Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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VI.

Auf dem kleinasiatischen Hochland lag jetzt, zu Mitte März 1890, der Schnee noch tief wie in Sibirien. In der Schlucht des Sakaria, durch die die Hochfläche sich zum fernen Marmarameer senkte, zwischen Mekedsche und Adabasar arbeiteten Hunderte von frierenden Türken und Armeniern am Bau der Eisenbahn. Triefend nasse Kamele knieten im Schneebrei. Die kurdischen Treiber schützten ihre düsteren Zottelköpfe durch Säcke gegen das Flockenstieben. Riesige tscherkessische Köhler stiegen zähneklappernd über die aus Deutschland gekommenen Schienenstapel. Ein Berliner Geheimrat stand unter seinem Regenschirm, den dunkelroten Zivildienstfes der Hohen Pforte auf dem bebrillten Haupt, und beaufsichtigte das Werden der anatolischen Bahn.

»Also grüßen Sie mir Berlin, Herr Nimis, und sagen Sie nur in der Behrenstraße, wir seien hier feste auf dem Posten! Ich auch, trotz meiner fünfzig!«

»Alles mögliche, Herr Geheimrat!«

»... fern von Weib und Kind, unter Wanzen und Flöhen! Wenn mir das Sauleben zu toll wird, sag ich mir: Ei was! Bismarck hinter mir! Sogar die Halbwilden hier um uns haben alle schon von Bismarck gehört!«

»Sie nennen ja den Bulgurluberg gegenüber Konstantinopel den Bismarckberg, wegen der drei einzelnen Platanen auf seinem kahlen Gipfel.«

»Na – gute Reise!«

Die offene Dräsine, auf der Leo Nimis mit ein paar türkischen Streckenarbeitern in Wind und Wetter kauerte, rollte von selbst die noch unfertige Bahn hinab. Baumwollfelder, Maulbeerbäume, Rhododendronbüsche zeigten die Nähe der Küste. Aber immer noch wirbelte der Schnee. Salo Hirschhorn, der mitfahrende Zwickauer Geschäftsreisende, wickelte sich fröstelnd in seinen Mantel. Er machte in Wolltüchern für die Beamtenuniformen der neuen türkischen Eisenbahnen.

»Zwanzig Jahre lang bin ich hier gegen die österreichische Konkurrenz nicht aufgekommen, Herr Nimis! Jetzt kommt man endlich ins Geschäft und verdient! Warum? Weil man jetzt was hinter sich hat als deutscher Kaufmann: den Schutzzoll und den Bismarck! ... Werden Sie auch seekrank?«

»Als Säugling soll ich's mal gewesen sein!« sagte Leo Nimis, die Stummelpfeife unter dem langen, blonden Schnurrbart zwischen den energilchen Lippen. In Haidar Pascha tanzte vor dem noch im Bau befindlichen deutschen Stationsgebäude das Dampferchen nach Konstantinopel im Sturm vor Anker. Die Delphine schnellten während der Überfahrt aus den schäumenden Wellen. Zwei Engländer, Bekannte aus Honolulu, begrüßten Leo Nimis.

»Ihre Landsleute sind hier stark am Werk, Mr. Nimis!«

»Ich hoffe so!«

»Es fängt an, ernstlich störend zu wirken!«

»Kommt noch besser!«

»Sie arbeiten seit ein paar Jahren gar nicht mehr für London und Neuyork, Mr. Nimis?«

»Nein. Ausschließlich für Berlin!«

»Warum?«

»Weil Berlin arbeitet und ganz Deutschland arbeitet!«

Zwischen den hohen Bordwänden der großen Seedampfer auf der Reede von Galata wurde das Wasser still. Türkische Gendarmen kamen am Goldenen Horn an Bord. Finster und mißtrauisch prüften sie die Ausweise der Reisenden. Leo Nimis hob die Hand und versetzte nur: »Bismarck«, als Zeichen, daß er Deutscher sei. Die Gendarmen verbeugten sich achtungsvoll und gingen weiter, ohne ihn noch mit einer Frage zu behelligen. Und drüben sprach mißvergnügt M. Palmer zu Mr. Stone: »In Kairo preisen die Eseljungen ihre besten Esel nicht nur mehr an ›Gladstone-Esel‹, sondern auch ›Bismarck-Esel‹ ...«

Neben ihm sagte Avrom, der jüdische Spaniole aus Saloniki, zu Husseindian, dem Armenier: »Ich mach meine Geschäfte nicht mehr mit Triest, ich mache meine Geschäfte mit Hamburg!«

Leo Nimis schwang sich am Ufer auf eins der gesattelten Mietpferde, die noch an allen Straßenecken die Stelle der Droschken vertraten, und galoppierte, der Treiber im Laufschritt hinterher, nach Pera hinauf. Dort zeigt ihm am runden deutschen Stammtisch bei Janni der verwitterte Krüger Bei, noch keiner von den amtlich entsandten deutschen Paschas in Rang und Würden, sondern ein viel herumgetriebener alter Landsknecht, die beiden thüringischen Horngriffabrikanten am Nebentisch.

»Die Leutchen kaufen ihre Hirschgeweihe bei den tscherkessischen Jägern bis weit über Kaisarea hinaus. Daß sie in den anatolischen Gebirgen nicht umgebracht werden, verdanken sie nur dem heiligen Respekt vor Deutschland. Reisen Sie durch den Balkan heim, Herr Nimis?«

»Nein! Ich hab noch auf einen Sprung in Rußland zu tun! Ich fahre durch das Schwarze Meer.«

Die »Zariza« verbeugte sich, auf hoher See stampfend, immer wieder feierlich vor den zweimannshoch gegen ihren Kiel anlaufenden Wellen. Der junge Herr, der mit Leo Nimis am selben Tisch beim zweiten Frühstück saß, war seekränklich. Er hatte so naiv schlechte Umgangsformen gegenüber seinen Mitmenschen, daß Leo Nimis' reisegeübter Blick in ihm ein Mitglied des österreichischen Hochadels vermutete.

»Sie sind doch der berühmte Herr von Nimis?«

»Berühmt?«

»Seit vier Wochen reden's über Sie in ganz Konstantinopel! Ihr macht's ja die Türken ganz narrisch, ihr Berliner! Das Schnellzugtempo ist doch keine Art mehr! Das sind wir in Österreich net gewöhnt!«

»Macht's uns nur nach!«

»Dann seid's so gut und borgt uns den Bismarck!«

»Den brauchen wir selber!«

Der Österreicher seufzte:

»Ja, eben! Der Bismarck! Der steht halt hinter euch! Den habt's ihr draußen immer bei euch wie ich meinen Kreditbrief. Die Unterschrift kennt jeder. Sehen's dort das Häuferl Unglück im Schiffsstuhl: Das is der Dir. Nawratil, ein k.k. Bergwerksmensch, der mit mir in Amtsgeschäften reist. Im Jänner war der Nawratil auf der Suche nach Erzlagern ganz im Innersten der Karpathen bei den hazulischen Hirten, halben Wilden, und hat sie beim Herdfeuer gefragt, ob's denn schon 'mal vom Kaiser in Wien gehört hätten? Ja, haben die Huzulen geantwortet. Aber es gäbe einen noch Mächtigeren. Seinen Namen wüßten sie nicht. Aber er hätt' nur drei Haare auf dem Kopf ...«

»... und auf den Zähnen ...«

Eine Pause.

»Ja, was macht's denn jetzt nur, Herr von Nimis, wann der Bismarck geht?«

»Bismarck sollte gehen?«

»Ach – lassen's doch die Leut' reden! Wird schon nix daran sein, an dem Getratsch!«

Von drüben schaute Papachristu, der dicke Levantiner aus Smyrna, achtungsvoll herüber. Er kannte außer seiner Vaterstadt nur Pera und Paris. Er sprach außer Griechisch nur ein paar Brocken Französisch. Die Franzosen waren sein Vorbild der Menschheit. Sie waren von den früher hier ganz unbekannten Deutschen geschlagen worden – solchen, wie da drüben einer saß ... Es wollte ihm noch immer nicht in den Kopf. Aber jeder versicherte es ihm seit Jahren ...

Fern hob sich, gleich einer Luftspiegelung, auf hoher Küste Odessa aus dem Meer. Ein grusinischer Fürst und Weinhändler spendete den Mitreisenden freigiebig aus seiner geöffneten Rotweinflaschen. Er sparte dadurch den Eingangszoll für seine Mustersorten. Der Kaukasier stieß mit Leo Nimis an. Er wollte höflich sein und zeigen, daß er auch schon etwas von Deutschland gehört hatte. Er sprach das Wort »Bismarck« aus und hielt dabei das Glas einen Augenblick ehrerbietig vor der Brust, ehe er trank.

Im südrussischen Kohlenbecken, zwischen Maljowka und Uslowaja, strahlte noch frostklarer, eisklingender, himmelblauer russischer Winter. Leo Nimis schritt, von den Bobrinskischen Bergwerken nach Tula zurückgekehrt, die Hände im Pelz, an den Backsteinmauern des Tulaer Kremls entlang. Der Schnee sang unter seinen Galoschen, die Kathedrale zur Erscheinung Christi funkelte mit goldenen Kuppeln, die Sonne schien warm, Papyrosduft würzte die dünne, schneidende Luft, und Leo Nimis sagte zu dem russischen Großindustriellen neben ihm, der mit seinen kniehohen Filzstiefeln, dem langen, weißbereiften Bart und der verschneiten Pelzmütze wie ein Knecht Ruprecht aussah: »Warum dieser wilde Deutschenhaß bei euch Russen? Gegen Franzosen, Belgier, Engländer, Amerikaner habt ihr doch nichts!«

»Deutschland ist uns zu nahe. Es drückt auf uns seit zwanzig Jahren. Früher war da zwischen uns und Europa ein freier Raum. Man konnte die Ellbogen rühren. Jetzt wurde alles eng!«

»Ihr werdet euch daran gewöhnen müssen!«

»Man wird müssen. Denn Gott gab euch Bismarck«, sagte der Altrusse in seinem tiefen Baß. »Er mischt die Menschen wie wir im Jerolasch die Karten. Er spielt für euch und sticht. Man kann nichts machen, solange er da ist!«

Er blieb an der Ecke der Kiewstraße stehen und streifte den Pelzhandschuh zum Abschiedshändedruck von der Rechten.

»Aber wie lange wird Bismarck noch im Amt sein? Man hört so mancherlei. Gospodin Nimis!«

Leo Nimis fröstelte. Irgend etwas stieg da auf. Ein Schatten lag über Europa. Ein großes, schon halb öffentliches Geheimnis. Er hatte wahrend seiner wochenlangen Einsamkeit in den anatolischen Schneestürmen nichts davon vernommen. Je weiter man nach Westen gen Europa kam, desto lauter pfiffen es schon die Spatzen von den Dächern ...

In Warschau lag kein Schnee mehr. Nur der polnische Wind fegte noch eisig durch die Krakauer Vorstadt. Herr Jules Taufstein, der weitläufige russisch-polnisch-französische Finanzmann, schälte sich im Brühlowskirestaurant nach dem Käse seine Birne und hob die Schulter.

»Rentieren sollen sich unsere neuen polnischen Eisenbahnen auch noch, Herr Nimis? Niemals werden sie sich rentieren!«

»Warum baut ihr denn dann das riesige Bahnnetz in Westpolen?«

»Das wissen Sie so gut wie ich: Zu strategischen Zwecken. Zum Aufmarsch gegen Deutschland!«

»Wollt ihr wirklich mit uns anbinden?«

»Dazu müßten wir erst mit Frankreich verbündet sein! Und dies Bündnis kommt niemals zustande, solange Bismarck im Amt ist. Er verhindert ja alles, was Deutschland je gefährlich werden könnte! Er sorgt für euch wie ein Vater.«

Draußen vor dem Abenddunkel des Sächsischen Gartens hielt in der Kotzebuestraße der Wagen. Leo Nimis fuhr nach dem Westbahnhof. Der Geschäftsfreund begleitete ihn. Über die lange Weichselbrücke brüllte der Sturm. Unten stöhnte der Fluß im Krachen des Eisgangs. In der düsteren Nacht umher schrie Jules Taufstein dem anderen ins Ohr, ohne daß der hebräische Kutscher auf dem Bock es in dem Lärm hören konnte: »Sie wissen, was in Warschau schon in jedem Kaffeehaus erzählt wird, Herr Nimis! Sind denn die Leute in Berlin meschugge, daß sie Bismarck weghaben wollen? Man greift sich an den Kopf! Gott dem Gerechten sollen sie auf den Knien danken, daß sie ihn haben!«

Die beiden Herren, die im Schnellzug nach Berlin mit Leo Nimis die drei nebeneinander befindlichen Schlaflager des Abteils innehatten, sprachen ganz leise Französisch miteinander und hatten Mappen mit Geheimakten unter ihren Kopfkissen. In Thorn zeigten sie große diplomatische Pässe vor, und ein deutscher Beamter sagte zu Leo Nimis, den er kannte: »Es sind französische Generalstabsoffiziere, die in Petersburg mit dem russischen Kriegsminister verhandelt haben! Was – das kann man sich schon denken!«

»Ich komme eben aus Paris!« versetzte ein Reisender. »Dort reden sie schon ganz offen von ihrem Bündnis mit Rußland gegen uns, sobald nur Bismarck weg ist!«

»Er ist weg ...«

In dem tiefen Schweigen umher zeigte der hinzugetretene preußische Oberst das eben aus Berlin eingetroffene Abendblatt, das er sich von dem Zeitungshändler gekauft. An der Spitze stand mit Riesenlettern: »Bismarck entlassen!«

»Um Gottes willen ...«

»Und nun?«

»Wir Offiziere haben stillzuschweigen und zu gehorchen«, sagte der Oberst im Abteil zu Leo Nimis, mit dem er bis Posen zusammen reiste. Der fuhr sich über die Stirn.

»Ich kann's immer noch nicht fassen! ... Wie mag es jetzt in Berlin ausschauen? ... Gut, daß ich nur das bißchen Handgepäck bei mir habe ...«

»Warum?«

»Man wird gar keine Droschke bekommen in dem allgemeinen Gewühl ... Die Straßen werden von den Menschenmassen gesperrt sein... Vielleicht sind schon Unruhen im Gang ... Es muß ja eine furchtbare Aufregung dort herrschen!«

In Berlin war Frühling. Weiche, warme Luft. Knospen an den Bäumen. Die goldene Märzsonne brannte heiß wie sonst im Mai. Die Leute gingen mit behaglichen Alltagsgesichtern ihrer Wege und freuten sich über das schöne Wetter. Die Spatzen piepten. Die Schutzmänner standen an den Ecken. Die Geheimräte kamen mit ihren Aktenmappen aus den Ämtern. Die Damen lustwandelten in lichten Lenzkostümen und erzählten sich was und schüttelten sich vor Lachen. Die Wache zog auf, der Schwarm der Bummler voraus, wie immer. Es war alles wie sonst.

Und blieb wie sonst in diesen Tagen. Leo Nimis begriff das nicht. Er fragte sich: Seid ihr nicht bei Trost oder ich?

Vor dem Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße standen kleine Gruppen ergriffener Menschen. Diener und Schreiber gingen geschäftig zwischen den Seitenflügeln und dem zurückliegenden Hauptbau hin und her. Schutzleute scheuchten vor dem Eingangsgitter bärbeißig die Vorbeikommenden von dem Bürgersteig ... Aber kaum hundert Schritte weiter war schon wieder Berliner Alltag... Da: die Leute steckten aufgeregt die Köpfe über einem Zeitungsblatt zusammen! Ein Extrablatt? Noch eine Hoffnung? Leo Nimis trat hastig hinzu. Es war die Nummer der ›Sportwelt‹ mit dem Nizzaer Rennen.

Da wieder ein Menschenhaufen. Er vergrößerte sich reißend. Alles lief heran. Leo Nimis mit. Endlich! Endlich! Ein Droschkengaul war gestürzt. Ein dicker Schutzmann notierte sich den Fall ins Taschenbuch.

Da ein Gedränge um die Litfaßsäule. Gespannte, andächtig lesende Gesichter. Ein blutroter, amtlicher Anschlag. Leo Nimis näherte sich in letzter Hoffnung: Zehntausend Mark Belohnung für die Entdeckung eines Raubmords irgendwo. Die Leute zerstreuten sich. Der Zettelankleber ging weiter. Ein junges Mädchen stand und kaufte sich Blumen. Die Feuermehr klingelte vorbei. Berlin war ruhig.

»Aber Bismarck ...«, sagte Leo Nimis erschüttert zu einem Bekannten, den er auf der Straße traf. »Die ganze Welt spricht von ihm ... und hier ... Mir ist diese Gleichgültigkeit wie ein Traum! Merkt denn hier keiner, was vorgeht?«

»Na ja ... wissen Sie ... Sein wir froh, daß wir den Druck los sind! ... Aus Rußland kommen Sie? Russen liegen flau! Ich war eben in der Burgstraße...«

»Begreift ihr denn nicht...«

»Kennen Sie übrigens den neuesten Börsenwitz: Was ist der Unterschied zwischen ...«

»Adieu!«

Zehn Schritte weiter hörte Leo Nimis ein helles Damenlachen.

»So in Gedanken, Herr Nimis? Und ein Gesicht machen Sie ... man könnte sich vor Ihnen fürchten ...«

»Ich fürchte auch für Deutschland ... in diesen Tagen...«

Die noch jugendliche Kommerzienrätin gab ihm die Hand. »Ich muß eben hinüber zur Kasse ans Lessingtheater, Herr Nimis ...«

»... in diesen Tagen ... wo Bismarck geht ...«

»Ja, schrecklich – nicht wahr? Der alte Mann! Er tut einem so leid ... Ich kann Ihnen noch ein Billett zur Premiere besorgen, Herr Nimis ...«

»Danke ...«

Leo Nimis ging brüsk davon. Ein kleiner, stämmiger Mensch vertrat ihm den Weg, ein angehender Dreißiger, den Schlapphut aus dem verwegenen Kopf, die Hände in den Taschen des abgetragenen Überziehers, eine verschossene, mit Schriftstücken vollgepfropfte Ledermappe zwischen Ellbogen und Hüfte geklemmt.

»Robert ... bist du's?«

Robert Nimis, der rote Darmstädter Vetter, reichte ihm die Rechte und sprach nur aus tiefster Seele: »Uff!«

»Ich denke, du bist überall ausgewiesen!«

»Mitglied des Reichstags, Alterle! Schon seit 'nem halben Jahr! Gell, do guckschte? Jetzt kann mir die Polizei den Buckel lang rutsche ...«

Und dann wieder aus Herzensgrund: »Uff!«

»Was heißt das?«

»Alleweil fährt der Säkularmensch ab! Heut sind wir den Bismarck los! Jetzt gibt's Luft! Jetzt kann er eher 'n Ochsen ins Horn petzen als uns noch sekieren! ... Jetzt gibt's bald keinen Ausnahmezustand mehr, ihr Männer ...«

»Denkst du denn gar nicht an die Wirkung auf das Ausland?«

»Ich pfeif aufs Ausland! Jetzt gibt's neue Zeitunge, die nit mehr verbote werde, überall! Neue Redakteurposten! Brotstellen! Ich kann Frau und Kinderche ernähre! ... Kurasch, mei Binche ... Du heißt nit mehr lang Binche Thilo ... Jetzt wird geheiratet ... 's is e Pfarrerstochter vom Odenwald, Leo!«

»Gratuliere! ... Aber Bismarck ...Bismarck ...«

»Uff! sag ich ... Wenn der Schutzmann, das Kamel, nit da drübe stünd, tät ich gleich hier auf dem Königsplatz tanze! ... Der Bismarck is weg! Man kann's noch gar nit glaube!«

Leo Nimis war allein. Ein linder Wind säuselte über die frühlingswarme Fläche des weiten, strahlend überblauten Platzes. Jenseit der Spree, vor der Glashalle des Lehrter Bahnhofs, stand eine dunkle, mehrhundertköpfige Menschenmauer rund um die Einfahrt. Vereinzelt auch noch hie und da Leute weiterhin an der Siegessäule und bis zum Brandenburger Tor.

Dort funkelten Sonnenblitze auf rasch im Trab sich wiegenden Adlerhelmen. Weiße Kürassierkoller leuchteten wie Schneeflocken im Spätwinter, bloße Pallasche flimmerten. Ein Trupp Panzerreiter vorn, ein Trupp Panzerreiter hinten, dazwischen zwei, drei offene Wagen. Im vordersten eine weiße Kürassiermütze mit schwefelgelbem Rand. Eine weißbehandschuhte Rechte hob sich zuweilen grüßend zu ihr. Die Straßenzüge hier waren nur spärlich belebt. Ein paar vom Großen Generalstab kommende Offiziere machten Front, die Hand an der Mütze, mit angefaßtem Säbel. Eine Gruppe spielender Kinder winkte auf Geheiß der Gouvernante vom Sandhaufen herab mit ihren Taschentüchern. Einzelne Herren entblößten das Haupt. Ein paar Damen sanken in ehrfurchtsvollem Knicks zusammen. Umstehende lachten darüber: »Verlieren Se man nich die Puste, Madamken!« Manche behielten den Hut auf dem Kopf und starrten gleichgültig oder schadenfroh dem Zuge nach.

Der war schon fern. Verschwamm schon an der Brücke über die Spree. Löste sich wie eine Luftspiegelung auf.

Es war schon wieder, als sei nichts geschehen. Die Kinder spielten wieder auf dem Sandhaufen. Die Bonne sah daneben und las in ihrem Buch. Die Spaziergänger gingen weiter. Die karmoisinroten Beinkleidstreifen der Generalstäbler verschwanden im kahlen Gehölz des Tiergartens, ein Laufjunge pfiff durchdringend, ein Bollescher Milchwagen rasselte vorbei, die Pferdebahn bimmelte schläfrig von Alt-Moabit nach dem Kupfergraben, an der Ecke balgten sich zwei Köter ... Das Ganze schien Leo Nimis hinterher wie eine Sinnestäuschung ...

Bismarck weg ... eine Leere in der Welt ... und Berlin gleichgültig auf dem alten Fleck... Bismarck weg ... mit einem Male ... so wie ein Stein in stilles, dunkles Wasser fällt und kaum mehr Ringe zieht ...

Der Wind trug ein schwaches Hurra des Menschenhäufleins vom Lehrter Bahnhof herüber. Dann lösten sich auch dort die schwarzen Punkte der paar Berliner und die blauen Punkte der vielen Schutzleute in nichts auf. Bismarck war davongefahren ... für immer ...

Leo Nimis schritt in den Tiergarten hinein, in einem seltsamen, drückenden Gefühl von Einsamkeit, von Verlorensein des welterfahrenen Auslanddeutschen inmitten binnendeutschen Pfahlbürgertums und Krähwinkelei.

Auf dem Fußpfad kamen zwei Herren. Der Ältere war ein hochgewachsener, hagerer Grandseigneur, dem die Hakennase gebieterisch über den langen weißen Schnurrbart vorsprang. Sein Begleiter war kleiner, nahe an die Fünfzig, rundlich stutzerhaft, Täuberichgamaschen über dem Lack der Schuhe, das Einglas in dem wohlgenährten, gönnerhaften Lebemannsgesicht.

»Natürlich ist er's«, sagte Graf Louis Ferdinand von Pritzig zu dem Mann seiner Nichte, dem Geheimrat von Spängler. »Willkommen, Leo! Wieder im Land! Du kommst zur trüben Stunde, Weißt du auch wirklich, was hier geschehen ist?«

»Ich glaube, besser als die Leute hier!«

Herr von Spängler-Colosimo zuckte die Achseln und musterte blasiert den Himmel. Exzellenz von Pritzig fragte weiter: »Hast du ihn gesehen ... Jetzt eben?... Ja? Auf dem Königsplatz? Du warst bei mir und hast mich nicht daheim getroffen? Hätt ich es gewußt! ... Wann hast du denn noch eine Stunde für mich frei?«

»Nur noch diesen Abend. Morgen muß ich in Geschäften an den Niederrhein!«

»Da bin ich nun gerade hier bei Spänglers versagt!... Ach ja – das wäre nett von euch, Alfons! Du hörst: Der Geheimrat würde sich freuen, dich heute abend bei sich zu sehen, damit ich mit dir zusammen sein kann! Nimm es nur ruhig an ...«

»... und bitte keine Karte vorher, Herr Nimis ... ganz ungezwungen ... comme étranger de distinction...«

»Ich weiß wirklich nicht, Herr Geheimrat, ob ich als Fremder und Kaufmann ...«

»Gerade! Gerade! ... Der moderne Diplomat, wie ich mir zu sein schmeichle, soll nicht ewig nach Preußenart nur mit Mars Arm in Arm marschieren, sondern auch mit Merkur! Hä – ha ... Ich bin ja selbst ein alter Frankfurter! ... Um acht Uhr, wenn ich bitten darf ...«

»Mußt du schon wieder weiter, Leo? In einer Viertelstunde eine Besprechung auf der Bank? Na ja – also auf Wiedersehen heute abend!«

Die Exzellenz und der Geheime Legationsrat gingen weiter. Herr von Spängler-Colosimo brannte sich eine Zigarre an. Das Zündholz färbte seine fleischigen Finger rosig, an denen zum stillen Vergnügen des alten Junkers an seiner Seite ein Siegelring mit dem Wappen seines zehnjährigen Adels prangte. Er sagte hinter der hohlen Hand: »Man braucht heutzutage diese Art Leute! Mit Maß! Dem Ausland gegenüber! Irgendwie muß die Welt überzeugt werden, daß wir sie nicht mehr vom preußischen Schilderhaus aus betrachten!«

»Ja! Es ist seit heute Mode, modern zu sein!« sprach der weißhaarige Junker.

»Bei mir schon lange, lieber Onkel! Diese Atmosphäre von ewigem Donner und Blitz aus dem Sachsenwald und kalten Wasserstrahlen nach dem Westen ging einem ja nachgerade auf die Nerven! Man schämte sich schon als Kulturmensch... Wenn du irgendwo eingeladen bist, erscheinst du doch auch nicht in der klirrenden Rüstung deiner Vorfahren, sondern in Frack und weißer Binde. So nimmt von jetzt ab auch der Deutsche mit einer leichten, zwanglosen Verbeugung seinen Platz an der europäischen Tafel ein.«

»Nur daß du dir den Stuhl erst eigenhändig herbeischleppen und unaufgefordert zwischen die anderen hineinquetschen mußt. Beliebt macht man sich als Eindringling nie!«

»Ei was! In guter Gesellschaft ist ein Gentleman immer willkommen! Es muß nur wirklich ein Gentleman sein und nicht einer von den wilden Männern aus dem preußischen Wappen. Wir leben nicht mehr in der Zeit Albrechts des Bären. Der Diplomat mit ewig geschwungenem Tomahawk ist vieux jeu. Die Potsdamer Wachtparade wirkt ermüdend, wenn sie immer wieder über die Weltbühne zieht. Man begreift die Notwendigkeit nicht! Es hat ja niemand auf der Welt etwas gegen uns Deutsche!«

»Meinst du?«

»Höchstens Mißtrauen gegen unser ewiges Hausmittelchen von Blut und Eisen! Hatte früher mal seine Berechtigung! Aber jetzt! ... Fair play, gentlemen! Wir sind doch vernünftige Menschen. Die andern auch!«

»So?«

»... mal unbefangen die Hand hingehalten: da sind wir! Ein bißchen mehr Höflichkeit und Biegsamkeit statt des gräßlichen preußischen Ladstocks! Du wirst sehen, wie rasch es auf der ganzen Welt vom Deutschen heißt: He is a jolly good fellow!, und wie rasch sie zusammenrücken, um uns Platz zu machen!«

»Ich bin ein alter Stockpreuße! Ich lauf niemand nach!«

»Ja, glaubst du denn, mir? Es sind ja nur kleine Kunstgriffe, um die Menschen zu kaptivieren! Gott – es ist ja eigentlich so lächerlich leicht! Kleine Aufmerksamkeiten über die Grenze hinüber! Eine kleine Schmeichelei zur rechten Zeit! Ein bißchen Dienstfertigkeit! Wir müssen den Nachbarn zeigen, daß wir ehrlich Zutrauen zu ihnen haben! Paß mal auf! In ein paar Jahren sieht die Welt schon ganz anders aus! Laß uns nur machen!«

»Hoffen wir's!«

»Seit dem Regierungsantritt des neuen Herrn merkt man ja erst, welchen kolossalen Respekt Deutschland schon in der Welt genießt!«

»Ja. Ihr seid reiche Erben!« sagte der alte Junker. Sie näherten sich längs des Wilhelmplatzes der Voßstraße, in der Herr von Spängler wohnte. Vor dem Reichskanzlerpalais war jetzt alles leer und tot. Die Fenster standen offen wie in einem Sterbehaus. Innen wurde in Eile gepackt und gehämmert. Stroh trieb auf dem Ehrenhof im Märzwind. Handwerker und Arbeiter gingen über ihn hin und her. Der riesige Geheimrat von Kanzleben stieg nebenan die paar Steinstufen des Auswärtigen Amts hinab und versetzte grimmig: »Der neue Mann ist doch schließlich ein alter Junggeselle! Hätte gut und gern noch im Hotel wohnen können! Mir gefällt dies Drängen, sofort hier einzuziehen, gar nicht. Der Fürst mußte ja Hals über Kopf hinaus!«

Bismarck war weg. Gleichgültig blaute der Alltag. Die Leute gingen mit ausdruckslosen Gesichtern ihren Geschäften nach. Ein Mensch weniger in Berlin. Es gab ja so viele ...

In der vornehm stillen, feierlich gebogenen Voßstraße blieb Herr von Spängler vor der Sandsteinfront seines Hauses stehen.

»Das war ja alles nicht mehr zu halten«, sprach er zu dem angeheirateten Oheim. »Unter uns: das hat ja alles schon viel zu lang gedauert! Staatshämorrhoidarier wie der gute Kanzleben, der dort drüben zu seinen sauren Moselweinbrüdern am Stammtisch in der Potsdamer Straße stiefelt, büffeln eben ergeben für Gott, König und Vaterland weiter! Aber unsereiner! Wir Deutschen haben geschlafen! Wir haben den Anschluß an gewisse Kulturformen versäumt, die im Westen längst gang und gäbe sind! Dadurch wirken wir jetzt so düster ... mittelalterlich ... na ja ... sagen wir's schon: eben wie der große Kürassierstiefel!«

»Wenn er nur noch seine Tritte austeilte!«

»Jetzt dürfen wir laufen, um den Vorsprung der andern einzuholen!«

»Ihr seid ja auch immer atemlos von Festen und Reisen!« Der alte Graf Louis Ferdinand von Pritzig-Jackenzin wurde sehr ernst. »Lieber Alfons, man kann aus einer Eule keine Nachtigall machen und aus dem alten Preußen keine Lämmerwiese. Die Pickelhaube ist wie der Schaufelhut der Jesuiten: Sei, wie du bist, oder hör auf, zu sein!«

Herr von Spängler seufzte, »Es ist merkwürdig! Du weißt, wie sehr ich deinen scharfen Verstand bewundere, Onkel! Aber plötzlich gibt es da Grenzen – nicht deines eigenen Intellekts, sondern schwarzweiße Grenzpfähle: Bis hierher darf der Preuße denken und nicht weiter!«

»... weil jenseit dieser Grenzpfähle das Handeln anfängt! Durch die Tat ist das Reich geschaffen worden. Wir müssen Bismarcks Erbe antreten, wie es ist! Dies Erbe heißt die Macht!«

Der Geheimrat antwortete nicht mehr. Es war ja umsonst. An Hinterpommern konnte man sich den Schädel einrennen.

»Drum sucht die Macht, Alfons, und nicht ihren äußeren Schein in leeren Feiern und Festen. Liebt die Macht! Ehrt die Macht! Denn sie ist Preußens Mutter! Verleugnet eure Mutter Macht nicht, in der Mitte Europas, mit offenen Grenzen. Sonst verläßt sie euch, und wir sind verloren ...«

»Solange das gute Recht auf unserer Seite ist ...«

»Recht setzt rechtliche Nachbarn voraus. Die haben wir nicht!«

Die Züge des alten Preußen waren streng und hart, beinahe feierlich geworden. Jetzt erhellten sie sich plötzlich in einem freundlichen Sonnenschein. Über ihn kam jetzt öfters die früher ungewohnte Milde des letzten Jahrzehnts eines Menschenlebens. Er winkte mit der Hand zu einem Fenster zur ebenen Erde empor: »Wie ein Bild hinter Glas und Rahmen«, sagte er. »Die Klothilde war schon als Mädel bei uns zu Haus eine Schönheit. Aber das ist nichts dagegen, wie sie sich als deine Frau in den zwei Jahren herausgemacht hat. Sieh nur, wie sie dasteht ... das weiße Kleid ... der lachende Kopf ... und auf dem Arm das strampelnde Jungchen! Na, grüße sie! Ne – ich kann nicht mit hinauf! Ich muß weiter! Ich muß heute mit meinen Gedanken allein sein!«

Auch der Geheimrat von Spängler hatte seiner schönen, um fünfundzwanzig Jahre jüngeren Frau verzückt zugenickt. Er stieg kurzatmig die paar Marmorstufen im Hausinnern hinauf und trat würdevoll ein, als begäbe er sich schon in einer fremden Hauptstadt im Namen des Reichs zum leitenden Staatsmann einer auswärtigen Macht. Erst im Salon verlor er seine Gemessenheit. Er warf einen scheuen Blick nach der getäfelten Tür, ob der Diener auch hinter ihr verschwunden sei, dann faßte plötzlich seine schöne junge Frau um die schlanke Taille und walzte mit ihr auf dem Parkett um den Bechsteinsflügel. Er drehte sich gewandt, trotz seiner Dicklichkeit, und beweglich wie ein etwas kurzatmiger Kreisel. Er hörte ihr lachendes: »Aber Manni – bist du denn übergeschnappt?«

Der Geheimrat tanzte immer noch, das Einglas im Auge. Dabei lag noch der dienstliche Ernst von draußen auf seinen Mienen. Auf den hatte er vergessen. Er sah aus, als erfülle er eine amtliche Pflicht. Das Zimmer ging mit ihm im Kreise. Er blieb schwindelig stehen, faßte in die Klaviertasten, daß ein mißtönender Akkord entstand, und ließ seine Frau fahren.

»Ich glaube wirklich, du hast mit dem Onkel zu stark gefrühstückt!«

»Ne – Kindchen – ne – das ist der Rausch der neuen Zeit! Es geht von dem neuen Kurs aus! Der steigt einem zu Kopf.«

Er setzte sich erschöpft und zog sie zu sich auf die Knie. Sie nahm gewohnheitsgemäß darauf Platz. Wie sie ihm, dreiundzwanzigjährig, übermütig mit den Füßen baumelnd. auf dem Schoß saß, hätte sie ebensogut seine Tochter sein können. Tiefgoldene Lichter spielten im Sonnenschein vom Fenster her auf ihrem reichgewellten, kupferbraunen Haar. Die jungen, haselnußfarbenen Augen lachten in dem weißen, klassisch regelmäßigen Gesicht, dem immer noch ein paar winzige Schönheitspflästerchen von Sommersprossen die Langeweile der Antike raubten. Was da der Geheimrat von Spängler als sein Eigen auf den Knien hielt war kein Bild ohne Gnade, sondern lachendes, blühendes Leben. Er küßte sie mit zärtlichen, vorsichtig gespitzten Lippen. Er atmete aus tiefster Seele auf.

»Es wäre ja unter Bismarck niemals etwas aus uns geworden. Thildchen! Er hätte mich ja nie zu etwas Ernstlichem gebraucht. Ich wäre unter ihm der ewige Jüngling geblieben ... Der Austerndiplomat ... Guter Kerl beim Frühstück und dann raus! ... Er hat mich nie leiden können, wenn er überhaupt von meinem Dasein viel wußte! ... Er hat ja außerdem auch immer alles selber gemacht ... zusammen mit dem Sohn ...«

An dieser Wand, in dieser Wohnung hing kein Bismarckbild. Nur ein riesiger Schatten, der schwer über diesen Räumen gelastet hatte, schwand langsam und löste sich in nichts. Herr von Spängler tupfte sich mit dem Seidentuch ein paar kleine ertanzte Schweißperlen von dem strittigen Grenzgebiet zwischen Stirn und Glatze.

»Bismarck war der richtige Binnenmensch aus alter Zeit! Sein Horizont war Europa und endete, wo das Meer und England anfing! Wir aber wollen auf das Meer! Hinaus in die Welt! Bisher war man mit solchem Gesichtskreis ein Dorn im Auge. Aber jetzt ist der Start frei! Na ... Exzellenzchen, wie fühlen Sie sich?«

»Pscht! Wir sind noch nicht Exzellenz! Beruf es nicht!«

»Aber mir werden's! Werden's!« Er schaukelte seine schöne junge Last auf den Knien wie ein Kind. »Wenn wir größer wachsen, reiten wir nach Sachsen ...«

»Na, hoffentlich weiter!«

»Aber du mußt die bestangezogene Frau sein, die je im Namen des Reichs hinausgeschickt worden ist! Das mußt du mir versprechen!«

»Gern, du Schaf«, sagte Frau Klothilde von Spängler-Colosimo mit großer Bereitwilligkeit und tippte ihm mit dem schlanken, rosigen Zeigefinger von oben auf die Glatze. »Schau nur, daß du da drinnen genug Gepäck mitnimmst! Überfracht? Na – dann kann sich ja Deutschland zu uns gratulieren!«

»Wird sich auch! Warte nur! Apropos, Daisy – eh ich es vergesse: Ich habe für heute abend noch Herrn Nimis eingeladen, Protegé deines Onkels ...Höherer Bankmensch oder derlei ... Onkel Louis Ferdinand hat ja immer diese unvermuteten Bekanntschaften. Aber heutzutage muß man sich mit jedem Spiel der Natur anbiedern!«

Klothilde nickte und glitt leichtfüßig von seinen Knien, um sich den Fall zu notieren.

»Du, Dickerchen?«

»Ja, Thilde?«

»Wo soll dieser Herr Nimis denn sitzen?«

»Setz ihn ein bißchen nett! Nicht neben so ein langstieliges Wesen, das auf alles säuerlich reagiert, was nicht Garde und Auswärtiges Amt ist!«

»Nein. Er kann überhaupt rechts von mir sitzen ...«

Frau von Spängler saß und bemalte ein Kärtchen mit ihrer schwungvollen Handschrift.

»Dicki! Ich werde ihm die kleine Mettenberg zur Tischdame geben!«

»Gut. Die ist Gräfin! ... Hei! Da lacht ihr, ihr Demokraten!«

»Außerdem ist das Tinettchen die Tochter des alten Buschbeck. Also aus seinen Kreisen. Da können sie sich was erzählen. Die kennen sich ja untereinander alle!«

»Natürlich, das Tinettchen! Da hast du mit sicherem Griff wieder das richtige Pferd aus dem Stall gezogen. Gott – was hab ich für 'ne kluge Frau!«

Er küßte sich die Fingerspitzen und warf ihr einen bewundernden Luftkuß zu.

Abends, als sie zusammen, vor Ankunft der Gäste, prüfend vor Kristall- und Silberschimmer und Blumenfülle der gedeckten Tafel standen, wiederholte er entzückt: »Klug wie der Deubel! ... Wenn man bedenkt, daß das Frauenzimmerchen noch nicht vierundzwanzig zählt! Noch nicht trocken hinter den Ohren ...«

Er drückte zur Abwechslung andächtig einen Kuß auf ihren ausgeschnittenen Nacken, über dem sich lose Haarsträhnchen wie feine rotbraune, goldig durchleuchtete Seide kräuselten. Eine schwere Perlenkette schlang sich um ihren schlanken Hals und gab der auffallend weißen Hautfarbe ihrer Züge einen weichen, lebend warmen Schimmer und selbst den hellen, jungen Augen einen feuchten und innigen Glanz. Sie drehte sich zu ihm um und lachte ihn an. Ein Kleid aus pompejanisch roter Seide mit lichtblauen Samtrosetten umfloß, nach der Mode des Jahres 1890, in königlichen, prunkvollen Falten ihre zarte Gestalt. Ein Sonnenglanz von Schönheit und Jugend umfunkelte sie im Blitzen der Diamanten und blendete die Augen ihres Mannes.

»Majestät!«

Der dicke Geheimrat von Spängler hatte sich gewandt vor ihr auf das Knie niedergelassen und küßte ihr begeistert die schmale Hand. Sie ließ ihn gewähren, glättete ihm wieder sanft die Elfenbeinkugel der Glatze und sagte seelenruhig: »Kerlchen ... Du wirst jeden Tag verrückter ...«

»Und wenn sich sogar der olle Giesebitz noch in dich verknallt – und alle Männer ... Ich bin nicht eifersüchtig! Nee – ich bin stolz! Ich bin stolz! So 'ne Frau hat keiner wieder! ... Die könnt ihr mit der Laterne suchen gehen, Kinder ...«

»Ich dachte gar nicht, daß du dich noch so in mich verlieben würdest«, sagte Klothilde.

»Wieso?«

»Na – wie du vor drei Jahren um mich anhieltest, da schien es mir gar nicht so toll ...«

»Immer! Immer!«

Die junge Schönheit lächelte und sagte nichts weiter. Er ächzte ein bißchen und stand auf.

»Aber natürlich: daß du dich so herausmachen würdest ... diese steigende Sicherheit! ... 'ne olle Oberhofmeisterin kann sich vor dir verstecken ...«

Frau Klothilde musterte, lang und schlank dastehend, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, wie ein Feldherr die Tafel und sagte nachdenklich: »Dabei hab ich erst heute nachmittag von Tante Gesine den Kopf gewaschen gekriegt! ... Takt, Kind ... Takt ... Man gibt kein Souper an dem Tag, an dem Bismarck geht ...«

Ihr Mann zupfte sich überlegen lächelnd vor dem Spiegel die weiße Binde so zurecht, daß sie, nach dem Muster des Prinzen von Wales, ein wenig schief nach links über der einsamen grauen Riesenperle in der Hemdbrust saß. Diese Hemdbrust war das Schwierigste an seinem ganzen äußeren Menschen. Sie konnte nur in London richtig gestärkt und geplättet werden. Jeden Monat einmal ging eine Wäschesendung von der Voßstraße nach der Themse und eine zurück.

»So?« sagte er. »Taktlos? Ist das heute etwa ein vereinzeltes, auffälliges Festessen, oder haben wir nicht beinahe jeden Tag Gäste? Haben wir heute erst eingeladen oder nicht schon vor acht Tagen, als noch kein Mensch wußte, was heute passieren würde? Und drittens, teure Tante und Gouvernante: Wenn es taktlos war, einzuladen, warum war es denn dann nicht taktvoll von den Gästen, abzusagen? Aber sie kommen alle! Sie kommen alle! Und im übrigen.« Er rieb sich behaglich die wohlgenährten Hände. Von der Diele dröhnte der tiefe Schlag des Gongs. »Von heut ab ist einem Bismarck nicht mehr gefährlich, sondern nur noch die Freundschaft mit ihm! Wozu brauch ich als Frankfurter Bismarcks Freund zu sein? Fällt mir nicht ein! Nee! Nee! ... Komm, Maus!«

»Ich hab nur die Kiebitzeier heute aus dem Menü gestrichen«, sagte Klothilde, während sie eilig, mit geraffter Schleppe, neben ihrem Mann nach den Empfangsräumen ging. »Das wäre vielleicht doch ein Stich gewesen!« Und er dankte wieder – mit einem Blick der kleinen, schlauen Augen nach oben – dem Himmel für diese Frau ...

»Oh ... Tante Amélie ... Immer pünktlich wie 'ne Uhr ...«

Die junge Hausfrau konnte die verwitwete Exzellenz von Luch nicht ausstehn. Sie stürzte sich auf sie und küßte sie leidenschaftlich und dann deren Töchter, die schwere, blonde Frau von Pommerich, und die jüngere, die Luise, die als Hofdame in einer kleinen Residenz zu dieser nicht tanzenden Gelegenheit eingeladen war. Neue Gäste kamen. Die Zimmer füllten sich. Die Stimmen schwirrten. Der heutige weltgeschichtliche Märztag zitterte auf den Jungen. »Was sagt ihr zu Bismarck?«

»Bei uns haben wir uns nicht gewundert!« versetzte die kleinstaatliche Hofdame. »Man durfte nicht darüber reden – aber wir wußten's über Kopenhagen schon seit dem Zarenbesuch im vorigen Herbst!«

»Also ich bin stolz!«

»Warum denn, Giesebitz?«

»Der neue Reichskanzler ... Junggeselle ... wie ich!«

Der dreiundsiebzigjährige Potsdamer Oberst a. D. Graf Giesebitz warf den Damen einen seiner verführerischsten Blicke eines alten Herzenknickers zu und tänzelte hinüber zu der Gruppe von Herren unter dem Kronleuchter.

Dort sprach der hagere Generalleutnant z. D. Adalbert von Pritzig, der Bruder des Zackenziner Grafen: »Mir tut's im tiefsten Herzen weh! Ich hab die halbe Nacht nicht geschlafen und an Bismarck gedacht. Aber wir Soldaten haben das Maul zu halten! Was meinen Sie, Postitz?«

Drüben ein Zupfen an der weißen Halsbilde.

»Ah ... der Fürst war schließlich ein Staatsdiener wie wir! Beamte zu bestellen und zu entlassen, ist ein unbestrittenes Vorrecht der Krone!«

»Es ist Gottes Wille!« sagte Hans Joachim von Pritzig, der älteste Sohn und Erbe des Grafen Louis Ferdinand, der jetzt schon als Landwirt das Majorat verwaltete. Er war schon über die Vierzig, vollbärtig, voll nüchterner, stiller Gotteskindschaft. Als gleich nach der Gründung des Reichs sich der christliche Adel preußischer Nation in Hunderten von Unterschriften in der »Kreuz-Zeitung« von seinem größten Sohn, dem Begründer des Reichs, lossagte, da hatte aus der hinterpommerschen Pietistensippe der Krackows kaum ein einziger gefehlt.

Aus ihr hatte Hans Joachim sich seine Frau geholt. Sie war klein und scheu und tat sonst hier in dem sündigen Berlin unter den Kindern der Welt kaum den Mund auf. Aber jetzt sprach sie sanft, beinahe leidend: »Bismarck war kein Christ ...«

»Diese Christliebe...«, sagte halblaut Frau von Luch, die sich nie über die sieben Kinder ihrer Verwandten beruhigen konnte.

»So sind die Krackows! Sie: Küche, Kinder und Kirche! Er: Kornboden, Kartoffeln und Kreistag ... Und dann reden sie über Bismarck! Herr ... vergib ihnen!«

»Mann ... sei doch nicht so grob!«

»Laß mich, Mieke! Nee – ich danke!« Der alte Möllenbeck, der weitbekannte ostelbische Agrarier, verstärkte noch seine heisere Donnerstimme. »Gottes Gnade war, daß er uns den Mann gab – jawoll: gab, meine Gnädigste! – Genommen haben wir ihn uns selber vor der Zeit, ehe ihn unser Herrgott abrief! Ins Handwerk gepfuscht haben wir damit dem lieben Gott! Huckepack möchte ich den Kanzler wieder hierher zurücktragen, wenn ich nur könnte!«

»Was meinen Sie, Mettenberg?«

Der deutsch-wallonische Graf vom Niederrhein, der wie ein brünetter, schöner Pariser Lebemann aussah und dabei getreu seinem Stammbaum voll Trierer Domherren und zweier geistlicher Kurfürsten Kölns ein kindlich frommer Sohn des Heiligen Vaters war, zeigte in seinem Achselzucken die späte Rache Roms für den Kulturkampf.

» Qui mange du Pape, en meurt

»Na – da könnt ich als Frankfurter auch ein Lied davon singen!« sagte der Hausherr.

»Und ich als Weise?«

»... und ich als Hessen-Kasselerin!«

Überall quollen die Blasen heimlicher Feindschaft gegen den gestürzten Riesen aus dem Sumpf.

Herr von Spängler wurde ungeduldig. Er sagte halblaut zu seiner Frau: »Nur keine Politik auf leeren Magen! Können wir denn noch nicht zu Tisch? Herr Nimis fehlt noch? ... Diese Leute aus anderen Kreisen fügen sich doch furchtbar schwer ein ... Na ... da kommt er übrigens gerade quer über die Straße ...«

Klothilde von Spängler schaute durch das Fenster.

»Der große schlanke Herr mit dem blonden Schnurrhart? Du – der sieht aber gar nicht schlecht aus!«

»Der Flügelmann vom Ersten Garderegiment sieht auch nicht schlecht aus!« versetzte der beleibte Geheimrat ärgerlich. Er wurde eifersüchtig wie ein Türke, sobald ein Mann unter siebzig Jahren die Aufmerksamkeit seiner Frau erregte.

»Nicht unsere Klasse ... Etwas Außerdeutsches! Weißt du, wofür ich ihn taxiert hätte, Alfons? Attaché bei der amerikanischen Gesandtschaft oder so was ...«

»Das heißt: nie gedient. Schultern vornüber. Zylinder zu weit nach hinten! Hände bis zu den Ellbogen in den Taschen. Siebenmeilenschritte ...«

»Dicki – du hast ihn eingeladen – nicht ich! Also schimpfe nicht auf deine Gäste!«

»Na ja – und das sind erst die Vorfreuden! Wir werden noch mit ganz anderen Kostgängern unseres Herrgotts zu tun haben, wenn wir erst mal Gesandte spielen!«

»Jedenfalls hat er mir Blumen mitgebracht! Da wickelt er sie eben vor dem Haustor aus dem Seidenpapier! Der einzige von euch allen, der daran gedacht hat! Sehr manierlich von ihm!«

Frau Klothilde war eine verwöhnte Schönheit. Aber sie lächelte doch freudig überrascht über die Pracht der Orchideen und nestelte sich mit der linken Hand das phantastische Gefieder an den viereckigen Ausschnitt des roten Samtes um ihre weiße Brust, während sich Leo Nimis über die kühle, weiße Glätte ihrer Rechten beugte.

»Ich komme als Eindringling in Ihren Kreis, gnädige Frau ...«

»Um so besser! Wir kennen uns hier alle schon auswendig. Wer nicht Jurist oder Offizier ist, ist bei uns ein weißer Rabe ... Angerichtet? Schön!«

Sie wandte sich vom Diener zu den Gästen und klatschte lachend in die Hände: »Laufschritt – marsch! – Damit die Schildkrötensuppe nicht kalt wird! Mir ist's wurst ... Aber Dicki versteht darin keinen Spaß. Er hat gestern 'ne halbe Stunde im Auswärtigen Amt über dem Menü gebrütet ...«

»... während Bismarck gestürzt wurde?« knurrte der General von Pritzig.

»Ach, Onkel! Nur nicht zu viel Bismarck während des Essens! Bitte! Bitte! Als Hausfrau! Man hört es so schon vom Morgen bis zum Abend! ... Hier bin ich, Durchlaucht!«

Sie legte die rosigen linken Fingerspitzen in den Arm des kurzsichtigen, sie suchenden Prinzen Yburg vom Auswärtigen Amt und ließ sich von ihm zu Tisch führen. Leo Nimis saß auf ihrer anderen Seite neben dem Tinettchen.

Die kleine Gräfin vom Niederrhein mit dem kecken Stupsnäschen in dem runden, immer erstaunten Kindergesicht lebte mit dem blauen Blut um sie her, als hätten schon ihre Windeln die eingestickte neunzackige Krone getragen. Es klang ganz unwahrscheinlich, so als leuchte aus plötzlich aufgerissenem Tor das Maschinenstampfen der Gegenwart in das Lachen und Stimmengewirr der Erben vergangener Jahrhunderte rund um den Tisch, während sie fragte: »Kommen Sie nicht bald wieder einmal zu Papa nach Lütthahn, Herr Nimis?«

»In allernächster Zeit wahrscheinlich, Frau Gräfin – falls Herr Geheimrat Buschbeck sich an dem großen Unternehmen beteiligt, das mich dann zur Organisierung auf mindestens ein Jahr nach Rußland führt!«

»Ach – tun Sie's doch mir zuliebe und besuchen Sie Papa! Es tut ihm immer so gut, wenn Sie in Geschäften zu ihm kommen. Er hat Sie so gern!«

Leo Nimis lachte.

»Davon habe ich noch nichts gemerkt! Wir streiten uns immer fürchterlich!«

»Mit wem streitet sich Papa nicht? In letzter Zeit tobt er in seinem Kontor herum, daß sich die abgebrühtesten Herren bei uns nur noch mit Zittern und Zagen hineingetrauen!«

»Ich begebe mich immer mit großer Gemütsruhe in die Höhle des Löwen, Frau Gräfin!«

»Ja eben! Sie sind der einzige, der sich nicht vor Papa fürchtet! Darum fürchtet sich Papa vor Ihnen!«

»Gut, daß Sie mir das sagen! Da muß er mir das nächste Mal noch ganz andere Verträge unterschreiben!«

»Meine Schwester Ottonie hat gehört, wie sein Sekretär Rödicke gesagt hat: ›Heut hat August Manschetten‹ – sie nennen ihn doch unter sich immer August –, ›heute kommt Herr Nimis!‹«

»Sehr schmeichelhaft!«

»... und Papa ist immer guter Laune, wenn Sie wieder weg sind.«

»Dann hat er mich also wahrscheinlich hereingelegt.«

»Er pfeift dann furchtbar falsch den Düppeler Sturmmarsch ... Sie wissen: Piefke lief – Piefke lief – Piefke lief die Stiefel schief! Das ist die einzige Melodie, die er behalten kann – und hat zu Ottonie gesagt: ›Gott sei Dank, daß man's mal mit 'nem vernünftigen Menschen zu tun hat! Das ist hier ja alles Bosel! Ottonie hat's nicht leicht mit ihm ...«

»Ist Ihr Fräulein Schwester immer noch bei ihm im Haus?«

»Ja. Wo sollt sie sonst sein?«

»Nun – sie könnte ja auch heiraten!«

»Ach, Ottonie! ... Da müßte ...«

Die kleine Gräfin schüttelte den Puppenkopf. Es arbeitete auf ihrem neugierigen Kindergesicht, als ob sie noch etwas hinzusetzen wollte. Aber sie schwieg. Leo Nimis fragte nach einer Weile: »Leben Sie in Berlin, Frau Gräfin?«

»O Gott! In der gräßlichen Stadt!«

Sie hatte sich, als man sich zu Tisch setzte, rasch, aber offensichtlich mit niedergeschlagenen Augen bekreuzigt, ebenso wie ihr Mann drüben. Sie fuhr fort: »Wir passen nicht hierher, Lothar und ich. Wir sind längst aus dem Kultusministerium weg. Wir haben den alten Mettenbergschen Stammsitz Abdinghof wieder ganz ausgebaut. Da leben mir nun schon Jahr und Tag. Wir fahren übermorgen wieder zu uns heim. Wir haben nächste Woche in Abdinghof das ganze Schloß voll Gäste!«

»Zur Jagd?«

»O nein! Es ist ein viel feierlicherer Anlaß! Der jüngste Bruder Lothars feiert seine Primiz. Er bringt bei uns in der Schloßkapelle sein erstes heiliges Meßopfer dar. Der Bischof, der Onkel meines Mannes, kommt selbst. Alle Brüder meines Mannes mit ihren Frauen. Eine Unmasse Verwandte und Freunde. Ach, wir sind so stolz und froh!«

»Das glaub ich!« sagte Leo Nimis, der nicht ganz genau wußte, was eigentlich eine Primiz war.

»Aber es ist natürlich alle Hände voll zu tun! Ein Glück, daß die Ottonie da ist!«

»Ist Ihr Fräulein Schwester denn auch so strenggläubig?«

»Die Ottonie! Ach, gar nicht! Sie ist knapp noch Katholikin, weil sie eben so getauft und erzogen ist. Nein, sie kommt nur herüber, um mir zu helfen. Ich hab ja noch den Jungen daheim. Ich weiß ja sonst nicht, wo mir der Kopf steht!«

»Ihr sollt nicht ewig von dem Fürsten reden!« sagte daneben mit krauser Stirn Frau Klothilde.

»Ich spreche nicht von dem alten Fürsten Bismarck, Gnädigste, sondern von dem neuen Herzog von Lauenburg.«

»Ob man ihn künftig ›Hoheit‹ anredet?«

»Ausgeschlossen!« versetzte Prinz Yburg, der Reichsunmittelbare. Der große blonde Generalstäbler von Pommerich ließ Messer und Gabel ruhen und meinte mit der Ehrlichkeit des Soldaten: »Ach was! Bismarck bleibt Bismarck! Da könnt ihr ihn nennen, wie ihr wollt!«

Auf Frau Klothildes Antlitz brauten unwirsche Wölkchen. Das unsichtbare Hünenhaupt über ihrer Tafel störte sie. Sie wandte sich rasch und liebenswürdig an ihren Nachbarn zur Rechten: »Sie kommen doch eben aus der weiten Welt, Herr Nimis! Erzählen Sie uns: Wie sieht es da draußen aus?«

»Auf der weiten Welt, gnädige Frau, ist ein ungeheures Staunen!«

»Ach! Worüber?«

»... daß ein Volk so blind ist und sich ohne Not und vor der Zeit von dem Kostbarsten trennt, was es besitzt!«

»Mein Gott ... Fangen Sie auch schon wieder an?«

»Mir hat noch vor wenigen Tagen in Warschau ein Engländer gesagt: Wenn wir Briten Bismarck hätten, so hätten wir seit zwanzig Jahren die ganze Welt in der Tasche! Und ihr halftert ihn ab wie einen ausgedienten Postgaul! Warum trennt sich ein Herrscher von einem Diener, wie ihn seit Jahrhunderten kein Fürst auf der Welt hatte? Niemand auf dem ganzen Erdenrund begreift das.«

»Ja, Gott – das ist nun Ihre Meinung, Verehrtester ...«

»Ich spreche nicht meine eigenen, unmaßgeblichen Anschauungen aus«, fügte Leo Nimis in dem gespannten, ihn umgebenden Schweigen. »Ich wiederhole nur, was ich in der Welt hörte!«

»Und wieviel kennen Sie, wenn ich fragen darf, von der Welt, Herr Nimis?«

»Ich habe sie dreimal umsegelt, Exzellenz, und alle fünf Erdteile besucht!«

»Ach so ... Verzeihung!«

»Bitte ... fahren Sie fort! Ist ja ganz interessant!«

»Finde ich gar nicht!« sagte unten düster der Geheimrat von Spängler zu seinem Oheim, dem Grafen Louis Ferdinand von Pritzig.

»Wieso, Alfons?«

»Der Kerl kolkt mir zuviel!«

»Na ... den anderen aber scheint's nicht!«

»Die Welt wird es nie glauben.« sagte Leo Nimis, »daß ein solcher Mann gehen kann, wenn sein Volk wirklich hinter ihm steht. Ich habe gedacht, wie ich neulich hier ankam, ich würde Berlin vor Aufregung wie einen wimmelnden Ameisenhaufen finden. Statt dessen gingen alle Leute seelenruhig ihres Wegs.«

»Gott sei Dank herrscht noch Zucht und Ordnung in Preußen!«

»... und wo sich ein Eindruck zeigte, da hab ich, wenn ich ehrlich sein darf, mehr Haß und Schadenfreude und Neugier und Erleichterung gefunden als Teilnahme. Die Leute sehen alles nur vom Gesichtskreis alles möglichen inneren Haders aus an, den ich, in Amerika geboren und bei meinem vielfachen Aufenthalt im Ausland, nicht so beurteilen kann ...«

»Das Hemd ist uns auch näher als der Rock!«

»Aber da fehlt eben das Verständnis für die Tragweite in der Welt draußen. Draußen fragen sie sich in allen Sprachen: Sind denn die Deutschen verrückt geworden?«

»Also der Mensch ist gemeingefährlich«, verkündete drüben Herr von Spängler dumpf seinem Oheim Pritzig. »Dabei schau' nur, bitte, wie andächtig ihm die Klothilde zuhört.«

»Was hätten wir denn nun schließlich als Untertanen tun können, Herr Nimis?«

»Das weiß ich nicht so genau. Aber ich kann mir lebhaft vorstellen, wie etwa London an solchen Tagen ausgeschaut hätte. Trafalgarplatz bis zu den Löwen an der Nelsonsäule hinauf schwarz von Menschen. Ein tausendstimmiges Grunzen für jeden Würdenträger, der vorbeifährt. Volksredner auf Karren und Fässern! Die Straßenaraber alle Viertelstunden mit neuen Ausgaben der Zeitungen. Ladies, die auf die Männer aus dem Volk einreden und sie beschwören ...«

»Kurz: Revolution!« sprach drüben halblaut Herr von Spängler, »... und so 'was ißt hier meinen Kaviar!«

»Still, Alfons!«

»... und nur allem Westminster! Der Sprecher in seiner weißen Perücke. Die Minister wie die armen Sünder vorne vor ihm auf den Bänken. Das Haus so voll, daß viele stehen müssen. Ja, und – ich kann mir nicht helfen – eine einzige Stimme: Wir geben unsern Derby-Crack nicht aus dem Stall! Er ist alt! Aber er ist unbesiegbar! Er schlägt immer noch alle Youngsters. Er gewinnt uns jedes Jahr wieder das blaue Band unter den Völkern ...«

»Da hast du mir ja ein nettes Kuckucksei ins Nest gelegt, lieber Onkel!«

»Alfons ... Warum bist du denn nur so wütend?«

».. wenn dieser höhere Koofmich, oder was er ist, die ganze Tafelrunde beherrscht! Tu mir den einzigen Gefallen und sieh dir mal die Klothilde an! .. Solche Leute haben, wenn man sie schon heranzieht, wenigstens bescheiden zu sein!«

»Ich sehe den Grund nicht ein!« sprach der alte Graf Pritzig lächelnd.

»Reizend! Wirklich reizend: Meine bessere Hälfte! Sitzt neben ihm. Muckst nicht. Rodet keinen Ton. Aber sie läßt das Auge nicht von seinen Lippen!«

»Alfons ... Alfons ... Eifersucht ist eine Leidenschaft ...«

»Ach was! Dazu steht mir der gute Mann lange nicht hoch genug.«

»... die mit Eifer sucht, was Leiden schafft!«

»In England hätte es bei alt und jung und hoch und niedrig geheißen: › Bismarck for ever‹«, sagte Leo Nimis. »Gar nicht aus Begeisterung – so sind die Leute nicht –, sondern einfach, weil jeder Mann auf der Straße sich drüben gesagt hatte: Der Mann ist uns draußen so unermeßlich nützlich, daß wir nichts annähernd für uns so Nützliches an seine Stelle setzen können! ... Ich muß als Bürgerlicher und Kaufmann in meiner Ausdrucksweise reden: Bismarck – das wäre drüben gewesen wie ein riesiger Außenposten, den ein Welthandelshaus stehen hat. Solch einen Außenposten streicht man nicht! Fehlt er im Hauptbuch, so muß man ihn bei der Bilanz aus dem eigenen Kapital decken. Und dies Anfangskapital ist bei einer so jungen Firma wie das Deutsche Reich noch nicht groß. Es besteht – so würde es auch mir gehen, wenn ich mich einmal selbständig mache – in dem Vertrauen, das die alten Häuser einem Anfänger entgegenbringen. Dies Vertrauen hieß aber eben Bismarck. Mit seiner Entfernung löschen wir ja unseren eigenen Kredit. Ich verstehe das nicht.«

»Ich auch nicht«, sprach Herr von Spängler. »Ich finde, meine Frau könnte jetzt endlich ...«

»Alfons, du machst dich lächerlich!«

»Ich sehe draußen nur eine Leere«, sagte Leo Nimis. »Die müssen wir wieder füllen! Aber womit?«

»Klothilde ist doch sonst so gewandt! Sie könnte spielend eine allgemeine Unterhaltung wieder in Gang bringen. I wo! Denkt nicht dran! Hockt da und verliert keine Silbe, wie in der Kirche ...«

»Alfons ... du wirst noch dein Monokel zerdrücken, wenn du so wütend die Denkerstirn runzelst ...«

»Ach ... sei du mal an die Fünfzig ...«

»Das war ich schon lange«, sagte Exzellenz von Pritzig gleichmütig.

»Nee – lasse mich ausreden – und sie, meine bessere Hälfte, dreiundzwanzig. Ich muß auf sie aufpassen. Ich muß! Ich muß! Schau nur: Er macht wirklich Eindruck auf sie.«

»Gott! Sie ist froh, daß sie mal was anderes hört!«

»Dabei hab ich ihr noch empfohlen, liebenswürdig gegen diesen Kunden zu sein! Ich schmeiß den Kerl einfach hinaus!«

»Ja! Blamier dich nur!«

»Bismarck ist schon bei Lebzeiten eine sagenhafte Persönlichkeit geworden!« sagte Leo Nimis. »Ich komme eben aus fernen Ländern. Sie kennen ihn alle. Alle ...«

»Es ist, als ob wir eine heilige Eiche fällten!« schrie Herr von Möllenbeck, der Ostpreuße. »Prost, Herr Nimis!«

»Ich habe bei meinen Geschäften auf der Welt immer gefunden, daß es eine Hauptsache ist, welchen Schatten ein Mann hinter sich wirft, wo er geht und steht. Bisher war der Schatten riesig – viel größer, als wir selber ...«

»... und künftig laufen wir als Schlemihle ohne Schatten herum!« ergänzte der alte Möllenbeck.

Der Geheimrat von Spängler hielt nicht mehr an sich. Er räusperte sich gereizt: »Ganz im Gegenteil, mein sehr verehrter Herr Nimis! Bis heute hatte unsere Politik etwas Ländliches, wenn ich so sagen darf. Es stak ein Stück Plattland darin. Sie war wasserscheu. Jetzt erst kommt ein großer Zug ins Ganze. Wir steuern auf das weite Meer hinaus! Das hat der alte Herr im Sachsenwald nie so recht gewagt!«

»Er hatte wohl seine Gründe!«

»Und welche, wenn ich gehorsamst fragen darf?«

»... vielleicht ist es noch ein bißchen zu früh. Ich habe manchmal draußen das Gefühl, als ob wir noch nicht so fertig ausgebacken sind wie die anderen, älteren Staaten. Wir müßten vielleicht noch eine Weile warten ...«

»... und als Veilchen im verborgenen blühen! Nee – da sind Sie ganz auf dem Holzweg, Verehrtester ...«

»Kann sein, Herr Geheimrat!«

»Umgekehrt: Wir müssen raus, unter die Leute. Es kennt uns ja keiner! ... Wir haben wenigstens einen Anfang gemacht in den letzten anderthalb Jahren! Unsere Salutgeschütze haben vor Kronstadt gedonnert. Athen war beflaggt ... Stockholm ... Kopenhagen ... Die italienische Nacht in Venedig war großartig. Die Illumination am Goldenen Horn einfach feenhaft. Ich war dabei. Den Papst haben wir besucht. In England rissen die Paraden und Feste uns zu Ehren gar nicht ab ... Die Reede von Spithead war ein paar Meilen weit ein einziger Geschützrouch ...«

»Ich lob mir meine Wruken und das alte Preußen«, brummte der Ostelbier Möllenbeck und schüttelte besorgt den weißen Kopf.

Leo Nimis hatte einen Augenblick geschwiegen. Dann sagte er ruhig: »Ja ... es muß aber doch ausgesprochen werden: Wenn ich als einfacher Durchschnittsmensch meine Geschäfte auf der Welt mit solchem Lärm betriebe, dann hätte ich bald meine Kundschaft verloren!«

Graf Pritzig nickte nachdenklich und schwieg. Ein Engel flog durch den Saal.

Herr von Spängler zischelte erbost: »Kann ihm denn meine Frau nicht mal übers Maul fahren? Eine Dame kann doch eher ... Nee! Denkt nicht daran! Sitzt mit großen Augen und offenem Mund, als wäre das ein Evangelium, was der junge Mann aus dem Kontor da auskramt!«

»Ich glaube, du solltest ihn ernster nehmen!« sagte Graf Pritzig. »Ich beobachte ihn seit seinen Jugendjahren. Er scheint mir immer mehr einer der kommenden Männer!«

»Anspruchsvoll genug dazu tritt der Knabe auf!«

»Er lenkt ja selbst die Aufmerksamkeit von sich ab. Er redet ja gar nicht mehr zu den anderen!«

»Dafür unterhält er sich um so angelegentlicher halblaut mit meiner Frau! Sieh doch nur!«

»Ich sehe gar nichts Besonderes!«

»Sie verstehen sich offenbar sogar glänzend! Da! Die Klothilde schüttelt sich vor Lachen ... Verfluchter Kerl!«

»Ja – soll sie denn weinen?«

»Mit der kleinen Mettenberg spricht er nur noch das Nötigste! Der gute Yburg an Klothildes grüner Seite macht auch schon ein ganz geistesabwesendes Gesicht ...«

»Das fällt ihm nicht schwer!«

»Ich möchte nur wissen, was ihr dieser Jüngling aus der Fremde eigentlich erzählt, daß sie so amüsiert zuhört.«

»Klothilde ist gegen alle Leute liebenswürdig. Dazu haben wir sie erzogen!«

Herr von Spängler stach durch das funkelnde Einglas mit einem Dolchblick zu den beiden hinüber. Eine Blutwelle von unterdrücktem Grimm färbte die schon stark von den Jahren gerunzelte Haut der Wangenpolster.

»Mir fällt dieser Naturbursche auf die Nerven«, brummte er in finsterem Groll.

»Schäme dich doch! Ein alter Kerl wie du und noch so eifersüchtig.«

»Eben weil ich schon ein alter Esel bin ...«

Wenn der Geheime Legationsrat von Spängler-Colosimo schlechter Laune war, pflegte er sich zu überlegen, daß seine um ein Vierteljahrhundert jüngere Frau ebensogut seine Tochter sein könne. Als er Anno siebzig bei St. Privat geblutet, hatte sie die Welt noch beinahe aus der Vogelschau des Steckkissens aus angesehen. Diese Zwangsvorstellung beschäftigte ihn bei dem Käse und den Selleriestauden. Er saß schweigsam und in sich gekehrt. Sein wohlgenährtes, für die üppige Gestalt zu kleines Gesicht war von Kummer verdüstert. Verwünschter Bursche da drüben ... Das steckte einem nun die Beine unter den Tisch ... Und die Thilde lachte ...

Um ihn bewegten sich die Lippen. Die Luft zitterte von der elektrischen Entladung des achtzehnten März. Bismarcks Sturz ... Wie viele der Großen und Kleinen von den Seinen würden wohl mit ihm gehen? Wieviel Sessel würden frei? Die Vordermänner fielen wie die Kegel, wenn die Kugel den König traf. Es gab Luft für ehrgeizige, noch verdammt jugendliche Geheimräte, wie sich da einer wohlwollend von seiner Nachbarin, der Frau von Pommerich, seine Birne schälen ließ. Herrn von Spänglers Züge eines Feinschmeckers des Lebens glätteten sich im Spiel der Zukunftsbilder zu der gewohnten genüßlichen Würde. Ein Glück, wer sich jetzt nicht durch unnütze Anhänglichkeit an S. D. kompromittiert hatte ...

Ferne Paläste mit dem deutschen Reichsadler am Portal gaukelten vor seinen Augen. Carlton-House und die Rue Ayas Pascha, der Isaakplatz und der Paseo della Castellana, das Kapitol und die Metternichgasse. Nicht gleich. Man konnte nicht auf Anhieb Kaiserlicher Botschafter werden. Erst einmal Gesandter. Irgendwo da draußen. Die Welt war weit. Aber die Zeit kam, wo er, Herr von Spängler, der Mitwelt und der Nachwelt zeigte, wie ein moderner Mensch Weltgeschichte machte! Nur immer nachrücken ... Nee ... springen ... springen. Mit einem Satz über die Minderbegabten hinweg. Herrgott ja, der Onkel Pritzig hatte recht wie immer: Es war ja lächerlich, sich über den Ellenreiter drüben aufzuregen ...

Herr Doktor von Spängler schaute versöhnlicher hinüber zu seiner Frau und ihrem Nachbarn. Der Mensch hatte einen tadellosen Frack an. Auch sonst ... Merkwürdig, das alles lernten diese Leute viel zu schnell. Er suchte Klothilde mit den Augen, um sich mit ihr über den Aufbruch zu verständigen. Aber sie bemerkte ihn nicht! Sie plauderte wieder verbindlich mit Leo Nimis. Er lachte.

»Ich fürchte wirklich, ich bin bei Ihnen als Hecht in den Karpfenteich gekommen, gnädige Frau!«

»Ach – wir sind alle viel zu einseitig hier! Bringen Sie in die Gesellschaft nur ordentlich Leben hinein! Ich bin Ihnen als Hausfrau dankbar!«

Er lachte wieder: »Insofern ist's ja gut, daß wir uns wieder einmal getroffen haben!«

»Wieder?«

»Nun ja, gnädige Frau! Wir kennen uns doch schon seit sieben Jahren!«

»Ach!«

»Ich war ja selbst dabei, wie Sie damals in Göttingen auf der Cimbern-Kneipe erschienen und Ihren jetzigen Gatten kennenlernten!«

»Ja, an den Alfons entsinne ich mich da natürlich! Da war ich noch ein Kalb von fünfzehn! Er führte mich herum und machte dumme Witze und zeigte mir die Bilder an den Wänden. Aber daß Sie da auch waren ...«

»Dann war ich fünf Jahre später einen ganzen Abend in Ihrer Gesellschaft im Hause Ihrer Verwandten drüben am Königsplatz.«

»So?«

»... es war der Abend, wo Sie sich verlobten!«

»Na. Da war ich so aufgeregt, daß sich alles um mich drehte! Das können Sie sich denken. Ich hab wirklich keine Ahnung mehr, wer da alles da war ...«

»Vor kaum einem Jahr habe ich Sie zuletzt bei Exzellenz von Pritzig gesehen. Sie kamen eben auf einen Sprung von einem Wohltätigkeitstee, als ich mich verabschiedet Sie gaben mir noch zwischen Tür und Angel die linke Hand, weil Sie die rechte voll Pakete hatten!«

Klothilde von Spängler schaute ihn aus ihren glänzenden haselnußfarbenen Augen an, schüttelte lachend den rotbraunen Kopf und gestand unbefangen: »Ich hab wirklich keinen Schimmer!«

Leo Nimis schwieg. Er hatte plötzlich etwas Entgeistertes in seinem Wesen. Dann versetzte er gelassen:

»... 's ist ja natürlich! Und ebenso natürlich werden Sie in ein paar Tagen auch unser heutiges Gespräch vergessen haben und mich wieder nicht erkennen, falls wir uns noch einmal im Leben begegnen! Sie sind eine Weltdame. Sie haben ja viel zu viel im Kopf!«

Sie legte ganz erstaunt die brillantenfunkelnden weißen Finger ineinander. »Das dacht ich gar nicht, daß ein Mann wie Sie, der so viel in der Welt herumkommt, Zeit hat, empfindlich zu sein, Herr Nimis!«

»Es ist ja auch Unsinn! Sie haben ganz recht, gnädige Frau!«

Herr von Spängler hatte drüben mit einem ungeduldigen Muskelzucken die Glasscherbe aus seiner Augenhöhle in die hohle Hand fallen lassen. Das Blinken machte seine Frau auf seinen mahnenden Blick aufmerksam. Sie erhob sich lächelnd und nahm den Arm des Prinzen Yburg. Leo Nimis folgte ihr mit seiner Tischdame und fragte die kleine Gräfin unvermittelt: »Hat Ihr Fräulein Schwester Ottonie eigentlich immer noch die Gedanken von allgemeiner Gleichheit und Weltverbesserung im Kopf?«

»Toller wie je!«

»Eigentlich hat sie sehr recht!«

»Um Gottes willen, sagen Sie ihr das nicht, wenn Sie in Geschäften zu Papa kommen! Sonst wird sie noch verdrehter!«

»Du mußt mich entschuldigen, mein teurer Alfons!« sprach eine Viertelstunde später im Nebensaal Graf Louis Ferdinand von Pritzig und stellte die leere Mokkatasse in einen Palmenkübel.

»Gib mir die Hand, daß ich mich heimlich drücke? Nee – Onkel, gilt nich ... Thilde ... hilf! Halt die Tür zu!«

»Kinder, ich bin siebzig und die Tante nicht viel jünger! So alte Leute gehören in die Klappe! Was, Mamachen?«

»Und Sie wollen auch schon gehen, Herr Nimis?«

»Ich muß morgen früh verreisen, gnädige Frau!«

Sie gab ihm heiter die Hand und sagte, während er sich förmlich über diese beugte, harmlos: »Und seien Sie mir nicht böse! Wie viele Leute mögen Sie wohl schon auf Ihren Weltfahrten vergessen haben, ohne daß Sie es ahnen!«

Draußen in der Voßstraße verabschiedete sich Exzellenz von Pritzig von Leo Nimis und half der alten Gräfin in den Wagen, zog sich, daheim angekommen, eine bequeme Hausjacke an und fand, als er wieder m den Salon trat, seine Frau, die langgestielte Lorgnette vor den Augen, beim Durchblättern der Abendzeitungen, Nicht unter dem Strich – da las sie nur die Familienanzeigen in der »Kreuz-Zeitung« –, sondern die Männerdinge, den großen und kleinen Krieg der Politik. Sie interessierte sich immer noch für die Staatsgeschäfte, auch nachdem ihr Louis Ferdinand, nach ihrer Überzeugung nächst Bismarck der klügste Mann in Preußen, die Hand davon gelassen, und versetze auch jetzt, mit einem mißbilligenden Schütteln des grauen, immer noch klassisch geformten Hauptes: »Nein ... dieser Bötticher! ...« und gleich hinterher, in einem fraulichen Gedankensprung: »Weißt du, der Herr Nimis ist ja ein recht netter Mensch! Aber er wirkt doch ein bißchen störend. Ich glaube, das war der allgemeine Eindruck heute abend!«

»Den Eindruck haben wir immer, wenn etwas Neues nicht mindestens zweihundert Jahre alt ist!« sagte ihr Mann.

»Er paßt nicht recht in unsere Kreise!«

»Uff!« Graf Pritzig warf sich in seinen Lehnstuhl. »Gib mir doch mal den Aschenbecher rüber, Gesche! Danke! Wir fragen so lange, ob die Welt zu uns paßt, Liebste, bis wir uns einmal werden fragen müssen, ob wir noch in die Welt passen! Ja ... ja! Die Zeit wird kommen!«

Die Gräfin saß nach ihrer Gewohnheit steil aufrecht da und sann eine Weile nach. Dann hub sie unvermittelt an: »Jedenfalls werd ich mal morgen der Klothilde meine Meinung sagen ...«

»Weswegen denn?«

»Louis ...«

»Ja ...«

»Schau mich mal an ...«

»Bitte!«

»Sag offen: hast du denn wirklich nichts gemerkt?«

Der alte Herr war erschrocken. Er schwieg. Die Gräfin fuhr scharf fort: »Sie soll nicht so unvorsichtig sein ...«

»Die Thilde?«

»Wenn man sie so genau kennt wie ich ... übrigens war ich nicht der einzige Mensch, dem es auffiel ...«

»Nee – der dicke Alfons war auch wütend ...«

»... daß dein Schützling, Louis – dieser Herr Nimis, entschieden Eindruck auf sie machte! ... So etwas geht nicht ...«

»Freilich geht es nicht, zum Donnerwetter ...«

»... mehr Eindruck, als ich jemals sonst bei ihr bemerkt habe ...«

»Das ist ja eine schöne Geschichte ...«

»Das kommt von deinen abenteuerlichen Bekanntschaften, Louis!«

»Nun bin ich wieder daran schuld ...«

»... und ich darf die Sache wieder ins Lot bringen. Sei unbesorgt, ich greife da energisch ein! Ein Segen, daß dieser Herr Nimis nicht in Berlin und überhaupt meistens im Ausland wohnt. Er kommt ihr nicht wieder über den Weg! Dafür steh ich gut!« –

Leo Nimis lief inzwischen ziellos durch den nächtigen Tiergarten. Die Finsternis, die Einsamkeit, die kalte, windbewegte Luft war ein Labsal seiner fiebernden, halb lachenden, halb weinenden Seele. Es war so dunkel, daß man kaum die eigene Stiefelspitze vor sich sah. Er stieß an eine Bank am Wege und tastete sich an ihr hin und setzte sich darauf. Es war still und schwarz umher wie in einem Keller. Nur der leise Fall der Nebeltropfen. Das Rascheln einer Ratte im faulen Laub. Der laute, wilde Hammerschlag des eigenen Herzens und in der Ferne ein unbestimmtes Brausen – Lust und Leid von Millionen. Er vergrub fröstelnd die Hände in den Manteltaschen, streckte die Beine lang aus und starrte vor sich hin. Sprang wieder auf. Ging weiter, wieder nach der Stadt zu, und stand plötzlich wieder im Schatten einer Säule vor dem Haus in der Voßstraße. Dort waren, zu ebener Erde, immer noch die Fenster hell. Gestalten bewegten sich in den lichtschimmernden Räumen. Eine Reihe von Euipagen und Droschken hielt vor dem Tor. Durch das traten jetzt Gäste. Er hörte die Kinderstimme der kleinen Gräfin Mettenberg aus dem Kohlenrevier zu ein paar Herren: »Wir müssen übermorgen in Abdinghof sein und das Schloß für die Primiz meines Schwagers schmücken. Solche religiösen Feste sind doch immer die schönsten!«

Leo Nimis ging unbemerkt auf der anderen Seite der Straße weiter. Auf dem Wilhelmplatz waren Menschen. Bürger kamen vom Bier. Damen in Kopftüchern sprachen von der Oper. Junge Kaufleute und Studenten bummelten. Lachende Familien trennten sich vor dem Café Kaiserhof. Überall seelenruhige, zufriedene Gesichter. Behagen des Alltags. Eine Nacht wie jede.

Dicht nebenan lag der Palast, in dem der eiserne Kanzler durch ein Menschenalter gewohnt, stumm und dunkel. Von den Menschen verlassen und vergessen. Leo Nimis schaute schweigend in die schwarzen Fensterwölbungen. Bismarck war weg. Der Nachtwind blies leere Strohhalme über den Hof seines bisherigen Hauses.


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