen. Ich habe das Zimmer gewechselt und verbringe die Nacht jetzt ziemlich ruhig, wenn auch nicht ohne Rückfälle.

Eines Abends sieht der Doktor das Gebetbuch auf meinem Nachttisch und gebärdet sich wie ein Rasender:

»Immer noch diese Religion! Das ist wieder ein Symptom, weißt du das?«

»Oder ein Bedürfnis wie andere!« –

»Genug! Ich bin kein Atheist, aber ich denke, daß der Allmächtige diese Vertraulichkeit von einst nicht mehr will. Diese Courmachereien gehören der Vergangenheit an, und ich für meine Person halte es mit dem Mohammedaner, der um nichts als um Gelassenheit bittet, die Last seines Schicksals würdig tragen zu können.« Bedeutende Worte, aus denen ich mir einige Goldkörner auswasche.

Er nimmt mir Gebetbuch und Bibel fort.

»Lies gleichgültige Sachen von sekundärem Interesse, Weltgeschichte, Mythologie, und laß das eitle Träumen. Vor allem hüte dich vor dem Okkultismus, dieser mißbräuchlichen Wissenschaft. Es ist uns verboten, dem Schöpfer in seine Geheimnisse zu spähen, und wehe denen, welche sie erschleichen.«

Auf meine Einwürfe, daß die Okkultisten in Paris eine ganze Schule seien, wiederholt er nur sein »Wehe ihnen!«

Am Abend bringt er mir, und ich schwöre darauf, ohne Hintergedanken, die germanische Mythologie von Viktor Rydberg.

»Hier ist etwas, um im Stehen einzuschlafen. Das ist besser als Sulfonal.«

Wenn mein guter Freund gewußt hätte, welchen Funken er da in ein Pulverfaß warf, er würde lieber ...

Die Mythologie, die er in meinen Händen gelassen, ist zweibändig, hat im ganzen tausend Seiten und öffnet sich sozusagen von selbst. Meine Blicke haften gebannt auf folgenden Zeilen, die sich mit Flammenschrift in mein Gedächtnis eingeschrieben: »Wie die Sage erzählt, verfiel Bhrigu, den Lehren seines Vaters entwachsen, in einen solchen Hochmut, daß er seinen Meister übertreffen zu können glaubte. Dieser schickte ihn in die Unterwelt, wo er zu seiner Demütigung Zeuge unendlicher Schrecken ward, von denen er nie eine Ahnung gehabt hatte.«

Das hieß also: Mein Hochmut, mein Eigendünkel, meine Hybris (υβρισ) wurde von meinem Vater und Meister bestraft. Und ich befand mich in der Hölle! von den Mächten dahingejagt! Wer mag mein Meister sein? Swedenborg?

Ich blättere in diesem wunderbaren Buche weiter:

»Man vergleiche hiermit die germanische Mythe von den Dornenfeldern, welche die Füße der Ungerechten zerreißen ...«

Genug! genug! Auch noch die Dornen! Das ist zuviel!

Kein Zweifel, ich bin in der Hölle! Und in der Tat bestätigt die Wirklichkeit diese Phantasie in einer so einleuchtenden Weise, daß ich ihr schließlich Glauben beimessen muß.

Der Doktor scheint mir mit den verschiedensten Gefühlen zu kämpfen. Bald ist er gegen mich eingenommen, sieht mich verächtlich an und behandelt mich mit einer erniedrigenden Brutalität; bald ist er selbst unglücklich, und pflegt und tröstet mich wie ein krankes Kind. Ein anderes Mal wieder macht es ihm Freude, einen Mann von Verdienst, den er früher hochgeschätzt, mit Füßen treten zu können. Dann predigt er mir wie ein unerbittlicher Peiniger.

Ich soll arbeiten, aber nicht in übertriebenen Ehrgeiz verfallen, soll meine Pflichten gegen Vaterland und Familie erfüllen. »Laß die Chemie, sie ist eine Schimäre, es gibt so viele Spezialisten, Autoritäten, Gelehrte von Beruf, die ihre Sache verstehen ...«

Eines Tages macht er mir den Vorschlag, für das letzte Stockholmer Käseblatt zu schreiben.

Ausgezeichnet!

Ich entgegne ihm, daß ich nicht nötig hätte, für die letzte Stockholmer Zeitung zu schreiben, da die erste Zeitung von Paris und der ganzen Welt meine Manuskripte angenommen hat. Da spielt er den Ungläubigen und behandelt mich als einen Aufschneider, trotzdem er doch meine Artikel im Figaro gelesen, und mein erstes Debüt im Gil Blas persönlich übersetzt hat.

Ich zürne ihm nicht; er spielt ja nur seine ihm von der Vorsehung bestimmte Rolle.

Gewaltsam unterdrücke ich einen wachsenden Haß gegen diesen improvisierten Dämon und verfluche das Schicksal, das meine Dankbarkeit gegen einen großherzigen Freund in widernatürliche Undankbarkeit verkehrt.

 

Kleinigkeiten halten ohne Unterlaß meinen Argwohn auf die böswilligen Absichten des Doktors wach.

Heute hat er ganz neue Äxte, Sägen und Hämmer in die Gartenveranda gelegt. Was will er damit? In seinem Schlafzimmer sind zwei Gewehre und ein Revolver, und in einem Korridor eine Sammlung von Äxten, die jedoch viel zu schwer sind, um zur Hausarbeit verwendet werden zu können. Welch satanischer Zufall, dieser Henker- und Folterapparat hier vor meinen Augen! Denn ich kann mir nicht erklären, was er soll, und weshalb er da ist.

Die Nächte verlaufen für mich ziemlich ruhig, während der Doktor auf nächtliche Wanderungen verfällt. So erschreckt mich einmal mitten in einer finsteren Nacht ein plötzlicher Gewehrschuß. Aus Höflichkeit tue ich, als ob ich nichts hörte. Am anderen Morgen erklärt er mir die Sache; es sei ein Trupp Spechte in den Garten gekommen und habe seinen Schlaf gestört.

Ein anderes Mal höre ich zwei Uhr nachts die heisere Stimme der Wirtschafterin. Wieder ein anderes Mal höre ich den Doktor seufzen und stöhnen und den »Herrn Zebaoth« anrufen.

Spukt es in diesem Hause, und wer hat es mich aufsuchen heißen?

Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken, wenn ich sehe, wie der Alp, von dem ich besessen gewesen, nun von meinen Kerkermeistern Besitz ergreift. Aber meine ruchlose Freude sollte sofort bestraft werden. Ein furchtbarer Anfall überwältigt mich; mein Herzschlag stockt, und ich höre zwei Worte, die ich mir in meinem Tagebuch vermerkt habe. Eine unbekannte Stimme ruft: »Drogist Luthardt.«

Drogist! Vergiftet man mich langsam mit Alkaloiden, die wie Hyoszyamin, Haschisch, Digitalin und Stramonin Delirien hervorrufen?

Ich weiß es nicht, aber seitdem verdoppelt sich mein Argwohn. Man wagt mich nicht zu ermorden, aber man sucht mich durch künstliche Mittel wahnsinnig zu machen, um mich dann in einem Irrenhause verschwinden zu lassen. Der Schein spricht stärker und stärker gegen den Doktor. Ich entdecke, daß er hinter meine Goldsynthese gekommen ist, ja diese Synthese vielleicht schon eher gekannt hat als ich. Alles übrige, was er sagt, widerspricht sich im nächsten Augenblick, und einem Lügner gegenüber nimmt meine Phantasie die Stange zwischen die Zähne und jagt bis über die Grenzen aller Vernunft.

Am Morgen des 8. August gehe ich vor der Stadt spazieren. An der Chaussee singt eine Telegraphenstange; ich trete herzu, lege mein Ohr daran und lausche wie bezaubert. Am Fuß der Stange liegt zufällig ein Hufeisen. Ich hebe es als einen Glücksbringer auf und stecke es ein.

10. August. Das Benehmen des Doktors hat mich in den letzten Tagen mehr als je beunruhigt. In seiner geheimnisvollen Miene lese ich, daß er mit sich selbst gerungen hat, sein Gesicht ist bleich, seine Augen sind tot. Den ganzen Tag über singt oder pfeift er; ein Brief, den er empfangen, hat ihn sehr erregt.

Nachmittags kommt er mit blutigen Händen von einer Operation nach Hause und bringt einen zwei Monate alten Fötus mit. Er sieht wie ein Fleischer aus und spricht sich über die befreite Mutter in einer widerlichen Art aus.

»Man töte die Schwachen und beschütze die Starken! Nieder mit dem Mitleid, denn es bringt die Menschheit herunter!«

Ich höre ihn voll Schrecken an und beobachte ihn, nachdem wir uns auf der Schwelle, die unsere Zimmer trennt, gute Nacht gewünscht, heimlich weiter. Zuerst geht er in den Garten, ich kann jedoch nicht hören, was er da tut. Dann tritt er in die an mein Schlafzimmer stoßende Veranda und hält sich dort auf. Er hantiert mit einem ziemlich schweren Gegenstand und zieht ein Uhrwerk auf, das jedoch zu keiner Uhr gehört. Alles geht fast lautlos vor sich, was noch mehr auf zweideutige Heimlichkeiten hinweist.

Halb entkleidet, erwarte ich stehend, unbeweglich, ohne zu atmen das Resultat dieser geheimnisvollen Vorbereitungen.

Da strahlt auch schon wieder das wohlbekannte elektrische Fluidum durch die Wand an meinem Bett, sucht meine Brust und unter dieser mein Herz. Die Spannung wächst ... ich greife nach meinen Kleidern, gleite durchs Fenster und ziehe mich erst außerhalb des Hauses an.

Nieder einmal auf der Straße, auf dem Pflaster, und hinter mir meine letzte Zuflucht, mein einziger Freund. Ziellos irre ich vorwärts; als ich wieder zu mir komme, gehe ich geraden Wegs zum Arzt der Stadt. Ich muß läuten, muß warten und bereite mich vor, was ich sagen werde, ohne daß auf meinen Freund ein schlechtes Licht fällt.

Endlich erscheint der Doktor. Ich entschuldige mich wegen meines nächtlichen Besuches, aber ... Schlaflosigkeit, Herzklopfen bei einem Kranken, der das Vertrauen zu seinem Arzt verloren hat ec. Mein vortrefflicher Freund, dessen Gastfreundschaft ich angenommen hätte, behandele mich als eingebildeten Kranken und wolle mich nicht anhören.

Als habe er auf meinen Besuch gewartet, lädt mich der Arzt ein, Platz zu nehmen und bietet mir eine Zigarre und ein Glas Wein an.

Ich atme auf, mich endlich wieder als anständigen Menschen und nicht mehr als elenden Idioten behandelt zu sehen. Wir verplaudern zwei Stunden, und der Arzt entpuppt sich als Theosoph, dem ich, ohne mich zu kompromittieren, alles mitteilen kann.

Nach Mitternacht endlich erhebe ich mich, um ein Hotel aufzusuchen; der Doktor jedoch rät mir, nach Hause zurückzukehren.

»Niemals, er wäre fähig mich zu ermorden.«

»Wenn ich Sie begleite?«

»Dann wird uns das feindliche Feuer zusammen treffen. Aber er wird mir niemals verzeihen!«

»Trotzdem, wagen wir's!«

Und so gehe ich denn nach Hause zurück. Die Tür ist zu, und ich klopfe.

Als nach einer Minute mein Freund öffnet, da bin ich es, der von Mitleid ergriffen wird. Er, der Chirurg, der mitleidlos leiden zu lassen gewohnt ist, er, der Prophet des vorbedachten Mordes – wie bedauernswert sieht er aus! Er ist leichenblaß, zittert, stammelt und knickt beim Anblick des hinter mir stehenden Arztes in sich zusammen, daß mich ein Schrecken, größer als alle vorhergehenden, ergreift.

Sollte es denkbar sein, daß dieser Manu einen Mord beabsichtigt hätte, und daß er nun Entdeckung fürchtete? Nein, es ist undenkbar, ich verwerfe diesen Gedanken, er ist ruchlos.

Nach unbedeutenden und von meiner Seite geradezu lächerlichen Phrasen trennen wir uns, um schlafen zu gehen.

 

Es gibt im Leben so schreckliche Zwischenfälle, daß sich der Geist im Augenblick sträubt, ihre Spur zu bewahren, aber der Eindruck bleibt und wird mit unwiderstehlicher Gewalt wieder lebendig.

So belebt sich mir wieder eine Szene, die im Salon des Doktors während meines nächtlichen Besuches vorgefallen. Der Doktor geht Wein holen; allein gelassen, betrachte ich einen Schrank mit Füllungen, deren Getäfel in Nußbaum oder Erle (ich weiß es nicht mehr) gearbeitet ist. Wie gewöhnlich bilden die Holzfasern Figuren. Hier zeigt sich mir ein Kopf mit einem Bocksbart in meisterhafter Ausführung. Ich drehe ihm sofort den Rücken zu. Es ist Pan in Person, wie ihn die Alten schildern, und wie er sich später in den Teufel des Mittelalters verwandelt hat.

Ich beschränke mich darauf, die Tatsache zu erzählen; der Eigentümer des Schrankes, der Arzt, dürfte sich um die Geheimwissenschaft sehr verdient machen, wenn er seine Füllung photographieren ließe. Der Doktor Marc Haven hat in der Initiation (November 1896) diese in allen Naturreichen sehr gewöhnlichen Phänomene behandelt, und ich empfehle dem Leser, genau das Gesicht auf dem Rückenschilde der Krabbe zu betrachten.

 

Nach diesem Abenteuer bricht offene Feindseligkeit zwischen meinem Freunde und mir aus. Er gibt mir zu verstehen, daß ich ein Faulenzer und meine Gegenwart überflüssig sei. Darauf lasse ich durchblicken, daß ich noch dringende Briefe abwarten müsse, jedoch jederzeit bereit sei, ins Hotel zu ziehen. Nun spielt er den Beleidigten.

In Wirklichkeit kann ich mich vor Geldmangel nicht von der Stelle rühren. Übrigens ahne ich, daß meinem Schicksal eine Änderung bevorsteht.

Meine Gesundheit ist nun wieder hergestellt; ich schlafe ruhig und arbeite fleißig. Der Zorn der Vorsehung scheint vertagt worden zu sein, denn meine Bemühungen sind in allen Stücken von Erfolg gekrönt. Wenn ich zufällig ein Buch aus der Bibliothek des Doktors nehme, gibt es stets die gewollte Aufklärung. So finde ich in einer alten Chemie das Geheimnis meines Goldverfahrens, so daß ich nun durch metallurgische Berechnungen und Analogien beweisen kann, daß ich Gold gemacht habe, und daß man immer Gold gewonnen hat, wenn man es aus Erzen zu gewinnen geglaubt hat.

Eine Denkschrift über die Materie ist ausgearbeitet und geht an eine französische Revue, die sie sofort druckt. Ich zeige den Artikel dem Doktor, und er grollt mir, da er die Tatsache nicht leugnen kann.

Da sage ich mir: Wie kann der noch mein Freund sein, den meine Erfolge verstimmen?

 

12. August. Ich kaufe beim Buchhändler ein Album. Es ist eine Art Notizbuch in einem vergoldeten Ledereinband. Die Zeichnung zieht meine Aufmerksamkeit auf sich und bildet, so sonderbar es klingt, eine Vorhersagung, deren Auslegung in der Folge gegeben werden wird. Die Komposition stellt folgendes vor: links den zunehmenden Mond im ersten Viertel, umgeben von einem blühenden Zweig; drei Pferdeköpfe (trijugum), vom Monde ausgehend; oben ein Lorbeerzweig; unten drei Säulen (3 mal 3); rechts eine Glocke, aus welcher Blumen herausquellen; ein Rad wie eine Sonne usw. 13. August. Der von der Uhr auf dem Boulevard Saint Michel angekündigte Tag ist da. Ich erwarte irgendeinen Vorfall, aber vergeblich; dessenungeachtet bin ich gewiß, daß irgendwo etwas geschehen ist, dessen Ergebnisse mir in kurzem werden mitgeteilt werden.

14. August. Auf der Straße hebe ich ein Blatt aus einem alten Bureaukalender auf; in fettem Druck steht darauf: 13. August. (Das Datum der Uhr.) Darunter kleiner: »Tue niemals heimlich, was du nicht auch öffentlich tun kannst.«

15. August. Ein Brief von meiner Frau. Sie beweint mein Los; sie liebt mich noch immer und wartet bei unserem Kind einen Umschwung der traurigen Lage ab. Ihre Eltern, die mich früher haßten, sind voll Mitgefühl für meine Leiden, ja noch mehr, man lädt mich ein, mein Töchterchen, diesen Engel, das bei den Großeltern auf dem Lande wohnt, zu besuchen.

Das ruft mich ins Leben zurück! Mein Kind, meine Tochter geht meiner Gattin vor. Das arme, unschuldige Wesen zu umarmen, dem ich Böses zufügen wollte, es um Verzeihung zu bitten, ihm das Leben durch die kleinen Aufmerksamkeiten eines Vaters zu erheitern, der sich seine jahrelang zurückgehaltene Liebe zu verschwenden sehnt! Ich lebe wieder auf, erwache wie aus einem langen, bösen Traum und verehre den strengen Willen des Herrn, dessen harte aber weise Hand mich geschlagen. Jetzt begreife ich die dunklen, erhabenen Worte Hiobs: »Siehe, selig ist, wen Gott straft!«

Selig; denn um die »andern« bekümmerter sich nicht.

Während es noch ungewiß ist, ob ich meine Frau an der Donau unten treffen werde, was mir infolge einer undefinierbaren Verstimmung jedoch fast gleichgültig geworden ist, bereite ich mich zu meiner Pilgerfahrt vor, mir genügend bewußt, daß es eine Büßerfahrt ist, und daß neue Golgathas meiner harren.

 

Nach dreißig martervollen Tagen öffnen sich endlich die Türen meiner Folterkammer. Ich scheide von meinem Freund – meinem Henker – ohne Bitterkeit. Er ist nur die Geißel der Vorsehung gewesen.

Siehe, selig ist, wen Gott straft!


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