August Strindberg<
Inferno
August Strindberg<

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VIII

Beatrice

In Berlin fahre ich vom Stettiner zum Anhalter Bahnhof. Die halbstündige Fahrt wird ein wahrer Dornenweg für mich, so viele Erinnerungen werden qualvoll in mir lebendig. Zuerst geht es durch die Straße, in der mein Freund Popoffsky, als unbekannter oder doch verkannter Mann, seine ersten Kämpfe gegen Elend und Leidenschaft kämpfte. Jetzt ist seine Frau tot, sein Kind tot, in diesem Hause hier links sind sie beide gestorben; und unsere Freundschaft hat sich in wilden Haß verwandelt.

Hier rechts die Künstler- und Schriftstellerkneipe, der Schauplatz so vieler Geistes- und Liebesorgien.

Hier die Cantina Italiana, wo ich mich vor drei Jahren mit meiner Braut zu treffen pflegte und mein erstes italienisches Honorar in Chianti aufging.

Da der Schiffbauerdamm mit seiner Pension Fulda, wo wir als junges Ehepaar wohnten. Hier mein Theater, mein Buchhändler, mein Schneider, mein Apotheker.

Welch unglückseliger Instinkt treibt den Kutscher, mich durch diese via dolorosa voll begrabener Erinnerungen zu fahren, die zu dieser späten Nachtstunde wie Gespenster wieder auferstehen. Warum wählt er gerade diese Gasse, in der unsere Kneipe »Das schwarze Ferkel«, diese als Lieblingsaufenthalt Heines und E. T. A. Hoffmanns berühmt gewordene Weinstube, liegt? Der Wirt steht selbst unter dem als Wahrzeichen aufgehißten Ungetüm auf der Schwelle. Er sieht mich an, ohne mich zu erkennen! Eine Sekunde lang wirft der Kronleuchter drinnen bunte Strahlen durch die hundert Flaschen im Schaufenster und läßt mich ein Jahr meines Lebens, das reichste an Kummer und Freude, Freundschaft und Liebe wieder erleben. Zugleich aber fühle ich lebhaft, daß dies alles zu Ende ist und begraben bleiben muß, Neuem Platz zu machen.

 

Ich übernachte in Berlin. Am nächsten Morgen grüßt mich über den Dächern ein rosiger, hochrosenroter Schein im Osten. Ich erinnere mich, diese Rosenfarbe in Malmö am Abend meiner Abreise gesehen zu haben. Ich scheide von Berlin, dieser meiner zweiten Heimat, wo ich meine seconda primavera und zugleich meinen letzten Frühling verlebt habe. Auf dem Anhalter Bahnhof lasse ich mit diesen Erinnerungen alle Hoffnung auf einen neuen Lenz und eine neue Liebe zurück, die niemals, niemals wiederkehren werden.

Nach einer Nacht in Tabor, wohin mir der rosige Schein gefolgt ist, fahre ich durch den Böhmerwald nach der Donau. Dort hört die Eisenbahn auf, und ich dringe zu Wagen in diese bis nach Grein sich erstreckende Donauebene ein. Zwischen Apfel- und Birnbäumen, Kornfeldern und grünen Wiesen geht es vorwärts. Endlich entdecke ich auf einem Hügel jenseits des Stromes die kleine Kirche, in der ich niemals war, die ich aber als den Hauptpunkt der vor dem Geburtshäuschen meines Kindes sich ausbreitenden Landschaft wohl kenne. Es sind nun zwei Jahre seit jenem unauslöschlichen Maimonat her. Ich komme durch Dörfer und Klosterflecken; längs des Weges erheben sich unzählige Bußkapellen, Kalvarienberge, Votivbilder, Martertafeln und erinnern an Unglücksfälle, Blitzschläge, plötzliche Todesfälle. Und am Ziele meiner Pilgerfahrt erwarten mich gewiß die zwölf Stationen von Golgatha. Alle hundert Schritt grüßt mich der Gekreuzigte mit seiner Dornenkrone und macht mir Mut, Kreuz und Schläge auf mich zu nehmen.

Nun schneide ich mir ins Fleisch, indem ich mich von vornherein überrede, daß sie, wie ich ja schon wissen konnte, nicht da sein wird. Jetzt, da meine Frau das Familienunwetter nicht mehr abwendet, muß ich mir von den alten Eltern, die ich unter beleidigenden Umständen verlassen – ich wollte mich nicht einmal von ihnen verabschieden – Gleiches mit Gleichem vergelten lassen. Ich komme also, um, meines Friedens willen, bestraft zu werden, und als das letzte Dorf und das letzte Kruzifix hinter mir liegen, ahne ich etwas wie die Hinrichtung eines Verurteilten.

 

Einen Säugling von sechs Wochen hatte ich verlassen, und ein kleines Mädchen von zweiundeinhalb Jahren sah ich wieder. Beim ersten Zusammensein blickt sie mich prüfend, aber nicht abweisend, an, als wollte ihr kleines Herz erfahren, ob ich um ihretwillen oder ihrer Mutter wegen gekommen sei. Nachdem sie sich des ersteren versichert, läßt sie sich umarmen und schlingt ihre Ärmchen um meinen Hals.

Das ist jenes »die Erde hat mich wieder« Fausts, aber sanfter und reiner! Ich werde nicht müde, die Kleine auf den Arm zu nehmen und ihr Herzchen an dem meinen schlagen zu fühlen. Ein Kind lieben heißt für einen Mann zum Weibe werden, das Männliche ablegen, und mit der geschlechtslosen Liebe der Himmlischen lieben, wie es Swedenborg nennt. Dies ist der Anfang meiner Erziehung für den Himmel. Aber noch habe ich nicht genug gebüßt!

Die Lage ist in ein paar Worten folgende: Meine Frau ist bei ihrer verheirateten Schwester, denn ihre im Besitze der Erbschaft befindliche Großmutter hat den Schwur getan, daß unsere Ehe aufgelöst werden soll, so sehr haßt sie mich wegen meiner Undankbarkeit und noch anderer Dinge. So bleibe ich als willkommener Gast meiner Schwiegermutter bei meinem Kinde, das ewig mein bleiben wird, und nehme das auf unbestimmte Zeit Angebotene, wie die Sache jetzt liegt, mit Vergnügen an. Meine Schwiegermutter hat mir mit dem versöhnlichen und fügsamen Geiste einer tief religiösen Frau alles verziehen.

 

1. September 1896. Ich bewohne das Zimmer, in dem meine Frau ihre zwei Trennungsjahre verbracht hat. Hier hat sie gelitten, während ich in Paris litt. Arme, arme Frau! Mußten wir so gestraft werden, weil wir mit der Liebe getändelt haben?

 

Beim Abendessen fällt folgendes vor. Um meinem Töchterchen, welches sich noch nicht selbst bedienen kann, zu helfen, berühre ich ihre Hand ganz sanft und in der zärtlichsten Absicht. Die Kleine stößt einen Schrei aus, zieht die Hand zurück und wirft mir einen Blick voll Schrecken zu. Als die Großmutter sie fragt, was sie habe, antwortet sie: »Er tut mir weh!«

Bestürzt, kann ich kein einziges Wort hervorbringen. Wie vielen habe ich mit Willen wehe getan, und tue schon weh, ohne es zu wollen?

Des Nachts träume ich von einem Adler, der mich zur Strafe für etwas Unbekanntes in die Hand hackt.

Am Morgen besucht mich meine Tochter, sie ist zärtlich, lieb und einschmeichelnd. Sie trinkt Kaffee mit mir und bleibt an meinem Schreibtisch, wo ich ihr Bilderbücher zeige. Wir sind schon gute Freunde, und meine Schwiegermutter freut sich, daß ihr jemand in der Erziehung der Kleinen zu Hilfe kommt. Am Abend muß ich dem Schlafengehen meines Engels beiwohnen und ihn beten hören. Sie ist katholisch, und wenn sie mich zu beten und das Zeichen des Kreuzes zu machen auffordert, bleibe ich stumm, denn ich bin Protestant.

2. September. Allgemeiner Aufruhr. Die Mutter meiner Schwiegermutter, welche am Ufer des Stroms einige Kilometer weit von hier wohnt, will einen Ausweisungsbefehl gegen mich erlassen. Sie will, daß ich auf der Stelle abreise und droht, falls ich mich widersetzen sollte, ihre Tochter zu enterben. Die Schwester meiner Schwiegermutter, eine gute Frau, die auch getrennt von ihrem Manne lebt, lädt mich ein, bei ihr auf dem benachbarten Dorfe zu warten, bis der Sturm sich gelegt habe. Sie kommt persönlich, mich abzuholen. Man steigt zwei Kilometer weit einen Hügel hinauf; von seinem Gipfel aus sieht man in einen runden Talkessel, aus dem sich unzählige tannige Hügel wie Krater eines Vulkans erheben. Inmitten dieses Trichters liegt das Dorf mit seiner Kirche und oben auf dem abschüssigen Berge das Schloß in mittelalterlichem Burgenstil; dazwischen liegen hier und da Felder und Wiesen, von einem unterhalb der Burg in eine Schlucht stürzenden Bach bewässert.

Die seltsame, einzigartige Landschaft berührt mich höchst eigentümlich, und der Gedanke kommt mir: Du mußt sie schon einmal gesehen haben, aber wo, wo?

In der Zinkwanne im Hotel Orfila! im Eisenoxyd! Ohne Frage, das ist dieselbe Landschaft!

Meine Tante geht mit mir ins Dorf hinunter, woselbst sie über eine Wohnung von drei Stuben verfügt. Das weitläufige Gebäude enthält noch außerdem eine Bäckerei, eine Schlächterei und ein Gasthaus. Es hat einen Blitzableiter, weil sein Speicher vor einem Jahre vom Blitz getroffen worden ist. Als mich meine gute Tante, die ebenso streng fromm wie ihre Schwester ist, in das mir zum Gebrauch bestimmte Zimmer führt, bleibe ich auf der Schwelle wie vor einer Vision stehen. Die Mauern sind rosa gestrichen, rosa wie die Morgenröte, die mich während meiner Reise verfolgte. Die Vorhänge sind rosa, und die Fenster stehen so voll Blumen, daß das Tageslicht nur gedämpft hereinfällt. Alles ist von peinlicher Sauberkeit, und das altmodische Bett mit seinem auf vier Säulen ruhenden Himmel ist das Lager einer Jungfrau. Das ganze Zimmer und die Art seiner Einrichtung ist ein Gedicht und verrät eine Seele, die nur halb auf der Erde lebt. Der Gekreuzigte ist nicht da, wohl aber die heilige Maria, und ein Weihkessel behütet den Eingang vor den bösen Geistern.

Ein Gefühl der Scham ergreift mich, ich fürchte, die Phantasie eines reinen Herzens zu besudeln, das diesen Tempel über dem Grabe seiner einzigen und nun seit mehr als zehn Jahren toten Liebe der Jungfrau errichtet hat, und ich will das so freundliche Anerbieten verwirrt ablehnen.

Aber die gute Alte besteht darauf:

»Es wird dir guttun, wenn du deine irdische Liebe der Liebe zu Gott und zu deinem Kinde opferst. Glaube mir auf mein Wort, diese dornenlose Liebe wird dir Herzensfrieden und Heiterkeit des Geistes bewahren, und unter der Hut der Jungfrau wirst du die Nacht ruhig schlafen.«

Ich küsse ihr zum Zeichen der Dankbarkeit für ihr Opfer die Hand, und willige mit einer Zerknirschung, deren ich mich nicht für fähig gehalten, ein. Die Mächte scheinen mir gnädig zu sein und die zu meiner Besserung geplanten Strafen eingestellt zu haben.

Doch behalte ich mir aus irgendeinem Grunde vor, die letzte Nacht in Saxen zu schlafen, und verschiebe die Übersiedelung so auf den nächsten Tag.

Ich kehre also mit meiner Tante wieder zu meinem Kinde zurück. Auf der Dorfstraße entdecke ich, daß der Blitzableiter und sein Leitungsdraht gerade über meinem Bette befestigt ist.

Welch teuflischer Zufall, der mich wieder auf den Gedanken einer persönlichen Verfolgung bringt!

Auch bemerke ich, daß meine Fenster eine recht angenehme Aussicht bieten, nämlich auf ein mit alten freigelassenen Verbrechern, Kranken und Sterbenden bevölkertes Armenhaus.

Eine traurige Gesellschaft fürwahr, die ich da vor Augen haben werde!

 

In Saxen packe ich meine Sachen und treffe die Vorbereitungen zur Abreise. Mit Bedauern verlasse ich den Aufenthaltsort meines Kindes, der mir so lieb geworden ist. Die Grausamkeit der alten Dame, die mich von Weib und Kind zu trennen gewußt hat, empört mich. Zornig erhebe ich die Hand gegen ihr in Öl gemaltes Porträt über meinem Bett und stoße eine schwere Verwünschung gegen sie aus. Zwei Stunden später bricht ein furchtbares Gewitter über dem Dorfe los. Blitz folgt auf Blitz, der Regen fällt in Strömen, der Himmel ist stockfinster.

Tags darauf bin ich in Klam, wo das rosa Zimmer mich erwartet. Über dem Hause meiner Tante steht eine Wolke von der Form eines Drachen. Dann erzählt man mir, daß der Blitz ganz in der Nähe ein Haus eingeäschert und der Platzregen unserer Gemeinde außerordentlichen Heu- und Brückenschaden zugefügt hat.

Am 10. September hat ein Zyklon Paris verwüstet, und das unter den seltsamsten Umständen! Inmitten vollkommener Ruhe erhebt er sich plötzlich hinter Saint-Sulpice im Jardin du Luxembourg, streift das Theater du Châtelet und die Polizeipräfektur und verschwindet beim St. Ludwigs-Krankenhaus, nachdem er fünfzig Meter Eisengitter umgerissen. Wegen dieses Zyklons und des andern im Jardin des Plantes fragt mich mein theosophischer Freund: »Was ist der Zyklon? Die Aufwallung irgendeines Hasses, die Schwingung irgendeiner Leidenschaft, die Ausströmung irgendeines Geistes?«

Er fügt noch hinzu: »Ob die Pappusisten sich ihrer Manifestationen bewußt sind?«

Und nun muß es der Zufall, nein, mehr als ein Zufall gewollt haben, daß ich ihn in einem Briefe, der seinen kreuzt, als einen in die Geheimlehren der Hindus Eingeweihten kurz und geradezu frage: »Können die hindostanischen Weisen Zyklone hervorrufen

Damals begann ich auf die Alchimisten den Argwohn zu werfen, daß sie mich wegen meines Goldes oder auch wegen meines Eigensinnes, ihren Gesellschaften alle Gefolgschaft zu verweigern, verdächtigten. In der germanischen Mythologie von Rydberg und in » Wärend och Wirdane« von Hiltén-Cavallius, hatte ich zudem erfahren, daß die Hexen in einem Gewitter oder einem kurzen, heftigen Windstoß zu erscheinen liebten. Ich erzähle dies hier zur Beleuchtung meines Seelenzustandes, wie er damals vor meiner Bekanntschaft mit Swedenborgs Lehren war.

 

Das Heiligtum prangt weiß und rosa, und der Heilige wird sich zu seinem Schüler gesellen, der, als sein Landsmann, das Andenken des vom begnadetsten Weibe Geborenen neuerer Zeit wieder erwecken soll.

Frankreich hat Ansgarius ausgesandt, Schweden zu taufen; tausend Jahre später hat Schweden Swedenborg ausgesandt, um Frankreich durch Vermittelung seines Schülers, des heiligen Martin, wieder zu taufen. Der Martinistenorden, der seine Rolle bei der Gründung eines neuen Frankreichs kennt, wird die Tragweite dieser Worte und noch weniger die Bedeutung von tausend Jahren dieses Millenniums nicht unterschätzen.


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