Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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XV.

»Ich hab's kommen sehen«, sagte mit gedämpfter Stimme ›Dr‹. Karl Pelzel von der Direktion der k. und k. Nordbahn in Wien. »Der Camillo Fronhofer hat schon lange keine Freude am Leben mehr g'habt ...«

Er stand im Salon der totenstillen Wohnung. Im dämmernden Raum zur Rechten ruhte ein stummer Mann. Ein einziger Totenkranz zu Füßen des Sterbelagers. Ein Holzkreuz des Erlösers auf der Brust.

»Das war nicht nur seine Frau ... die Hansi ... das war das ganze G'schlamp bei uns ... Da hat der arme Narr halt zum Revolver gegriffen ...«

Durch die weit offenen Fenster wehte drückend heiße Wiener Sommerabendluft. Sonnenstäubchen tanzten in den letzten schrägen Strahlen der Sonne über dem verlassenen Nest der Hansi mit seinem tausenderlei bunten Kram von gestickten Kissen, seidenen Deckchen, Mascherln, Schleifen, Spielereien. Auf dem Perserteppich saßen drei große Puppen beim Kaffeeklatsch, steif und aufrecht, mit erstaunten Glasaugen, wie wirkliche Damen. Auf dem Tisch lag eine Modenzeitung mit den kleinen, launischen Hutformen und hohen Schulteransätzen der Mode von 1898 neben einem von scharfen Zähnchen angeknapperten Stück Nußtorte. Im Schreibzimmer waren die Ministerialakten aufgeschlagen und der Wandkalender bis vorgestern, bis zum 24. Juli, abgerissen. Es war, als seien die drei, die da wohnten, er, sie und das Kind, nur eben einmal aus die Ringstraße Luftschöpfen gegangen und würden gleich wiederkommen.

Ein langes Schweigen der beiden Männer im Zimmer.

Von der Mariahilfer Straße unten klingelte die Pferdebahn, rasselten die Räder, lärmte das Wiener Leben. In schweren Schlägen hallten in den Trubel des Alltags von irgendwo aus der Nähe die Glocken der Kirche Mariae vom Siege und von den Lazaristen.

»Darfst mir glauben, Onkel Reini, das wär mit deinem Schwiegersohn auch ohne die Hanserl mal gekommen ... so oder so.«

Reinhold Nimis, der alte Achtundvierziger, stand still mit gefalteten Händen. Ein letztes Sonnenlicht flimmerte über seinem weißen Krauskopf. Die kleine, zarte Gestalt des alten Herrn war schon im Schatten. Auf seinen feinen und rosigen, von einem weißen, kurzen Vollbart umrahmten Zügen dunkelte ein erstaunter, fragender Schmerz, als begriffe er die Welt immer noch nicht ...

»Voriges Jahr bin ich siebzig geworden ...«, sprach er endlich, mehr zu sich als zu dem Neffen von der Nordbahn. »Ich hab viel erlebt. Aber man lebt sein Leben nicht aus ...«

»Ein Glück, daß dem Camillo seine Eltern das nicht mehr erlebt haben! ... Er war die letzte Zeit schon ganz verwandelt. Ich hab viel mit ihm gesprochen. In früheren Jahren da haben wir andern auf unser Österreich geschimpft, und er hat geschwiegen und an Österreich geglaubt. Das hat er halt letztlich nicht mehr. Er hat's nicht mehr gekonnt.«

Der alte Herr seufzte nur. Schaute um sich, als müsse er sich besinnen, wo er sei. Schüttelte den Kopf.

»Vor acht Tagen haben wir noch drinnen auf dem Kanapee bei einer Virginia gesessen, Onkel Reini. Da hat er gesagt: ›Bald schreiben wir das zwanzigste Jahrhundert. Dann hab ich gerad ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel und hab eh genug...‹ und hat sich über die Stirn gestrichen: ›Geh... laß mi aus mit der Welt...‹ Ich hab g'sagt: ›Die Welt – das sind wir selbst!‹ Und er: Wir sind, solang wir sein wollen! Aber wir mögen ja nicht mehr sein in Österreich. Wir können nicht mehr! Wir tanzen einen Wiener Walzer auf unserem eigenen Grab! Draußen in der Welt, draußen im Reich macht ja a jeder schon in Gedanken ein Kreuz hinter alles, was k. u. k. heißt!‹

Auf einmal ist er da aufgesprungen und hat mich am Arm gepackt und gezittert. ›Auf Österreich selber hoffen – das tät bis zum Nimmermehrstag warten heißen!‹ hat er gesagt. ›Aber aufs Reich hab ich gehofft! Auf unsere Brüder draußen. Ich kann die Deutschen diesseit und die Deutschen jenseit von Oderberg und Tetschen und Kufstein nicht auseinanderhalten! M'r gehören sie zusammen ... Alle ... alle ...‹«

»Das war auch der Traum meiner Jugend, Karl, und bleibt der Inhalt meines Lebens!«

»... ›Aber das Reich,‹ hat er fortgefahren und bitter gelacht, ›das Deutsche Reich hat vergessen, daß wir ein einziger Körper sind und Berlin der Kopf und Wien sein Herz. Wozu braucht man heutzutage noch ein Herz?‹«

»Wem sagst du das. Karl?«

»... ›Im Reich,‹ hat er gesagt, ›da schicken sie Denkmäler an fremde Völker, die die gar nicht mögen, und Depeschen an fremde Leute, die sie in den Papierkorb werfen. Aber daß die Madjaren in dem Deutschland verbündeten Bruderland jedes deutsche Wort wie die Pest ausrotten, das kümmert sie nicht! Für die Buren können sie sich in Berlin begeistern! Für die hungernden Inder sammeln sie. Und wenn der Deutsche unten an der Grenze von Südtirol kaum mehr seines Lebens vor den Welschen sicher ist, wenn die Tschechen den Deutschen in Böhmen ihr Menschenrecht auf Sprache und Sitte rauben, dann bleibt im deutschen Norden alles stumm ...‹«

»Ich weiß es. Karl... ich weiß es.«

»... ›Das Reich hat mehr zu tun,‹ hat der Camillo gesagt und den Kopf in die Hände gelegt ...›das Reich will's den Amerikanern nachmachen! Das Reich muß mit Gewalt über Nacht reich werden! Das Reich hat keine Zeit mehr für uns Österreicher und braucht uns doch und wird uns auf die Dauer nicht los! Mög es sich nicht einmal am Reiche rächen!‹ So waren seine Worte, Onkel Reini!«

Der alte Achtundvierziger blickte stumm durch die offene Tür in das Schlafgemach nebenan. Das war durch die herabgelassenen Vorhänge verdunkelt. Auf dem Bette lag, mit über der Brust gefalteten Händen, starr, feierlich, in unbestimmten Umrissen, eine stille Gestalt.

»Am selbigen Abend, Onkel Reini – es stand ein Gewitter über Wien, hinterm Kahlenberg – ist der Camillo an das Fenster hier getreten und hat hinausgeschaut und hat zu mir gesagt: ›In der Ferne donnert's, und in einer halben Stunde spielen's jetzt hier in allen Theatern Operetten! Aber die eigentliche Operette – die spielen wir nicht abends von sieben bis zehn – die spielen wir alle jeden Tag in ganz Österreich von früh bis spät. Der Balkan draußen ist eine Operette! Unser Völkergemisch herinnen ist eine Operette! Unsere Jockei-Klub- und Polen-Klub-Politik ist eine Operette ... unsere aufgeputzten Pester Magnaten, unser Praterkorso – alles ist nur Operette. Leichtsinniges Zeug und bunter Schein, und bald fällt der Schicksalsvorhang, und alles ist vorbei, und das wissen wir und sind heut lustig, weil wir morgen traurig sind. Aber ich hab keine Lust, lustig zu sein! Ich bin heut schon traurig. Ich hab's satt.‹«

»Du wolltest doch noch schauen, ob du den Kutscher auftreibst ...«. sagte Reinhold Nimis nach einer Pause.

»Ich bin in das Beißel am Kohlmarkt gegangen, wo der Matuschek gewöhnlich nachtmahlt. Da hat er bei seinem Paprika-Hähndel und seinem Viertel Gespritzten zwischen seinen Freunderln und Verehrern gesessen ... Solch ein unnumerierter Fiaker wie der Matuschek, mußt wissen, is bei uns eine Macht ...«

»Ach, Liebster... ich kenn Wien!«

»... und hat erzählt. Mich am Nebentisch hat er nicht gekannt. Aber 's war nix Neues, was er berichtet hat. Er ist halt leer an der Villa draußen in dem Collageviertel vorgefahren, wie gewöhnlich, und hat gehalten und sich nix Böses gedacht... da sei auf einmal zu seinem Schrecken der Herr von Fronhofer herausgestürzt ... die Hände am Kopf ... und durch die Nacht davon.«

Der alte Herr setzte sich schwer nieder und starrte auf den Boden.

»Am andern Morgen sei der Pürckenstein gleich vom Cottage aus mit ihm auf den Schießstand gefahren, um sich einzuüben. Nötig hätt er's nicht gehabt! Er trifft ja eh schon auf dreißig Schritt, fast ohne Zielen, ein Kartenblatt. Alsdann ... der Camillo hat ihm ja die Müh erspart, ihn erst niederzuschießen! Er hat's selbst besorgt! Und jedenfalls ebenso akkurat. Er saß da im Stuhl, wie wenn er schliefe ...«

Der alte Herr stand hastig von dem Sessel auf.

»Und wohin dieser Graf von Pürckenstein ist – das weiß niemand?«

»Halt abgereist. Und die Hansi mit ihm!«

Dr. Pelzel legte dem andern schonend die Hand auf die Schulter.

»Man muß es tragen ... so schwer's auch is, Onkel Reini ...«

»Ich hab schon viel in meinem Leben tragen müssen.

»Um dein Enkelkind sorg dich nicht! Die Peperl is vorläufig bei uns gut aufgehoben ... Gottlob ... da kommen's endlich ...«

Schwere Tritte polterten die Treppe hinauf. Einige Männer traten ein. An ihrer Spitze ein alter, hagerer hochgewachsener Herr in Zivil mit strengem k. k. Armeegesicht.

»So. Jetzt überlaß dem Onkel Alfi die Überführung nach Hietzing! Kümmere dich heute weiter um nichts.«

»Ich bitte – ich werde alles besorgen!« sprach der Feldmarschalleutnant a. D. Freiherr von Morandell und reichte dem Vetter und Jugendgenossen die Hand.

Der alte Herr drückte sie stumm und trat noch einmal in das dämmerige Nebengemach. Sein Schwiegersohn lag da still, einen tiefen, schmerzlichen Ernst auf dem erstarrten, vollbärtigen Gesicht, so, als trüge er nicht nur sein eigenes Leid, sondern auch das Österreichs mit zu Grabe. Reinhold Nimis betrachtete ihn lange mit verschlungenen Händen. Dann ergriff ihn jemand leise am Arm. Führte ihn schonend hinaus. Sie waren auf der Straße. Laue Luft umwehte sie. Lachen und Leben und Lieben und Leichtsinn. Sie waren in Wien.

Es war nun schon ganz Nacht geworden. Die Ringstraße glitzerte von tausend Lichtern unter den schwarzen Schattenrissen der Baumreihen und Parkanlagen. Feierlich ragten in dem Zwielicht nah und fern die öffentlichen Palastbauten des neuen Wien. Grau, uralt, ehrwürdig, eine Stadt für sich, dämmerte die Hofburg mit dunklen Fensterhöhlen, über denen finster der Zorn der Götter braute. Kaum eine Scheibe in den mächtigen Gebäudemassen war mehr hell. Der alte Mann, dessen Haupt nun seit einem halben Jahrhundert Habsburgs Kronen drückte, ging mir den Hühnern zu Bett und stand beim ersten Hahnenschrei auf. Er war einsam. Seine Gemahlin weilte in der Fremde, und hart hinter ihr, mit gezücktem Stahl, schlich bereits lauernd auf leisen, unhörbaren Sohlen der Mord. Sein Sohn ruhte ermordet drüben in der Kapuzinergruft. Seinen Bruder hatte in Mexiko das Mordblei erreicht. Wahnsinn umfing dessen Frau. Das Gestirn des Mordes stand dräuend am Himmel der Zukunft über dem Erzherzog-Thronfolger. Die Parzen saßen und spannen düster im Finstern der Hofburg ihren Schicksalsfaden. Dunkel und eng lagen dahinter die Gassen des alten Wien. Hier erst, im Schatten geschichtlicher Herrensitze, wuchtender, mittelalterlicher Patrizierhäuser, unter den Wölbungen von Kirchenportalen und Klosterpforten, zwischen dem mondscheinhellen Schnörkelwerk von krummen Ecken, steilen Treppenaufstiegen, winkeligen Plätzen, brach der alte Achtundvierziger das lange Schweigen und sagte zu seinem Neffen von der k. und k. Nordbahn: »Der Camillo hat ein zu weiches Herz gehabt. Er hat zu tief geliebt. Seine Frau und sein Österreich, und beide unglücklich. An beiden ist er zugrunde gegangen. Und beide gehen selbst zugrund.«

Er blieb stehen. Auf seinem feinen, kindlich weißbärtigen Gesicht zuckte der Schmerz.

»Ich bin doch ein halber Österreicher, Karl. Meine selige Mutter war eine Österreicherin und ist es zeitlebens auch draußen geblieben. Und meine liebe selige Frau erst recht. Durch sie beide hab ich es geerbt, Österreich zu verstehen, so wie man seine Frau versteht. Es ist so leicht und fällt denen im Norden doch so schwer. Sie haben sich lieber scheiden lassen, der Süden und der Norden. Im Jahre sechsundsechzig. Das war der Anfang vom Ende.«

»Einundfünfzig Jahre sind's her, Karl, da bin ich als ein junger Krauskopf hier zum erstenmal drüben in der Wiedener Hauptstraße aus der k. k. Cours-Postkutsche gestiegen. Da hat hier noch der Metternich geherrscht. Da war noch der Polizeiminister Sedlnitzki Meister. Da wußten sie noch nichts von achtundvierzig, und es stand doch schon vor der Tür. Damals war Österreich in Ketten und Banden und doch noch stark und stolz. Denn es war noch deutsch. Gleich darauf hat der Banus zum erstenmal mit seinen Kroaten und Serben in Blut und Bürgerkrieg Wien erstürmt ... Ich war dabei ... Ich hab's mitansehen müssen.... Von da ab hatte die Kaiserstadt ihr Skelett im Haus. Das heißt der Slawe!«

Reinhold Nimis war weitergegangen und machte wieder halt auf einem kleinen Platz, über dem die Sterne funkelten, und schaute in bitterem Gram umher.

»Du mein liebes, entgöttertes Wien! ... Du armer entblätterter Wiener Wald! ... Du stumm gewordener alter Stephan! ... O du mein Österreich... Du mein sterbendes Österreich ... komm ... komm ... Karl! ... Es will Nacht werden! Wir wollen heim! Alle heim! Ich bin alt ...«

An dem Tor seines Gasthofs nahm er von dem Verwandten Abschied. Dr. Pelzel hielt die Greisenhand in der seinen. Er versuchte zu trösten: »Du hast recht, Onkel Reini! Du bist halt mild und abgeklärt! Du suchst die Schuld in allem hier! Nicht nur bei deiner Tochter...«

»Ich hab keine Tochter ...«

Der alte Herr sprach das ruhig, mit zuckenden Lippen, als seien sie beide gestorben – Camillo Fronhofer und sein Hanserl. Dabei leuchtete eine leidenschaftliche, gläubige Liebe in seinen warmen, dunklen Augen: »Ich hab nur noch einen Sohn! Ich hab meinen Leo! Das ist mein Licht und mein Leben! An den halt ich mich, wenn ich das Leben, mit meinen siebzig Jahren, bald selbst nicht mehr versteh!«

»Freilich ist das ein ganzer Kerl, der Leo!«

»An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, heißt's! Aber man kann auch sagen: An unseren Früchten sollen wir uns erkennen!... Weißt du, Karl: wir Alten waren halt doch vielleicht zu weich. Zu weit haben wir geschaut. Den Himmel auf Erden haben wir gesucht und dabei den Boden unter den Füßen verloren. So hat es mich und so manchen Achtundvierziger hinüberverweht nach Amerika, kreuz und quer durch die Welt, auf die alten Tage wieder zurück ... Was war schließlich mein Leben? Ein Suchen und Nichtfinden. Dem Leo gibt das Leben keine Rätsel auf. Der steht mit beiden Beinen fest auf der Welt. Der ist ein Deutscher vom neuen Schlag! Vielleicht sollten wir Väter, wir Träumer, uns in den trotzigen, jungen Kerlen von Stahl und Eisen erfüllen, im neuen Reich ...«

»Ja ... Ihr draußen im Reich ... Ihr habt es gut ... Ich hol dich morgen früh ab, Onkel Reini!«

In seinem Gasthofzimmer sah Reinhold Nimis auf dem Tisch einen ihm von Darmstadt nachgesandten Brief. Er erkannte die Handschrift seines Sohnes. Er öffnete. Las die ersten Zeilen. Ließ das Blatt sinken und holte seine Brille heraus. Denn die Buchstaben tanzten ihm plötzlich vor den Augen. Er hob das Schreiben wieder... stutzte entsetzt ... setzte sich schwer nieder ... saß mit offenem Mund ... ungläubigen Blicken ... las endlich doch von neuem von vorn an:

»Lieber Vater! Ich schreibe Dir aus Berlin, wo ich, um manches Lebenswichtige für die mir anvertrauten Menschen und Betriebe endgültig abzuwickeln, bis morgen bleiben muß.

Ich sollte dann nach Lütthahn zurück. Ich werde es nicht tun. Ich werde überhaupt nicht mehr nach Lütthahn zurückkehren.

Ich sage das vorerst nur Dir als dem einzigen Menschen. weil in Lütthahn kein Mensch meinen Schritt verstehen wird. Am wenigstens meine eigene Frau. Sie weiß also noch von nichts, so wenig wie mein Schwiegervater oder sonst jemand dort. Der schonendste Weg auf dem ich es ihr beibringen kann, wird und muß in Bälde die vollzogene Tatsache sein ...«

Die Schriftzüge Leo Nimis' waren klar, fest, von entschlossenem Federdruck wie immer. Der alte Herr starrte sie betäubt an. Atmete schwer. Las.

»Ich hab Dich als Vater immer geliebt und verehrt. Aber ich habe mir Dich als Menschen nicht zum Vorbild im Leben genommmen. Du selbst rietst mir immer davon ab. Ich glaubte, über Dich hinausgekommen zu sein, als Sohn eines neuen Geschlechts. Du kamst, wie Du mir als Buben oft erzählt hast, aus der deutschen Postkutschenzeit über das große Wasser. Ich war in Amerika geboren und wuchs dort auf. Alles schien mir furchtbar einfach. Man sah, wo Hände nötig waren, und ging heran und streifte die Aermel auf und arbeitete und verdiente Geld und wurde, wenn man viel Geld aus der Welt herausholte, ein ernsthafter Mann, und wenn man die Menschen dazu brachte, daß sie noch mehr Geld für einen verdienten, ein prominenter Geschäftscharakter.

So weit habe ich es, ohne rechts und links zu schauen, gebracht. In allen fünf Erdteilen, in die ich kam, war zweimal zwei vier. In Deutschland, wo ich mein Settlement fand, erst recht. In der Welt wenigstens, in der ich hier lebe, denken alle so. Und Deine einstige Welt dort – an die dachte man mit mitleidigem Achselzucken. Der Deutsche von früher – das war der Sterngucker, der überall Dinge über sich sah, die gar nicht da waren, und in die Dinge um sich herum eine Bedeutung hineinlegte, die kein vernünftiger Mensch erkennen konnte, der im Traum ging und Rätsel sah – und wir waren wach und arbeiteten vom Morgen bis zum Abend.

Und nun allmählich, wo ich ein Mann geworden bin und das Leben sich mir in noch jungen Jahren in seinem ganzen Reichtum erfüllt zu haben schien, nun habe ich nach schweren langen Kämpfen und Zweifeln erkannt: Du bist der Sehende gewesen und ich der Blinde. Du hast das Leben durchmessen. Ich bin im Vorhof des Lebens stehengeblieben.

Ich habe gerechnet. Du hast geglaubt. Ich habe das Geld gesucht und Du die Menschen. Ich habe gearbeitet, und Du hast geliebt.

Du hast immer geliebt, alles, was um Dich war, weil Dir alles nicht als ein Ding zur Ausbeutung und Beherrschung, sondern als ein Stück von Dir selbst erschien. Du wirst lieben, solang Du lebst, und kannst darum niemals unglücklich werden. Ich bin unglücklich seit Jahr und Tag.

In meinem Leben war keine Liebe. In der ganzen neuen Welt, die wir uns hier schaffen und die stürmisch täglich im Leben wächst und ihre Schornsteine in den Himmel reckt und ihre Schächte in die Erde treibt, ist sie nicht. Nur Kampf und Verstand und Geld.

Und doch: In meinem Leben ist die Liebe. Schon lange. Und immer wachsend. Immer gewaltiger. Aber nicht die Liebe zu meiner Frau, sondern zu einer anderen.

Du kennst sie auch. Sie ist die Nichte Deines alten, verstorbenen Freundes Louis Ferdinand. In diesen Tagen wurde die Ehescheidung des Geheimrats von Spängler von ihr ausgesprochen. Die Gerichtsverhandlung hatte sich über ein Jahr hingezogen. Gestern abend bekam ich hier die Nachricht. Sie ist seit einem Jahr, seit dem Tod des Grafen Pritzig, bei ihren Verwandten in Hamburg, den Inhabern der Lüdingworthschen Reederei. Sobald ich hier meine Geschäftspflichten als gewissenhafter Mann erfüllt habe, spätestens übermorgen früh, reise ich zu ihr nach Hamburg. Dann nehmen die Dinge rasch ihren Lauf.

Ich kenne meine Frau nach der Reihe von Jahren, in denen die gemeinsame Verantwortung und Arbeit uns verbunden hat. Sie liebt mich. Wir lieben unsere Kinder. Das tut mir bitter weh. Es war für mich ein furchtbarer Entschluß, darüber hinwegzukommen. Aber sie ist so sehr ein Mensch der unbedingten Pflicht, daß sie gar niemand halten will und halten kann, der, nach ihrer Weltauffassung, seine Pflicht hintenansetzt. Das tue ich. Ich kann nicht anders, weil es mehr auf der Welt gibt als die Pflicht. Ottonie wird mich, wenn es sein muß, freigeben. Leute wie mich läßt sie fallen. Das weiß ich. Aber noch weiß sie von nichts, ehe nicht in Hamburg alles entschieden ist.

Ich schreibe es Dir, weil ich es einem Menschen schreiben muß, und Du, außer ihr, an die ich mein künftiges Leben knüpfe, der einzige Mensch bist, der meinem Innersten nahesteht. Hat man denn ein Innerstes? Ich weiß es jetzt erst wirklich, nachdem ich es so lange verleugnet und verraten habe, aber dafür heißer und tiefer als andere. Schweige, bitte, vorerst zu jedermann, wer es auch sei, von diesem Brief. Verstehe ihn. Dein ganzes Leben hieß ja verstehen und verzeihen! Sei, was Du immer warst, lieber Vater, auch heute Deinem Sohn Leo!«

Der Feldmarschalleutnant a. D. Freiherr von Morandell klopfte nach einer halben Stunde zweimal an die Tür, ohne daß eine Antwort kam, schüttelte das hagere Haupt mit den beiden Habsburger Bartstreifen an den Wangen und trat ein.

»Was hast denn, Reini? Du sitzt ja da am Fenster, als wolltest du naussteigen und nachtwandeln ...«

Der alte Herr stand langsam auf.

»Ich hab eben einen Brief bekommen, Alfi ...«

»Ja, dös seh ich ...«

»Wann ist morgen die Beisetzung?«

»Um elf Uhr vormittags, wie's ausgemacht war.«

»Ich muß gleich nachher abreisen!«

»Warum denn ... ich bitte?«

»Ich habe gedacht, ich hätte heute nur meine Tochter verloren!« sagte Reinhold Nimis. »Aber jetzt laufe ich Gefahr, auch noch mein Liebstes auf der Welt, meinen Sohn, zu verlieren.«

»Jesus, Maria und Josef... Was ist denn dem Leo passiert?«

»Frage nicht! Sage zu niemand etwas! Hilf mir nur, Alfi, daß ich morgen so bald wie möglich auf die Bahn komme ...«

»Wohin?«

»Nach Hamburg. Mit dem ersten Zug, der geht!«


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