August Strindberg<
Inferno
August Strindberg<

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Kirchhofstudien

1

Seit meinem ersten Morgenspaziergang auf dem Kirchhofe von Montparnasse ist ein Jahr verflossen. Ich habe gesehen, wie die Blätter der Ulmen und Linden fielen, und wie alles wieder grün wurde und die Glyzinien und Rosen auf dem Grabe Theodor de Banvilles blühten; ich habe dem verführerischen Gesang der Amsel unter den Zypressen gelauscht, und wie die Tauben ihre Paarzeit auf den Grabmälern feierten.

Nun werden die Linden wieder gelb, die Rosen verwelken, und die Amsel singt nicht mehr; nur ein höhnendes Gelächter stößt sie aus über Lenz und Liebe von einst. Freilich, sie werden wiederkehren. Denn auch der kotige Herbst und der schmutzige Winter werden vergehen, wie alles vergeht.

 

Ich trete in den Kirchhof ein, und der lärmende Eintag des Montparnasse-Viertels liegt hinter mir. Noch verfolgen mich die ungesunden Träume der Nacht, aber ich nehme sie nicht mit hinein. Der Lärm der Straßen erstirbt, und der Friede des Todes tritt an seine Stelle.

Zu dieser frühen Morgenstunde immer allein, habe ich mich daran gewöhnt, den Friedhof als meinen Lustgarten zu betrachten, so daß ich – gleich den Toten – einen zufälligen Besucher als einen Eindringling empfinde.

 

Dieses ganze Jahr über habe ich nie einen Freund oder eine Freundin hierher geführt, so daß keinerlei Erinnerung an irgendwen sich in meine persönlichen Eindrücke mischt. Ich gehe die Allee Lenoir hinauf, die gleich der Allee Raffet mit Zypressen besetzt ist, und begrüße meine Lieblinge Orfila, Thierry und Dumont d'Urville. Ein stolzes Machtgefühl überkommt mich, wenn ich so diese geraden Baumreihen durchwandele, die wie Grenadiere in grünen Pelzmützen zu präsentieren scheinen. Wenn ein wenig Wind weht, beugen sie sich und bringen auf beiden Linien ihren Gruß dar, indes ich stolz wie ein Marschall die Allee zu Ende schreite. Da lese ich Tag für Tag auf einem Leichenstein: »Boulay war gewiß ein braver und ehrenhafter Mann.« (Napoleon.)

Ich kenne Boulay nicht und will ihn nicht kennen, aber daß Napoleon sich alle Morgen von jenseit des Grabes an mich wendet, erfreut mein Herz, und ich dünke mir einer seiner Vertrauten zu sein.

Diese tausende von Gräbern zwischen den Zypressen, bedeckt mit Blumen, die auf den harten Steinen gewachsen sind, von Leichnamen genährt und von aufrichtigen oder erheuchelten Tränen begossen! Diese kleinen wie Puppenhäuschen geschmückten Kapellen in dem großen Garten, dazwischen die unzähligen Kreuze, welche abweisend die Arme gegen den Himmel ausstrecken, als riefen sie laut: O crux, ave spes unica! Es ist, so scheint es, die Generalbeichte der leidenden Menschheit. Inmitten des Laubes, hier, dort, überall das kurze: Spes unica! Und umsonst bemühen sich die Büsten der kleinen Rentiers mit und ohne Kreuz der Ehrenlegion darzutun, daß es noch eine Hoffnung über den Tod hinaus gebe.

Man hatte mir von diesen häufigen Besuchen abgeraten, da sie wegen der miasmengeschwängerten Luft gefährlich seien. In der Tat hatte ich einen gewissen Nachgeschmack von Grünspan, der mir noch ein paar Stunden nach meiner Rückkehr nach Hause auf der Zunge blieb. Die Seelen, oder vielmehr vergeistigten Körper, hielten sich also schwebend in der Luft; so konnte ich mich wohl versucht fühlen, sie zu fangen und zu analysieren. Mit einem mit flüssigem essigsaurem Bleisalz gefüllten Fläschchen versehen, beginne ich denn auch wirklich diese Jagd auf Seelen oder vielmehr Körper, und die entkorkte Phiole krampfhaft in der Hand, ködere ich wie ein sorgloser Vogelsteller meine Beute.

Zu Hause filtriere ich den reichlichen Niederschlag und bringe ihn unter das Mikroskop.

Armer Gringoire! Bestand vielleicht aus diesen kleinen Kristallen der Gehirnmechanismus, der mich in meiner Jugend für den armen Dichter voreilig schwärmen machte, war er es, der zugleich die Liebe eines jungen hübschen Mädchens anzuziehen vermochte? Braver, ehrenhafter Boulay (der du den Kodex redigiertest, wie ich jetzt erfahren habe), solltest du es wohl sein, den ich da mit meiner Fliegenklappe gefangen? Oder du, d'Urville, der du mich während der langen Winterabende, weit von hier, unter dem Nordlicht in Schweden, zwischen Fuchtel und Schulbank meine erste Reise um die Welt machen ließest?

Da sie nicht antworten, gieße ich einen Tropfen Säure auf mein Objekt. Die tote Materie bläht sich auf, bewegt sich unruhig hin und her, beginnt zu leben, haucht einen fauligen Geruch aus, beruhigt sich wieder und stirbt. Ich kann ohne Zweifel die Toten erwecken, aber ich will es nicht noch einmal wiederholen, denn die Toten haben verdorbenen Atem, wie Wüstlinge nach einer durchschwelgten Nacht. Schlafen sie denn nicht ganz fest da unten und harren der Auferstehung?

Seit zehn Jahren bin ich Atheist! Ich weiß selbst nicht recht warum! Das Leben langweilte mich, und ich mußte doch das Neue mitmachen. Jetzt, da das Neue alt geworden ist, möchte ich nichts mehr davon wissen, alle Fragen unentschieden lassen und warten.

Seit acht Monaten betrachte ich auf dem Friedhof ein schönes Denkmal. Sarkophag, Grab, Gewölbe, Mausoleum, Kenotaphion, Urne, alles im schönsten altrömischen Stil. Es ist in rotem Granit ausgeführt und trägt keine Inschrift. Ich habe es lange mit der zerbrochenen Säule, dem »Erinnerungsdenkmal aller derer, die kein eigenes Denkmal haben«, verwechselt. Welches Geheimnis liegt da verborgen? Eine stolze Bescheidenheit, die den Fremden zu fragen zwingt oder voraussetzt, daß er es bereits wisse? Am andern Tage blieb ich, tief in meine einsamen Gedanken versunken, vor einer Tafel stehen, die den Namen der Quer-Allee trug, in der das Denkmal des großen Namenlosen lag: Allee Chaveau-Lagarde. Wie ein Blitz durchfuhr es mein Gehirn, und dann fiel die Nacht des Vergessens völlig. Ich sah den Sarg an, der rot und gelb war wie von geronnenem Blut und wiederholte »Chaveau-Lagarde«, wie man den Namen einer bekannten Persönlichkeit vor sich hin sagt.

Wahrscheinlich verdankte die Allee ihren Namen diesem Chaveau-Lagarde ... Rue Chaveau-Lagarde, hinter der Magdalenenkirche, halt! Der geheimnisvolle Mord an einer Greisin, 1893, Rue Chaveau-Lagarde... rot von geronnenem Blut ... und die beiden Mörder blieben unentdeckt!

Gewohnt, alle Vorgänge in meiner Seele zu beobachten, erinnere ich mich, wie ich von einem ungewöhnlichen Schrecken gepackt wurde, während Bilder in bunter Folge wie Vorstellungen eines Wahnsinnigen mich durchjagten. Ich sah den Verteidiger Ludwig XVI. und im Hintergrund die Guillotine; ich sah einen großen, von grünen Hügeln gesäumten Strom, eine junge Mutter, die ein kleines Mädchen das Wasser entlang führt; dann ein Kloster mit einem Altarbild von Velasquez; ich bin zu Sarzeau, im Hotel Le Sage, wo es eine polnische Ausgabe des Hinkenden Teufels gibt; ich bin hinter der Magdalenenkirche, Rue Chaveau-Lagarde ...; ich bin im Hotel Bristol in Berlin, von wo ich eine Depesche an Lavoyer, Hotel London, sende; ich bin in Saint Cloud, wo eine Frau mit einem Rembrandthut sich in Kindesnöten windet; ich sitze im Café de la Regence, wo der Kölner Dom in Rohzucker ausgestellt ist, ... und der Kellner gibt an, daß er von Ranelagh und dem Marschall Berthier erbaut sei...

Was war das? Ich weiß nicht! Ein Sturm von Erinnerungen und Träumen, vom Anblick eines Leichensteins entfesselt und durch mein feiges Erschrecken wieder verscheucht! Doch wenn dieses Grab auch nicht Chaveau-Lagarde bergen sollte, was ich ja nicht weiß, so birgt es vielleicht ein Geheimnis, das mein eigenes Grab einst lüften wird!

 

Nichts ereignet sich in diesem Bezirk des Todes, ein Tag fließt dahin wie der andere, und nur wenn die Vögel brüten, wird es laut in der Stille. Es ist wie ein blühendes Eiland mitten im Meer; von ferne her tönt es wie Murmeln von Wogen. Eine Insel der Seligen, ein großer Spielplatz, auf dem die Kinder Blumen und Spielzeug zusammengetragen, und wo sie Kränze aus den Perlen des Strandes gereiht haben ...; und mit allerlei Flitter gezierte Kerzen brennen dazwischen ... Aber die Kinder haben die Flucht ergriffen und der Spielplatz ist leer ...

Da, eines Morgens im Monat Juni entdecke ich ein junges Weib, das die große Allee auf und ab geht. Sie ist keine Leidtragende, sondern scheint auf jemanden zu warten, und ihre unruhigen Blicke haften am Haupteingang, der so viele aufnimmt, um sie niemals wieder zu entlassen.

Ein verfehltes Rendezvous, und in der Wahl des Ortes nicht sehr heiter, denke ich mir und verlasse den Friedhof.

Am nächsten Morgen traf ich sie wieder an. Es war herzzerreißend! Sie sah auf die Straße, ging hin und her, blieb stehen, horchte, spähte.

Jeden Morgen traf ich sie so, und sie ward immer bleicher; der Schmerz hat ihr Gesicht veredelt. So wartet sie, aber der Elende kommt nicht.

Eine Reise entführte mich auf fünf Wochen in ein entferntes Land. Als ich zurückkam, hatte ich alles vergessen. Ich betrete meinen Friedhof und bemerke inmitten der großen Allee das verlassene Weib. Sein abgemagerter Körper zeichnet sich gegen ein Kreuz ab, als ob es gekreuzigt wäre, und über ihm steht das alte: O Crux, ave spes unica!

Näher kommend sehe ich die Zerstörung, welche diese kurze Spanne Zeit in ihrem Gesichte hervorgerufen hat. Mir ist, als sähe ich unter der weißen schweigsamen Leinwand einen Leichnam, den sie eben in einem Krematorium verbrannt haben. Alles ist noch da und macht den Eindruck der menschlichen Gestalt, aber alles ist Asche und ohne Leben.

Oh, glaubt mir, sie ist erhaben in ihrem nicht kleinen Leid! Von Sonne und Regen sind die Farben ihres Mantels verschossen, die Blumen ihres Hutes sind mit den Linden gelb geworden; selbst ihre Haare haben sich verfärbt ... So wartet sie nun, Tag aus, Tag ein! Ist sie vielleicht wahnsinnig? Jawohl, ein Opfer jenes großen Wahnsinns »Liebe«! Vergeblich erwartet sie die Umarmung, die ein neues Leben in ihr erwecken soll und mit ihm – neues Leiden. Und so stirbt sie langsam dahin.

Ein Zugeständnis auf Lebenszeit? Warum nicht auf Ewigkeit! wenn die Materie unsterblich ist?

Ich möchte wieder fromm werden, aber wie soll ich es werden ohne ein Wunder. Zwar vor einigen Tagen war ich sehr nahe daran. Ein Gewitter war im Anzuge, die Wolken ballten sich zusammen, die Zypressen schüttelten drohend ihre Häupter und wurden nicht müde, mir ihre Verbeugungen zu machen. Napoleon erklärte noch immer, daß Boulay ein braver und ehrenhafter Mann war; die Tauben paarten sich auf einem Steinkreuz; die Toten atmeten Schwefelgerüche aus, und die Miasmen schmeckten nach Kupfer.

Plötzlich veränderten die Wolken ihre wagrechte Lage und nahmen die Gestalt des Löwen von Belfort an. Dann drehten sie sich mit einem Male, wie ein Tier auf seinen Hinterbeinen, um, und richteten sich senkrecht in die Höhe. Nie habe ich etwas Ähnliches gesehen außer auf Gemälden des jüngsten Gerichts. Jetzt lösen die schwarzen Figuren sich auf und die Form der Gesetzestafel Mosis erscheint ungeheuer, doch deutlich umrissen am Firmament. Und diese eisengraue Tafel spaltet ein Blitz und reißt in sie den deutlich lesbaren Namen Javeh, d. i. Gott der Rache!

 

Der atmosphärische Druck bog mir die Knie. Aber keine andere himmlische Stimme ward vernehmbar als das Rollen des Donners, und so kehrte ich wieder nach Hause zurück.

2

Wiederum ist der Herbst im Land; die Linden werden kahl, ihre herzförmigen Blätter flattern raschelnd zu Boden und knistern unter meinen Schuhen, die meinen stolzen Schritt über die dürren, krachenden Herzen dahintragen.

Mir zu Häupten im hohen Gewölk klingt es in fremden und doch wieder vertrauten Tönen. Ich muß an ein Jagdhorn denken, so schwellen sie an und klagen und verwehen. Und ein altes schwedisches Lied, töricht und lieblich wie ein Kindermärchen, klingt in mir auf.

Rauscht mein Lindenbaum noch?
Singt meine Nachtigall noch?
Weint mein Töchterlein sehr?
Lächelt mein Weib noch je?

Dein Lindenbaum rauscht nicht mehr.
Deine Nachtigall singt nicht mehr.
Dein Töchterlein weint Tag und Nacht,
Dein Weib lächelt nie mehr, nie mehr.

Die wilden Gänse des Nordens sind es, die mich auf ihrer Wanderschaft nach wärmeren Ländern und weiteren Himmeln begrüßen.

Der Nachtwind fährt durch die Linden und – o Wunder! – die für das kommende Jahr bestimmten Knospen sind aufgebrochen, und die schwarzen Gerippe grünen wieder wie Aarons Stab. Also die Friedhofslinden fangen an, unsterblich wie die Ewigen zu werden, » semper virens,« Dank den Toten, die sie mit ihren Körpern und Seelen nähren.

»Das organisierte Wesen entnimmt seiner Umgebung unablässig neue Moleküle und läßt sie aus dem Zustand des Todes in den des Lebens übergehen. Wenn eines dieser Moleküle uns seine Geschichte erzählen wollte ... Seit die Erde steht, würde es vielleicht sagen, habe ich gar merkwürdige Wanderungen gemacht. Zuerst war ich ein Grashälmchen, dann wurde ich von den Wurzeln einer mächtigen Eiche aufgesogen; dann ward ich eine Eichel, und ach! gefressen durch wen? dann wurde ich eingesalzen, um eine lange Reise zu machen, dann verdaute mich ein Matrose, dann ward ich Löwe, Tiger, Walfisch; endlich kam ich in eine kranke junge Brust usw.«

Es ist J. Rambosson in seinen Pflanzenlegenden, der mir auf diese Weise in meinen transmutatorischen Spekulationen recht gibt. Als ich beim Grabe Banvilles vorbeikomme, frage ich mich, warum die Freunde des Verstorbenen Rosen und Jasmin darauf gepflanzt haben. Wenn es der Wille des Verstorbenen war, hat er dann gewußt, daß die Leichengifte nach Rosen, Jasmin und Moschus riechen? Ich glaube nicht, aber ich möchte fast glauben, daß wir in den Augenblicken am weisesten sind, wo wir am wenigsten wissen.

Warum übrigens all die Blumen auf den Gräbern? Die Blumen, diese Lebendig-Toten, mit ihrem seßhaften Leben, die sich gegen niemanden zur Wehr setzen, eher leiden als schaden, und sich dabei sinnlich zu lieben scheinen, vermehren sich ohne Kampf und sterben ohne zu klagen. Es sind höhere Wesen, die den Traum Buddhas verwirklicht haben, nicht zu wünschen, alles zu ertragen, und sich in selbstgewählter Beschränkung auf sich allein zurückzuziehen.

Deshalb ahmen vielleicht die weisen Hindus das passive Dasein der Pflanze nach, und enthalten sich, mit der Außenwelt, sei es selbst durch ein Zeichen, einen Blick oder ein Wort, in Verbindung zu treten.

Ein Kind fragte mich einmal: »Warum singen die schönen Blumen nicht auch, wie die Vögel?«

»Sie singen,« erwiderte ich, »aber wir können sie nicht hören.«

Ich hielt vor dem Relief Banvilles.

Kann man in diesem Rentiergesicht mit seinen aufgeblasenen Backen, seinen fleischigen Gourmand-Lippen und seinen Geizhals-Augen eine Spur von Rosen und Jasmin entdecken? Nein, das kann nicht der Dichter Gringoires sein! Das muß ein anderer sein! Aber wer?

Ich erinnere mich der Büste Boulays. Diese Gnomennase, dieser Mund, boshaft wie der eines alten Zauberers, diese verschmitzte Bauernmiene – nein, das kann doch nicht der brave und ehrenwerte Boulay sein!

Und Dumont d'Urville, der gelehrte Natur- und Sprachforscher, der kühne und kluge Entdecker! Was der Künstler da gemacht hat, ist das Gesicht eines ganz gemeinen Wechselagenten. Was ist das? Trägt der Mann eine Maske?

Ich rufe mir die Bilder der großen Zeitgenossen zurück: Darwin ein Orang-Utan; Dostojewski der anerkannte Typus eines Galeerensträflings; Tolstoi ein Straßenräuber; Taine ein Börsianer; ... genug!

Nun, sie haben alle zwei Gesichter, zum mindesten zwei, unter ihrer mehr oder weniger behaarten Haut. Eine römische Legende erzählt uns, daß die äußere Schönheit Jesu Christi ohnegleichen, aber in Augenblicken des Zornes von einer abschreckenden, ja bestialischen Häßlichkeit gewesen sei.

Sokrates mit seiner Faungestalt und einem Gesicht, auf dem alle Laster, alle Verbrechen sich spiegelten, lebte wie ein Heiliger und starb als ein Held.

Der hl. Vincent de Paul, der alles dahingab und sich aufopferte, sah aus wie ein verschmitzter und boshafter Dieb.

Woher diese Masken? Sind sie das Erbe eines früheren irdischen oder überirdischen Daseins?

Vielleicht hat Sokrates die Lösung in seiner berühmten Antwort an seine Verleumder gegeben, als sie ihm sein Verbrechergesicht vorwarfen:

»Wie groß also, denkt euch, muß meine Tugend gewesen sein, wenn sie mit so vielen schlechten Anlagen zu kämpfen hatte!«

In freier Anwendung: Die Erde ist eine Bußkolonie, in der wir die Strafe der Verbrechen erleiden, die wir in einem früheren Dasein verübten, und deren schwache Erinnerung unser Gewissen mahnt, uns zu beständigem Streben nach Veredelung anzufeuern. Folglich sind wir alle Verbrecher, und der Pessimist, der immer Übles von seinem Nächsten denkt und spricht, hat nicht unrecht. Heute morgen verletzte in der Allee Lenoir eine Kleinigkeit mein Schönheitsgefühl. Die geraden Reihen der Zypressen waren durch den Wipfel eines Baumes gestört, der über den Weg gestürzt war. Vom Winde geschüttelt, winkt er mir, stehen zu bleiben, ich verlangsame meine Schritte und mache halt. Eine schwarze Amsel, die in den Zweigen versteckt war, fliegt schwatzend auf und setzt sich auf ein steinernes Kreuz am Wege. Wir betrachten uns gegenseitig. Sie pickt auf das Kreuz, um meine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, und ich lese die Grabschrift: »Wer mir folgt, wird nicht in Finsternis wandeln.«

Der schwarze Vogel erhebt sich und fliegt zwischen den Gräbern hindurch, und ich gehe ihm gedankenlos nach. Er setzt sich auf das Dach einer kleinen Kapelle, über deren Tor die Worte stehen: »Eure Traurigkeit wird sich in Freude verkehren.«

Mein Führer stiegt auf und führt mich mit seltsamem Flöten, das ich gern verstehen möchte, weiter in das Gräberlabyrinth hinein. Als er endlich bei einem Holunderstrauch verschwindet, stehe ich einem Mausoleum gegenüber, das ich noch nie beachtet habe. Es ist ein Künstlertraum, eine Dichtervision, oder noch mehr eine halbvergessene und durch die Tränen der Liebe wieder belebte Erinnerung! Ein Hautrelief stellt auf goldenem Grunde ein sechsjähriges Kind dar, das ein Engel über Wolken gen Himmel führt.

Kein Schimmer von Verbrechertypus zeigt sich in diesem Kindergesicht mit seiner vollkommenen Heiterkeit und seinen großen Augen, die viel eher geschaffen sind, Schönheit und Güte auszustrahlen, als diese unreine Welt zu betrachten. Das Näschen ist durch die Gewohnheit, das Köpfchen an der Brust der Mutter zu bergen, an der Spitze leicht eingedrückt.

Es sitzt mit seinen muscheligen Flügeln wie ein reizendes Ornament über dem herzförmigen Mündchen, nicht um nach irgendeiner Beute zu wittern, noch um gute oder schlechte Düfte zu riechen, ja es ist gar kein Organ: es ist Schönheit um der Schönheit willen.

Es ist das Kind vor dem Ausfall der Zähne, dieser Perlen ohne irgendeinen anderen ersichtlichen Nutzen, als ein Lächeln leuchtender zu machen.

Und das soll nun vom Affen herstammen! Zwar, gestehen wir's nur, daß der gealterte Mensch mit seinem behaarten Körper, faltigen Gesicht, hervorstehenden Zähnen, gekrümmten Rücken und gebogenen Knien sich dem Affenartigen wieder nähert, es sei denn, sein Äußeres sei nur eine Maske. Ein Fortschritt im entgegengesetzten Sinne?

Oder wie? Hat es das goldene Zeitalter Saturns gegeben und sind wir von diesen Glückseligen degeneriert, die wir nie vergessen können, und deren Verlust das Kind bei seiner Ankunft in einer Welt, in der es heimatlos ist, weinend beklagt.

Weiß man, was man tut, wenn man die Kinder mit Milch und Honig und später mit mehr oder weniger goldenen Früchten nährt? Wenn man sie an das goldene Zeitalter erinnert, wo:

Flumina jam lactis, jam flumina nectaris ibant
Flavaque de viridi stillabant ilice mella.

Warum erzählt man den Kindern diese Geschichten vom Schlaraffenland, von Kobolden, Zwergen und Riesen, ohne ihnen zu sagen, daß das alles Lüge ist? Warum stellen diese Spielsachen Ungeheuer und Engel, vorsintflutliche Tiere und verunstaltete Pflanzen vor, die es nicht gibt?

Wäre die Wissenschaft aufrichtig, sie würde antworten: Um dem Kinde über seine Phylogenie hinwegzuhelfen, das heißt die Wiederholung seiner vergangenen Zustände, wie es vor der Geburt seine tierische Entwickelung durchläuft.

 

Die von ihrem Flug zurückkehrende Amsel lockt mich mit ihrem hellen Ruf. Von einem eisernen Gitter herab zeigt mir ihr Schnabel einen Gegenstand, dessen Form und Farbe ich nicht zu unterscheiden vermag. Als ich mich nähere, erhebt sich der Vogel und läßt seine Beute auf dem Geländer zurück. Es ist eine Schmetterlingspuppe, jene einzig dastehende Bildung der Natur, die im ganzen Tierreiche keine formale Analogie hat.

Ein Schreckbild, ein Ungetüm, eine Tarnkappe, weder Tier noch Pflanze noch Stein; ein Leichentuch, ein Grab, eine Mumie, nicht geworden, denn sie ist ohne Ahnen hier unten, sondern offenbar geschaffen.

Der große Schöpfungskünstler hat sich im Gefühl seiner Meisterschaft einmal darin gefallen, etwas Zweckloses zu bilden, l'art pour l'art, vielleicht auch wollte er ein Symbol schaffen. Ich weiß wohl, diese Mumie enthält nichts als aus Schleimhäuten ausgesonderten Schleim, in dem sich nicht die geringste Struktur findet, und der nach frischem Kadaver riecht.

Und diese Herrlichkeit ist mit Leben und Selbsterhaltungstrieb begabt, denn sie knirscht unter dem kalten Eisen und kann sich, zu sehr gerüttelt, mit Fäden festhalten.

Ein lebender Kadaver, der sicher auferstehen wird.

Und die andern da drunten, die sich in ihren Puppen verwandeln, die dieselbe Nekrobiose durchmachen, sie werden, nach der Weisheit der Akademien, diesen Abtrünnigen ihres eigenen Meisters, nicht mehr erwachen!? Man hat wohl vergessen, was Voltaire über die letzten Dinge bekannt hat! Nun ich, der Voltairianer, mache mir ein Vergnügen daraus, diesen Stein des Anstoßes neu aufzurichten und zu zitieren, wie dieser Skeptiker alles zuließ, indem er alles leugnete –:

»Die Auferstehung ist etwas ganz Natürliches; es ist nicht erstaunenswerter, zweimal als einmal geboren zu werden.«


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