Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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II.

Unter den Linden in Berlin zuckte der Tamdourstock der aufziehenden Schloßwache, wehten die roten Roßschweife über den Schwalbennestern der Hoboisten, klingelten die Glöckchen am Schellenbaum, schmetterte die Trompete, donnerte die Pauke. Steinerne Rüstungen und Helme standen auf den Zinnen des Zeughauses vor dem blaßblauen Herbsthimmel, eroberte französische Geschütze unten im Kastanienwäldchen. Der Alte Fritz ritt ragend auf seinem ehernen Roß, umschildert von seinen Generalen. Der Große Kurfürst lenkte drüben auf der Brücke seinen Bronzehengst über gefesselte Feinde. In weißem Marmor gleißten die Kämpfergruppen auf der Schloßbrücke. Vier Pferde bäumten sich aus dem Brandenburger Tor vor dem Streitwagen der Viktoria. Aus hoher, aus dem Erz feindlicher Kanonen gegossener Säule breitete weithin die Siegesgöttin die goldenen Flügel vor dem Herbstbunt des Tiergartens. Die Denkmäler von Feldherren überschatteten den Schloßplatz. Ein Wehen von Siegen war über der breiten Triumphstraße der Linden, der Ruhm ritt unsichtbar vor den weißbebuschten Helmen der heranmarschierenden Gardegrenadiere im Sparta an der Spree.

Zwei Paukenschläge bollerten in das Rasseln der Kalbsfelle. Das schrille Zwitschern der Pikkolos lockte. Der Knauf des Stabshoboisten flog flimmernd in die Luft. Die Musik setzte vor dem Alten Palais brausend und feierlich ein: »Heil dir im Siegerkranz ...«

Hunderte von Menschen standen da. Sie hatten schon seit einer Stunde gewartet. Die Herren schwenkten die Hüte, die Damen wehten mit Tüchern, die Kinder hoben die Hände. Begeisterte Augen schauten zu dem linken Eckfenster zur ebenen Erde empor.

Ein greiser General, ein General in Purpur, war hinter der hohen Scheibe erschienen. Kaiser Wilhelm der Siegreiche stand jetzt, 1887, im einundneunzigsten Lebensjahr. Menschen und Völker waren hinter ihm verweht. Die einst an seiner Seite in den Freiheitskriegen gestritten, die ihm im tollen Jahr 48 zur Flucht nach England verholfen, die hinter ihm in Eichenlaub und Jubel als Sieger von Düppel, Königgrätz und Sedan durch das Fahnenmeer von Berlin eingezogen, sie blickten fast alle schon von oben, von der großen Armee her auf die neue Reichshauptstadt nieder. Vor seinem weißen Haupte war die Zeit stillgestanden, als sei er ihr Gleichnis und ihr Ausdruck. Es war nicht der einzelne, gebeugte Greis im offenen, blauen Überrock mit den scharlachroten Generalsklappen, dem weißen Stehkragen und der unvorschriftsmäßigen weißen Weste darunter, den man dort sah – es war das alte Preußen selber, das auf sein Volk hinabschaute. Seine Augen waren freundlich und blau und immer noch klar. Eine unbeirrbare, hellsehende Nüchternheit umfloß das farbige Bild des alten Herrn im dunklen Rahmen des Fensters. Ein ausgeglichenes, nicht von Sieg, sondern von Pflicht erfülltes Menschenleben leuchtete im letzten Gipfelrot.

»... fühl in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein ...«

Die Menge sang zur Musik mit. »Zurück!« brüllten die berittenen Schutzleute und lenkten die Pferdebrust gegen die heranschwellende Begeisterungsflut. »Zurück!«

»Heil, Kaiser, dir«

Drüben verschwand der alte General gleich einer zeitlosen, mahnenden Vision. Kaiser Wilhelm hatte sich, wie alltäglich um die Mittagsstunde, seinem Volke gezeigt und sich wieder zurückgezogen. Das Eckfenster war leer. »Auseinandergehen!« heulten die Schutzleute in Tönen, die man nur in Berlin und sonst nirgend auf der gesitteten Erde vernahm. Die Menge, in der alle deutschen Mundarten sich freudig mischten, strömte gehorsam wie eine Herde Schafe in schwarzem Gerinnsel über die Linden und den Opernplatz davon und löste sich im herbstlich übersonnten Alltag auf.

Der Geheime Legationsrat Doktor Alfons von Spängler-Colosimo hatte in Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten Herrn die Elfenbeinglatze entblößt und das bandlose Einglas mit einem geübten Ruck der Stirnmuskeln in die hohle rechte Hand und von da in die Westentasche fallen lassen. Jetzt ging sein von einem kurzgeschnittenen Schnurrbärtchen überblühtes Lebemannsgesicht aus der feierlichen Erstarrung wieder in die Blasiertheit eines vergnüglichen älteren Junggesellen über, der für seine fünfundvierzig Jahre recht gut erhalten war. Die dicken Backen waren rot getönt, die kleinen Augen hell; um die Flügel der zu kleinen Nase schäkerte ein genüßlicher Zug. Er hatte unauffällig im Gedränge seinen englischen Überzieher zurückgeschlagen, damit man bei dieser Gelegenheit das schwarzweiße Bändchen des Eisernen Kreuzes im Knopfloch des Rockes sah. Jetzt knüpfte er ihn wieder zu und sagte behaglich: »Uff! Das Volk hat ja was Rührendes...«

Klothilde von Pritzig antwortete ihm nicht. Sie stand in ihrer tannenschlank aufgeschossenen zwanzigjährigen Länge, beinahe so groß wie er selber, vor ihm, so daß er nur ihren weißen mädchenhaften Nacken und das aus ihm hoch emporfrisierte Haar sah. In Herbstwolken und Sonnenschein am Himmel wechselten Licht und Schatten auf diesem reichen, rötlichen Braun in kupfergoldigen warmen Tönen unter dem braunsamtnen, leicht umgekrempten Topfhut mit hellblauer Straußenfeder. Sie trug nach der Mode der Damenwelt im Herbst des Jahres 1887 eine enge, braunsamtne Jacke, deren glatt anliegender Schnitt straff die jugendlich herbe Büste heraushob, und einen weiten, links in Falten gerafften Rock von gleicher Farbe.

»Herrlich – unser Volk! Besonders par distance... Ohne Sie, gnädiges Fräulein, hätten mich keine zehn Pferde in dies frohe Gewühl gebracht.«

Das Fräulein von Pritzig drehte sich um. Ihr lebhaftes Gesicht war jung und schön. Die haselnußbraunen Augen überglänzten seine weiße Hautfarbe, die ein paar kaum sichtbare Sommersprossen um Stirn und Nase wie launische Schönheitspflästerchen sprenkelten.

»Wenn das das größte Opfer ist, das Sie dem Vaterland bringen, Herr von Spängler, dann möchte ich wissen, was Sie den ganzen Tag in der Wilhelmstraße treiben!«

Die spärlichen Augenbrauen des jugendlichen Geheimrates runzelten sich tadelnd zur Stirn. Die Falten kräuselten sich bis in den Ansatz der Glatze unter der Zylinderkrempe. Mit der Wilhelmstraße spaßte man nicht. Dort waltete immer noch Bismarck. War die hohe Schule europäischer Staatskunst.

»S. D., meine Gnädigste, scheint mit meiner bescheidenen Tätigkeit zufrieden! Vielleicht sind Sie es, trotz Ihrer hohen Ansprüche, dann auch!«

»Mein Onkel sagt oft – natürlich ohne etwa Sie zu meinen! –, bei manchen Leuten in der Wilhelmstraße müßte man an den lieben Gott schreiben und um die verlorengegangene Gebrauchsanweisung bitten!«

»Hähä! Graf Pritzig war leider immer eine bedenklich rötlich angelaufene Exzellenz!«

»... und man sähe dort den Wald vor lauter Stammbäumen nicht! Und besonders nicht vor jungen Stammbäumen!«

»Bei allem Respekt für die eigenartige Persönlichkeit Ihres Onkels – S. D, nannte ihn selbst einmal in einer grimmigen Mischung von Unwillen und Anerkennung einen hinterpommerschen Jakobiner –, aber Graf Pritzig hat sich seit zwei Jahren, seit seinem letzten Zusammenstoß mit dem Fürsten, von den Staatsgeschäften zurückgezogen. Er lebt im Ruhestand ...«

»Er sagt, es hätte sich seitdem nichts geändert! Es änderte sich bei uns überhaupt nichts, und das sei eben das Unglück!«

Sie waren aus dem Gedränge heraus und betraten den breiten Bürgersteig der Linden. Sie lächelten sich verbindlich an. Ein Weltmann und eine junge Dame von Welt. Aber ihre Worte stichelten wie spielende Florettspitzen.

»Schönen Dank. Herr Geheimrat, daß Sie mir zuliebe Ihren Abscheu gegen das Volk überwunden und mich beschützt haben. Es war sehr nett, daß wir uns zufällig vor dem Palais trafen!«

»Es macht mir diesen Tag zum Fest, gnädiges Fräulein.«

»Aber nun schleunigst Adieu! Sie kennen doch Berlin.«

»Nur zwei Worte!«

»Meine Tante steht Kopf, wenn sie hört, daß wir am hellen Mittag unter den Linden hundert Schritte miteinander gegangen sind! Ich selber finde es ja nicht so furchtbar ...«

Herr von Spängler verzog schmerzlich das dicke, von alten Göttinger Schmissen weißgeäderte, linke Wangenpolster. Er witterte da wieder eine boshafte Andeutung: ein Vierteljahrhundert Unterschied der Jahre. Er seit fünf Jahren über das Schwabenalter hinaus. Sie vor kurzem noch ein kurzröckiger Backfisch. Jetzt noch kaum zwanzig. Er galt schon halbwegs für ungefährlich? Gut! Er wappnete sich mit Geheimratswürde und sagte: »Exzellenz von Pritzig meint, es ändert sich nichts, meine Gnädigste? Es wird sich alles in Preußen ändern, und das in kürzester Frist! Es wird nicht nur unser alter Herr, der Kaiser Wilhelm, der Zeit seinen Zoll entrichten, sondern auch...«

Er dämpfte plötzlich geheimnisvoll seine Stimme: »Man kann mit Ihnen vernünftiger reden, mein gnädiges Fräulein, als sonst mit einer jungen Dame. Das weiß ich. Denn ich weiß, daß Sie seit Jahr und Tag als Nichte gleichzeitig die Privatsekretärin, sozusagen der politische Famulus Seiner Exzellenz sind ...«

»Ja.«

» ... ein untrügliches Anzeichen dafür, daß bei Ihnen die Natur bei aller liebevollen Vorsorge für das Äußere auch die Gaben des Geistes nicht vernachlässigt hat!«

»Diese Abschweifungen wollen wir lieber lassen, Herr Geheimrat.«

Das Einglas hatte längst wieder seinen Stammplatz in dem satten und selbstbewußten Gesichtsrund des Geheimrats von Spängler eingenommen. Er funkelte damit das junge Mädchen durchdringend an. Das kleine Auge hinter der Scheibe war starr, wirkte hypnotisierend, wie das einer Schlange.

»Mein gnädiges Fräulein. Sie sind als die Sekretärin des Grafen Pritzig schon eine kleine Macht in Preußen und, wenn Sie sich den richtigen Mann aussuchen, einmal eine große ...«

»Ach, bitte – bleiben Sie doch bei der Sache, Herr Geheimrat!«

»Sie haben natürlich von Ihrem Oheim den Befehl zu schweigen. Aber Sie wissen so gut wie ich und jeder Eingeweihte, daß auch die Tage des Kronprinzen Friedrich gezählt sind. Ich halte sonst viel, sehr viel von den Engländern. Ich bin, wie jeder vernünftige Mensch, ein tüchtiges Stück von einem Anglomanen. Aber mit Mackenzie geh' ich nicht mit. Der schottische Medizinmann lügt uns die Hucke voll«

Der Geheimrat neigte sich vertrauensvoll zu der frischen, windgeröteten Wange des jungen Mädchens. Seine Stimme knarrte vielsagend, als ahme sie das geschäftige Raunen der Wilhelmstraße nach, die gedämpften Tritte auf weichen Teppichen, die leise sich schließenden Hintertüren.

»Unter uns: Man hört seit ein paar Tagen das Schlimmste aus Toblach! Die Gerüchte schwirren wie die Fledermäuse durch Berlin. Und falls sich diese Hiobsposten bestätigen ... ich fürchte: über kurz oder lang ... nee ... über kurz ... sehr kurz ... solche fatalen Halsgeschichten verlaufen oft höllisch schnell ... wissen Sie, was dann geschieht, Fräulein von Pritzig?«

Herr von Spängler schüttelte mit ungewohntem Ernst das weltkundige Haupt. Er konnte, wenn er wollte, bis zur Täuschung bedeutsam aussehen.

»Dann fällt mit dem Kronprinzen ein ganzes Zeitalter im öffentlichen Leben Deutschlands unter den Tisch, meine Gnädigste! Unmittelbar hinter den Greisen des alten Kaisers folgen die Altersgenossen des Prinzen Wilhelm, die jungen Männer. Zu Prinz Wilhelm und seinen Leuten zähle auch ich mich! Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ich bin ja allerdings schon ein Vierziger. Lockenpracht mäßig. Geb ich zu. Aber sonst ... Also ich rechne mich eben noch zur Jugend ... glatt zur Jugend ... gelte auch allgemein als dazugehörig ... Vorzug des Junggesellen ... ist ja ... sonst kein Vorzug ... I bewahre ... möchte es je eher, je lieber ändern.«

Herr von Spängler hüstelte, lächelte in einer verführerischen und vertraulichen Art, sammelte Sonne in den Augen und auf den Lippen.

»Ich hab mich immer zur jungen Generation gehalten ... war immer ein Freund der Jugend ... war auch jedes Jahr in Göttingen bei den jungen Leuten vom Korps ... Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen dort bei unserer ersten Begegnung im Leben die Bilder auf der Korpskneipe zeigte? Damals, vor fünf Jahren, waren Sie noch ein Backfisch ... der viel versprach, aber bedeutend mehr gehalten hat.«

»Gott, Herr Geheimrat, muß denn immer geschäkert sein?«

»Ne – ne ... Pardon ... Also: Ich habe dadurch viele Verbindungen mit der kommenden Generation ... bis hoch hinauf ... sehr hoch ... ganz hoch ... Wirklich!«

»Ich weiß! Ich hab bei meinem Onkel oft genug davon reden hören!«

»Ich stehe sozusagen auf der Ausgangsschwelle des kommenden Geschlechts. Ich gehöre zu ihm und habe doch vor ihm die Reife und die Erfahrung voraus, die die jungen Männer, die sich von heute auf morgen plötzlich vor die höchsten Aufgaben gestellt sehen, unmöglich schon besitzen können! Es wird ohne Leute wie mich nicht gehen! Man wird nach mir schreien, gnädiges Fräulein, positiv schreien! Ich blühe jetzt noch wie ein Veilchen im verborgenen. Aber ich sehe manche, die in Bälde eine große Zukunft hinter sich haben werden. Ich habe sie, in aller Bescheidenheit, vor mir! Wie der Dichter singt: Nun muß sich alles, alles wenden!«

»Und Bismarck, denken Sie, raucht seine lange Pfeife und sieht zu?«

»Bismarck ... Bismarck ... immer Bismarck ... Es macht einen schon ganz nervös, dies ewige: Bismarck! Ich gebe zu, es war eine Hundearbeit, Deutschland zu einen. Aber es nun weiter zu regieren, ist keine Kunst bei der beispiellosen und dauernden Gunst der Verhältnisse! Bismarck ist doch nun einmal ein Hinterpommer – ein genialer Hinterpommer ... ein übermenschlicher Hinterpommer, aber eben ein Hinterpommer! Wir müssen aus Hinterpommern heraus! Aus dieser göttlichen Einseitigkeit heraus! Hinaus in die Welt! Übers Meer! Es wird ein Sturm durch alle Winkel pfeifen. Man wird Steuerleute für das Reichsschiff brauchen, wenn die neue Zeit kommt! Na ... und da ... unter anderen ... ein gesetzter Jüngling wie ich ... bestens empfohlen ... Geld ... na ... spielt bekanntlich bei mir Gott sei Dank keine Rolle ... Verbindungen mit Gott und der Welt ... Nur ein einziges Manko ...«

»Ach ...«

»Wundert Sie das?«

»Ich dachte, Sie wären ganz vollkommen, Herr Geheimrat.«

»Noch nicht. Es ist ein Fehlton in dieser Zukunftsmusik: Où est la femme? ... Où est ma femme? Da hab ich leider ein wenig in der Zerstreutheit den Anschluß verfehlt. Aber immerhin: einen leidlich jugendlichen Eindruck mache ich ja noch ...«

»Ach ja ... es geht!«

Der Geheime Legationsrat Dr. von Spängler schaute sinnend die Linden entlang und sagte dann beinahe geräuschlos, ganz beiläufig, zwischen den verwöhnten Lippen: »Jedenfalls ist in absehbarer Zeit meine künftige Frau Botschafterin und Exzellenz.«

Das Fräulein von Pritzig antwortete darauf mit keiner Silbe. Sie machte ein für ihre Jahre sehr ernstes Gesicht. Dann schrak sie zusammen:

»Da kommt nun glücklich mein Onkel die Linden lang! Ich wußt's ja: um die Zeit macht er immer nach dem Frühstück bei Habel seinen Mittagsbummel.«

»Eine Frage ...«

»Meine Tante kriegt Krämpfe, wenn er ihr erzählt, daß ich mit Ihnen hier ...«

»Die Frau Gräfin ist doch heute abend zu Hause?«

»Jeden Dienstag und Freitag.«

»Glauben Sie, daß es als besonders störend empfunden würde, wenn auch ich mich heute einstellte?«

»Im Gegenteil. Ein alter Hausfreund wie Sie!«

»Würden Sie dann die Gnade haben, mich Ihrer Exzellenz zu Füßen zu legen und mich für heute abend ganz gehorsamst anzumelden?«

Das junge Mädchen blieb anscheinend unbefangen gegenüber seiner etwas altfränkisch öligen, dem schon absterbenden Alt-Potsdamer Ton angepaßten Geschmeidigkeit.

»Ich werd's der Tante bestellen«, sagte sie. »Adieu!«

Der Geheimrat von Spängler lüftete den Kahlkopf, drückte ehrerbietig ihre Fingerspitzen, machte eine merkwürdig verwirrte Verbeugung und starrte ihr geistesabwesend nach, während sie lang und leicht und schlank, mit flüchtigen Schritten und wehender Feder am Hut, ihrem Oheim entgegenging.

Der Staatsminister a. D. und Oberpräsident a. D. Dr. Graf von Pritzig-Zackenzin war nun schon über die Mitte der Sechzig hinaus. Nicht nur das Schläfenhaar, sondern auch der lange Schnurrbart unter der gebieterischen Hakennase ergänzten jetzt in reinem Weiß das Schwarz des Zylinders zu den preußischen Farben. Die hohe, straffe Gestalt gab kaum merklich im gebeugten Nacken der Last der Jahre nach. Er mußte aus seinem Weg über die Linden fortwährend grüßen und Grüße erwidern. Jedermann kannte hier, in diesem steingewordenen Preußen der Ministerien und Reichsämter, den hinterpommerschen Granden, den langjährigen Mitarbeiter Bismarcks, den selbst für seine Freunde unberechenbaren Außenseiter des Herrenhauses. Die Sonne des Erfolges eines an Ehre und Arbeit reichen Lebens lag über seiner hohen aristokratischen Erscheinung. Und doch kam dem jungen Mädchen, als er sie erkannte und ihr mit seinem eigentümlich in sich ruhenden Lächeln zuwinkte, ein neuliches Wort des Geheimrats von Spängler in den Sinn: Ihr Oheim, meine Gnädigste, ist trotz seines Glanzes und seiner Stellung ein kluger Melancholiker. Er ist ein Preuße. Aber er denkt zu viel über Preußen nach ...

»Na, Thildchen! ... Du siehst ja heute ausnahmsweise mal ganz hübsch aus!«

Fräulein von Plitzig hing sich kameradschaftlich in den Arm der Exzellenz und hielt mit ihm gleichen Schritt und sah dabei tiefsinnig auf ihre schmalen Stiefelspitzen.

»Warum denn so stumm, Thilde?«

»Du machst ja auch so ein stilles Gesicht. Onkel!«

»Gott – ich, Kind! Um mich ist Herbststimmung. Es will Abend werden in Preußen. Die alten Herren gehen schlafen. Bald komm ich selber an die Reihe.«

»Ach – rede doch nicht so, Onkel. Du bist ja noch gar nicht so alt. Und auf das Alter allein kommt es doch nicht an. Der Kronprinz Friedrich ist zum Beispiel viel jünger als du, und du bist gesund, und er ist krank.«

»Sehr krank! Er wird nicht lange herrschen, wenn er überhaupt noch ...«

»Wirklich?«

»... und dann kommen mit einem Schlag die Jungen. Unvorbereitet und unerfahren treten sie vor die große Aufgabe. Was wissen sie von dem Schweren, das hinter uns liegt? Ihnen scheint alles ein Spiel. Darum bin ich so ernst, wenn ich an die lachenden Erben denke!«

Exzellenz von Pritzig lachte auf einmal selbst. Das verjüngte sein strenges, kluges Gesicht. Etwas von dem spöttischen und übermütigen Junker seiner Jugend kam dabei zum Vorschein. Er zupfte seine schöne Nichte an dem rosigen Ohrläppchen.

»Was weißt denn du von dem Schnickschnack, den man Weltgeschichte nennt? Tanze, Mariellchen, und sei vergnügt! Und nun geh nach Hause und bestelle der Tante, ich würde den Doktor Leo Nimis bitten, heute abend zu uns zu kommen. Ich erwiderte jetzt eben seinen gestrigen Besuch im Hotel.«

Er ging, allein geblieben, quer über die Linden nach dem Centralhotel. Um die Portierloge der großen Fremden-Karawanserei summte es wie im Bienenstock.

»Patentanwalt Nimis aus Amerika? Nicht mehr zu Hause, Herr...«

»Schade ...«

»Er hatte den ganzen Morgen Konferenzen! Jetzt ist er mit einem Bankdirektor nach der Burgstraße gefahren.«

»Und wann kommt er wieder?«

»Kann's nicht sagen! Da sind schon eine Anzahl Herren, die auf ihn warten. Es fragen fortwährend Leute nach ihm. So geht's bei Herrn Nimis den ganzen Tag!«

Graf Pritzig schrieb ein paar Zeilen auf seine Karte, in denen er Leo Nimis für diesen Abend zu sich einlud. Das Schlüsselfach, in das der Portier die Botschaft schob, war gestopft voll von Briefen und Drucksachen. Die Postwertzeichen auf ihnen hatten den Grundstock zu einer Briefmarkensammlung abgeben können. Sie stammten aus allen Teilen der Welt. Eben kam wieder eine Kabeldepesche dazu. Exzellenz von Pritzig sah das, nickte beifällig, wie immer, wenn er irgendwo im Leben Arbeit und Antrieb und Erfolg sah, und kehrte nach den Linden zurück.

Da verwehte dieser Hauch der segelnden, handelnden Kaufmannswelt draußen aus dem Meere. Da war wieder der Sand der Mark. Der Pflug des Bauern. Das Schwert der Hohenzollern.

Zwischen herbeiströmenden Menschen, an der herausgetretenen Brandenburger Torwache vorbei wandelte da langsam, bedächtig das menschgewordene deutsche Heer der großen Kriege. Ein greiser, greiser General. So uralt, daß er schon beinahe zeitlos erschien. Auf dem verwitterten Kopf eines einsamen, alten Adlers hob sich in verwaschenem, fahlem Braun die deutlich erkennbare Perücke vom Rot des Generalkragens. Der Generalfeldmarschall Graf Moltke ging weiter. Eine Stille war hinter ihm. Die Weltgeschichte sprach in dem Schweigen um den großen Schweiger.

Exzellenz von Pritzig hatte ehrerbietig gegrüßt. Er bog in die Wilhelmstraße ein. Da waren die wohlbekannten Ministerien, die altvertrauten Gesichter. Der dicke Wirkliche Geheimrat von Kanzleben rollte das Weiß der Augen im Ledergelb des leberleidenden, rechthaberischen Bureaukratengesichts und prustete und mischte sich, die schwarze Mappe unter dem Arm, mit dem Sacktuch die Brillengläser.

»Wo ich so spät hin will. Pritzig? Vortrag bei Durchlaucht! ... Uff! Man müßte die Nerven von zehn Ackergäulen haben! Vor vier Uhr morgens komm ich überhaupt nicht mehr in die Baba.«

Und zwanzig Schritte weiter der rheinische Landtagsabgeordnete Freiherr Josef Maria von Nievenich, der Besitzer des Weinguts Kloster Himmelspforte, mit seinem Freund, dem Domherrn von Nippers aus Köln, der in bürgerlichem Reisekleid war und nur beim Lüften des Hutes die Tonsur sehen ließ.

»Ich bin eigens nach Berlin. Exzellenz, um mich beim Fürsten zu beschweren! Meine Tochter, das Lolottche, ist im Kloster erzogen. Mein Schwiegersohn, der Hugo Gratiadei, ist päpstlicher Kämmerer. Er hat das Recht, Pilgerzüge nach Rom zu führen. Er hat das Recht, sich von dort den Pater Aloysius als Gast mitzubringen, und wenn der hochwürdige Herr zehnmal zur Societas Jesu gehört ... Ich lasse mir da keine Eingriffe der Obrigkeit gefallen ...«

An der Ecke der Voßstraße der dicke Möllenbeck, der weitbekannte ostelbische Magnat.

»Ich erzwinge mir dieser Tage Audienz bei Bismarck! Ich muß ihn scharf gegen die Polen machen. Ich werd ihm sagen: der Polacke ist wie ein Kaninchen. Er vermehrt sich wie ein Kaninchen. Er wühlt wie ein Kaninchen. Er ist auch immer das Karnickel, das anfängt ...«

Und im Menschengewimmel des Potsdamer Platzes der alte Hofgeneral von Triplitz, eisgrau, klein, dünne Stimme, scharf wie gehacktes Eisen.

»Man muß unbedingt den Kanzler dazu bringen, daß schneidiger regiert wird! Zucht und Ordnung gehen vor die Säue! Festere Faust ...! Was? Der Gehorsam soll dem Untertanen im Herzen sitzen und nich im Hintern? Ja – das sind so Ihre modernen Junkerideen, mein lieber Pritzig, wie Sie das nennen. Die kennt man. Na – ich habe dieser Tage Gelegenheit, zum Ohr des Fürsten Bismarck durchzudringen ...«

Bismarck ... immer wieder Bismarck ... ein Gefühl hier überall: Bismarck war in der Nähe ... Ein Riesenhaupt unter dem Helm der Halberstädter Kürassiere wuchs aus dem Wetterwinkel der Wilhelmstraße, überschattete Berlin, Deutschland, Europa. Dämmerte in undeutlichen, mächtigen Umrissen hinaus bis zu den letzten Enden der Welt.

Graf Pritzig schritt allein nach dem Tiergarten weiter. Unter dem schon schütteren, herbstbunten Laubdach der alten Eichen war es menschenleer und still. Er liebte diesen täglichen Umweg zu seiner Stadtwohnung drüben jenseits der Spree. Er ging in Gedanken, den scharfgeschnittenen, resignierten weißen Kopf gesenkt. Das alte Preußen ging mit ihm. Das neue Reich. Die Sorge mancher langen, dunklen Nächte, die das Alter schlaflos ließ, die Sorge, die beim Frühlicht verschwand und beim nächsten Mal doch zwischen Mitternacht und Morgen wiederkehrte: Was wird einmal aus Deutschland ohne Bismarck? ... Wie wird Preußen ohne Bismarck Deutschland führen? Preußen – mein altes Preußen ... Du Land meiner Väter ... Du meine Liebe und mein Schmerz ... So stark und so blind. Deine Feinde siehst du – deine Freunde nicht ... die Schlachten gewinnst du, die Herzen gewinnst du nicht. Die Festungen nimmst du ein, die Menschen nimmst du nicht ein. Es gibt nicht nur Säbel, sondern auch Seelen. Beseele den Säbel, Preußen ... sonst wird er stumpf. Vermenschliche die Macht, Preußen ... Du bist ein Geist und nicht nur Gehorsam und Gebot. Preußen ... führe die deutschen Geister! ... Bismarcks Geist ... bleibe unter uns!

Auf dem Reitweg vor ihm dröhnte dumpfer, vielfacher Hufschlag. Das Prusten trabender Pferde. Pallaschgeklirr. Das Schwefelgelb einer weißen Kürassiermütze leuchtete über den kahlen Sträuchern auf, wie es außer dem Todesreiter von Mars-la-Tour in Halberstadt nur einer in Deutschland trug.

Der Reichskanzler Fürst Bismarck zog wie eine gewaltige Erscheinung an dem einsamen Fußgänger vorbei, hoch zu Roß, im bequemen Sitz des sattelgewohnten Landedelmanns und doch ein preußischer General, auf mächtigem, knochigem Tier, Begleiter und Stabsordonnanzen hinter sich her. Dräuend buschten sich die dichten weißen Brauen über der altmodischen Hornbrille vor großen feuchtverklärten Augen. Die sahen unten den Gruß des Grafen Pritzig. Ein Lächeln des Erkennens auf den Zügen, deren eherne, wie Lava erstarrte Willenskraft seltsam von dem zarten, rosigen Ton der Haut abstach. Die sachliche Frage eines hinterpommerschen Junkers zum andern im Vorbeireiten:

»Was macht die Hühnerjagd, Pritzig?«

»Danke. Durchlaucht! Es geht!«

Der Kanzler war weg, und Louis Ferdinand von Pritzig schaute ihm nach. Lange Zeit. In tiefen Gedanken. Dann ging er weiter.

Er betrat seine Wohnung am Königsplatz. Sie war gesucht altmodisch. Nichts von den Maurermeisterorgien von Gips und Stuck der Gründerzeit. Verblichene, blauseidene Schloßmöbel in dem niederen, weißgetäfelten Boudoir, in dem er nach Tisch mit seiner Frau zusammensaß. Die Gräfin hielt sich immer noch steif aufrecht, ohne die Rückenlehne zu benutzen, wie sie es in ihrer Jugend gelernt. Sie hatte immer noch die schlanke, hohe Gestalt und unter dem weißen Scheitel des ausdrucksvollen Kopfes die kühle Vornehmheit der großen Dame. Sie sagte mit einem Lieblingsausdruck ihrer vierzigjährigen, glücklichen Ehe:

»Louis ... ich verstehe dich einfach nicht ...«

»Wieder einmal?«

»Merkst du denn nicht, was los ist? Alle Leute reden ja schon davon!«

»Wenn ich mich noch darum kümmern wollte, was die Leute sagen ...«, versetzte Exzellenz von Pritzig mit großer Gemütsruhe.

»Klothilde kam in einer Aufregung nach Hause ... Sie hat mit mir gesprochen. Sie besitzt doch schließlich so gut wie nichts ...«

»Außer sich selber!«

»Sie ist doch schließlich nur unsere Nichte, nicht unsere Tochter. Allzuviel kannst du ihr nicht mitgeben ...«

»Da Zackenzin Majorat ist ...«

»Andererseits ... so glänzend die Partie auch auf den ersten Blick erscheint: Herr von Spängler ist fünfundzwanzig Jahre älter!«

»Das haben wir uns ja alles schon oft gesagt, Gesinchen!«

»... aber nun ist es so weit! Klothilde ist überzeugt, daß er heute abend um sie anhält!«

»Wir wollen es abwarten ...«

»Dann ist es zu spät!«

»Lasse sie doch selbst entscheiden!«

»Das sagst du immer! Nach dir sollen alle Leute selbst entscheiden. Es ist wirklich wahr, was sie immer behaupten: In dir steckt ein heimlicher Sansculotte. Das Kind ist zwanzig Jahre alt. Es will unsern Rat!«

»Wenn es ihn will, ist es ein Zeichen, daß es ihn nicht mehr braucht. Dann ist es schon entschieden.«

»Und wir sollen einfach die Hände dazu in den Schoß legen? Wir vertreten doch Elternstelle. Wir haben die Verantwortung.«

»Mach es zusammen mit Klothilde, wie du es verstehst, Gesche!«

»So? Und du schaust zu, Louis? Warum sprichst du kein Machtwort?«

Louis Ferdinand von Pritzig war aufgestanden und schaute durch das Fenster hinaus in die graue Weite der Wolken und des Wassers der Spree und der Wipfel des Waldes und des Wehens des Windes über den Wellen und des Wiegens der Weiden und des Wanderns der Welt.

»Ich bin zu alt geworden, Gesche«, sagte er. »Ich geb keinen Rat mehr!«

»Du bist immer noch im kleinen Finger klüger als die andern!«

»Manchmal friert's mich in Deutschland, so wie jetzt im Herbst. Ich hoff', es sind meine Jahre ...«

»Das ist deine sonderbare Melancholie ... Alle anderen Menschen sind zufrieden und dankbar ...«

»Zu zufrieden sind sie, Gesche, und nicht dankbar! Es wächst ein neues Geschlecht heran, und dem neuen Geschlecht fehlt etwas an der Seele. Vielleicht haben wir's ihm zu leicht gemacht!«

»Louis ... alter Unglücksrabe!«

»Was die Leutchen im Jahr achtundvierzig zu viel hatten, das haben wir jetzt zu wenig. Es geht alles nach außen. Nichts mehr von der heiligen Dummheit. Durch Unschuld wissend ... der reine Tor ...«

»Wir wollen froh sein ...«

»Und Klothilde gehört zu dem neuen Geschlecht, das das lästige Gemüt ausgeschaltet hat. Vielleicht hat sie recht. Vielleicht muß das bei uns so kommen, damit wir endlich vernünftig werden. Aber dann muß auch jeder selber wissen, was er tut ...«

»Also du hast jedenfalls nichts dagegen?«

»Ich habe nichts dafür und nichts dagegen. Ich passe!«

»Louis! Du machst es einem nicht immer leicht!«

»Deswegen hab ich es ja auch im Leben zu nichts Rechtem gebracht.«

»Du?«

Die Gräfin war entsetzt.

»Du!« wiederholte sie ungläubig, schaute um sich, griff nach dem Gothaer Grafenkalender und hielt ihm die aufgeschlagene Seite »Pritzig« hin. Da war allerdings Louis Ferdinand von Pritzig als Graf, Exzellenz, Staatsminister, Majoratsherr, Mitglied des Herrenhauses, Ritter des Hohen Ordens vom Schwarzen Adler, Johanniter, Major der Reserve und vieles andere verzeichnet. »Louis ... Was willst du denn eigentlich noch?«

»Jedenfalls freu ich mich, diesen Herbst in Zackenzin noch tüchtig Hühner zu schießen! Bismarck hat's mir vorhin auch geraten«. sagte Herr von Pritzig einfach und ging.

Am Abend, kurz ehe die Gäste kamen, traf er seine Frau in neuer Aufregung.

»Louis! Ich bin starr!«

»Das wirst du nie verlernen, Gesche!«

»Die Klothilde hat es natürlich in ihrer Aufregung vergessen. Eben bestellt sie mir erst, daß du diesen Herrn Nimis zu heute abend eingeladen hast!«

»Nun ja! Der Sohn meines alten Freundes!«

»Louis ... Du weißt, die Bekanntschaft mit diesen achtundvierziger Unholden war mir immer gräßlich ...«

»Soweit die Unholde noch leben, sind es rührende Gespenster. Die Zeit hat ihnen und mir und uns allen schon lange die Giftzähne ausgezogen ...«

»Ich habe dich immer gebeten, diesen Verkehr zu lassen. Aber du bist ja darin von einem Eigensinn ...«

Graf Pritzig legte behutsam seiner Frau die Hand auf den weißen Scheitel und streichelte sie sanft. Es war eine zärtliche und nachsichtige und dabei ritterlich schützende Bewegung wie die eines Bräutigams.

»Ich habe mich mein Leben lang nicht davor gefürchtet, daß Menschen anstecken können«, sagte er. »Ich habe die Menschen immer und überall gesucht. Hatten es andere nur auch getan in unserer preußischen Enge. Also lasse deinen alten Mann, wie er nun einmal ist, und lasse mir mein Leben, wie ich es verstanden und gelebt habe. Es ist ja schließlich kein ganz unnützes Leben gewesen. Und lasse mir vor allem meine Jugend. Glaube mir: sie war auch die Jugend Deutschlands. Sie kehrt nicht wieder!«

»Aber dieser Herr Nimis ...«

»Ich hab ihn ja seit fünf Jahren, damals in Göttingen, nicht wieder gesehen. Er war ja die letzten drei Jahre wieder drüben in Amerika und Australien. Oder Südafrika. Ich weiß selbst nicht. Hab keine Angst, er wird schon nicht mit einem Heckerhut und Demokratenvollbart bei uns antreten!«

»Er ist ja schon da!«

»Wieso?«

»Er ist zu früh gekommen. Du hast ihm keine Stunde genannt. Ich war noch nicht fertig. Ich konnte ihn nicht empfangen. Ich habe ihn nur einen Augenblick im Vorzimmer durch den Türspalt gesehen, wie er ablegte. Sehr manierlich. In Frack und weißer Binde. Blumen in der Hand. Langer blonder Schnurrbart. Groß und schlank. Äußerlich ganz Gentleman.«

»Na also! Wo ist er denn jetzt?«

»Er sitzt im blauen Salon. Ich habe Klothilde hineingeschickt, um ihm Gesellschaft zu leisten!«

»Die ist doch jetzt nicht in der Verfassung ...«

»Ach, das Kind hat eine Selbstbeherrschung ... Merkwürdig für ihre jungen Jahre! Der merkst du nichts an!«

»Na, jedenfalls werde ich sie jetzt befreien!«

»Ja. tu's! Du weißt, was heute auf dem Spiel steht!'

»Hat sich Klothilde denn jetzt entschlossen?«

»Sie kann es sich doch nicht im letzten Augenblick an den Taillenhaken abzählen. Ich könnt ihr nur sagen: Ich bin unbedingt dafür und dein Onkel wenigstens nicht dagegen ...«

»Sie ist ein Kind der Welt. Mög ihr die Welt geben, was sie sucht!«

Exzellenz von Pritzig ging hinüber in das Boudoir. Die Teppiche dämpften seinen elastischen Schritt. Er trat unbemerkt über die Schwelle. Im Spiegel sah er drüben seine Nichte. Er kannte sie seit fünf Jahren Tag um Tag, und es fiel ihm doch auf, wie schön sie heute war. Sie hatte ihr möglichstes getan. Sie trug nach der Mode des kommenden Winters von 1887 eine enganliegende, ausgeschnittene Panzertaille, die in lachsfarbener Seide leuchtete ebenso wie der Rock, und darüber gebauschtes Tüllgeriesel. Rosen hielten die gerafften Falten bis zu den Schultern zusammen, die schlank und weiß aus dem Duft der Stoffe emporblühten. Ebenso weiß, nur mit ein paar launisch verteilten Sommersprossen, war ihr schmales, lebendiges Antlitz. Kleine, rötlichbraune Stirnlöckchen kräuselten sich eigenwillig über den dicht beisammenstehenden dunklen Brauen, die die jungen, haselnußhellglänzenden Augen mit einem vorzeitigen Ernst überschatteten. In den warmen Wellen des Haares prangte eine große, lebende Rose.

»Sie als Amerikaner, Herr Nimis ...«

»Ich bin Reichsdeutscher seit 1871 gnädiges Fräulein.«

Das Fräulein von Pritzig saß lässig auf dem Sofa, die Hände im Schoß, und machte mit etwas leerer Miene Konversation, liebenswürdig und weltgewandt, so wie sie von der gestrengen Tante erzogen war, und der alte Herr dachte sich beim Anblick dieser herben und doch schon lebensreifen Jugend: Sind wir nicht kalt geworden in Deutschland, seit unser Sehnen sich erfüllt hat? Und seltsam: Um so kälter, je jünger wir sind? Ich Weißkopf weniger als dort das blonde junge Haar? ...

»Aber Ihre Familie. Herr Nimis, stammt doch aus Amerika?«

»Meine gute Mutter ist voriges Jahr dort gestorben. Mein Vater ist eben jetzt für immer nach Deutschland zurückgekehrt und richtet sich in unserem alten Familienhaus in Darmstadt ein.«

Leo Nimis hatte eine ungezwungene Sicherheit im Verkehr. Ein großer, schlanker, fünfundzwanzigjähriger Weltmann, saß er da, in dem frischen Blau der Augen noch etwas vom großen, guten Jungen, aber doch keiner, der mit sich spaßen ließ. Und Exzellenz von Pritzig sagte sich: Endlich mal ein junger Mensch, dem der Abendfrack sozusagen selbstverständlich auf dem Leibe sitzt! Aber was hat er denn zum Kuckuck so verzückt hinter der Klothilde herzustarren?

Das junge Mädchen hatte sich in ihrer schmächtigen, biegsamen Länge erhoben, um die herausbrennende Petroleumlampe aus dem Sockel am Fenster zurückzuschrauben. Leo Nimis verfolgte sie, während sie durch das Zimmer schritt, mit einem innigen Lächeln, aus dem die helle Freude an ihrem Anblick strahlte. Es schien fast wie eine Andacht vor so viel Liebreiz. Er versank förmlich in das geheimnisvolle Flüstern der schweren, mattschimmernden Seidenfalten um ihren elastischen, wiegenden Gang, trank die Bewegung ihres schlanken, weißen Arms mit den Augen, kam dann aus seiner Weltverlorenheit zu sich und zwang sich zu einer schuldbewußt trockenen und gleichgültigen Miene, während sie die Schleppe mit einer flüchtigen Handbewegung zurückstrich und sich wieder setzte, und lachte offenherzig: »Ich bin, scheint's, viel zu früh gekommen, gnädiges Fräulein? Aber vorgestern kam ich pünktlich zu einem Souper. Es war nicht recht. Gestern kam ich unpünktlich zu einem Diner. Es war wieder nicht recht. Es ist nicht leicht in Berlin ...«

»Oh – das macht ja nichts«, sagte das Fräulein von Pritzig zerstreut, schaute auf die Wanduhr, wurde rot und blaß, atmete schwer und stand dann erleichtert auf, als ihr Oheim eintrat und dem Gast beide Hände entgegenstreckte.

»Na, da bist du ja, Junge! Vor der Zeit? Um so besser! Da haben wir noch ein Viertelstündchen unter uns Pfarrerstöchtern? Komm nur da zu mir herein! ... Setz dich! Zigarre? ... Mir scheint, du bist ein schlemmerhaftes Kraut gewohnt! Du machst schon den Eindruck eines angehenden jungen Millionärs ...«

»So weit sind wir noch lange nicht!«

»Aber auf dem besten Wege, was? Laß dich mal anschauen! ... Na ja, in deinem Alter sind fünf Jahre eine schöne Zeit. Damals in Göttingen warst du noch mehr ein Boy ...«

»So wie ein junger Hund, den man ins Wasser wirft!« sagte Leo Nimis unbefangen und lachte. »Das Schwimmen hab ich unterdessen gelernt!«

»Gründlich, scheint mir. Und auf eigene Faust!«

»Ja. Göttingen und die anderen kleinen deutschen Universitäten waren nichts für mich. Ich war da immer fremd. Vielleicht, weil die Leute da alle so weltfremd waren oder mir wenigstens so vorkamen. Ich war vielleicht zu jung. Ich hab die Weisheit nicht begriffen. Ich war zu sehr praktisch veranlagt und hatte vielleicht auch schon zu viel von der Welt gesehen. Das war der Grund, weswegen ich nach zwei Jahren nach Amerika zurückging.«

»Und dort nahmen die Dollarjäger den verlorenen Sohn mit offenen Armen auf?«

»Es ist nicht nur der Dollar. Der kommt, wenn einer was kann, von selber. Es ist die Arbeit aus dem Vollen! Ich hab immer Spaß am Basteln und Zusammensetzen und Herumprobieren gehabt und mir schon als Junge drüben zu meinem eigenen elften Geburtstag eine kleine elektrische Weichenanlage mit automatischer Einschaltung der Stellhebel gebaut. Jetzt hab ich drüben, kurz entschlossen, umgesattelt und eigenhändig in der Maschinenfabrik gearbeitet und mich technisch vervollkommnet und die Augen offengehalten ...«

»... und bist unter die Erfinder gegangen, schreibt dein Vater?«

»Nein. Selber erfinden kann ich nichts. Dazu fehlt es mir an Phantasie. Aber es scheint, ich habe den Verstand, das, was andere erfunden haben, richtig zu sehen und praktisch verwertbar zu machen. Wenigstens wurden solche Leute, die sich mit der Finanzierung und Verwertung von Patenten befassen, auf mich aufmerksam. Das Londoner Bureau schickte mich und ein paar andere junge Leute hinaus, um europäische Petroleumlampen im Innern Chinas für die Standard Oil Company zu verbreiten. Es war eine harte Zeit. Unsere Kämpfe mit der United States Pipe Line waren bekanntlich auf der ganzen Erde rauh ...«

»Ich habe keine Ahnung, mein Sohn!«

»Auf dem Rückweg griff ich dann in Indien einen gesunden Gedanken auf. Die eingeführten Eierbecher sind zu groß. Die indischen Hühner sind kleiner als unsere. Ihre Eier verschwinden im Becher, und man kann sie nicht köpfen. Wir führten kleinere Eierbecher in Mengen ein. und das Geschäft war gut.«

»So, so!«

»Es war mein erster Erfolg!«

»Und dann?«

»Wir kamen dann in Neuorleans durch Versuche zu einer unendlich wichtigen Verbindung zwischen Whipper und Opener und Batteur der Baumwollmaschine. Dies Geschäft führte mich durch alle Baumwolländer der Erde, und ich fand bei meiner Heimkehr, daß man mit mir zufrieden war... Ich hatte von da ab meine Reisetasche immer gepackt neben meinem Bett zu halten, um, wenn ich um zwei Uhr nachts herausgeklopft wurde, in zehn Minuten fertig zu sein, um der Konkurrenz zuvorzukommen.«

»Meinen Glückwunsch!«

»Meine hohe Schule war jetzt ein halbes Jahr in der City in London, wo ich mich gründlich mit allen Fragen des Geldstandards vertraut machte. Die Frage der indischen Silberwährung ist doch wahrlich eine der schwierigsten und bedeutungsvollsten der Welt. Ich sah das jetzt erst so recht. Von da hatte ich noch einen kurzen Abstecher nach dem Ural zu machen. Wir richten da eine Bergwerksanlage, fix und fertig zum Betrieb bereit, ein. Sie heißt natürlich »Neu-Rußland« und hat russische Strohmänner an der Spitze, aber in Wahrheit arbeitet da nur amerikanisches und britisches Kapital.«

»Und jetzt?«

»Jetzt bin ich auf dem Sprunge, mit der niederrheinischen Industrie wegen eines bedeutsamen deutschen Patents zu verhandeln, daß wir für die ganze Welt erwerben möchten. Ich fahre morgen früh in das Kohlenrevier nach Lütthahn zu dem berühmten August Buschbeck ...«

»Ich habe nie von ihm gehört ...«

»Man kennt ihn eigentlich sonst überall auf der Erde. Er ist einer der ernsthaftesten deutschen Männer, so gering entwickelt das deutsche Fabrikwesen im ganzen ja noch ist. Sein Sohn hat mit mir in Göttingen studiert. Aber ich darf über meine dortigen Verhandlungen nichts verraten. Es ist Geschäftsgeheimnis!«

»Ach – ich bin nicht neugierig«, sagte Exzellenz Graf Pritzig mit einem sonderbar versonnenen Ton. »Und da stehst du dich wahrscheinlich finanziell glänzend für deine Jahre?«

»Ich erzielte voriges Jahr fünfzig- bis sechzigtausend Mark an Einkommen.«

Der alte Herr seufzte: »Ungefähr doppelt soviel wie ein preußischer Minister.«

»Die Ausgaben sind auch groß. Es gab Zeiten, wo ich sozusagen im Pullmann-Car und in der Schiffskabine wohnte, und der Europäer muß draußen überall mit einem hohen Standard of Life rechnen.«

Die blauen Havannawolken zogen sich in fließenden Schleiern um Louis Ferdinand von Pritzigs großäugigen, scharfgebieterisch verwitterten, weißen Junkerkopf. Er machte eine wunderliche Bewegung mit der wappengeschmückten Rechten, sei es, um das gewohnte Rauchgespinst, sei es, um ungewohnte Gedanken zu verscheuchen.

»Und nun kommst du nach Deutschland, wie das Entenküken, das schwimmen gelernt hat, heim auf den Hühnerhof«, sagte er. »Die Leute werden Angst vor dir kriegen, mein Junge ...«

»Warum denn?«

»Deutschland ist nicht mehr ganz so närrisch, wie es in meiner Jugend war. Aber es ist immer noch närrisch genug. Gott sei Dank. Es mag das Neue nicht ...«

»Ach – es muß sich daran gewöhnen«, sagte der junge Mann unbekümmert. »Es ist auch schon auf dem Wege. Überall draußen sind Deutsche am Werk. Das merkt man hier vielleicht noch nicht so wie in Hamburg und am Rhein.«

»Mag sein! Ich bin ein alter Ostelbier und Agrarier. Wenn ich den Kopf zu weit nach links drehe, zupft mich immer gleich irgendein Vorfahre warnend am rechten Ohr. Das ist mein ganzes Leben so gewesen, und die Leute, die du da drinnen treffen wirst, sind alle so.«

»Aber sie sind doch nicht ganz Deutschland!«

»Sie sind Deutschland. Deutschland will geführt sein. Deutschland ist ein altes, uraltes Land. Ich weiß nicht, ob es noch auf seine alten Tage über die Meere tanzen gehen kann ...«

Nebenan klang eine helle Mädchenstimme. Das Murmeln und Lachen von Herren um sie her. In Leo Nimis' Augen kam bei dem silbernen Laut ein geistesabwesend glücklicher Schein. Graf von Pritzig schwieg eine Weile, dann sagte er:

»Grüße deinen Vater in Darmstadt, wenn du ihn siehst. Wie geht's ihm?«

»Er wird auch älter ...«

»Dein Vater wird nie alt. Der bleibt ein Kind, solange er lebt. Ein Kind, von dem wir Großen noch sehr viel lernen können. Er hat das ewige Leben. Wo er war, da war Deutschland. Es waren andere Zeiten. Die begreifst du nicht mehr. Aber du hörst ja gar nicht zu ...«

Leo Nimis hatte auf das Plaudern des Fräuleins von Pritzig nebenan gehorcht. Mit einem Stich von Eifersucht im Herzen fuhr er jäh zusammen. Ihr Oheim schaute ihn ruhig prüfend an. Die Menschenkenntnis seiner großen, grauen Augen hatte etwas Durchdringendes. Der junge Mann fühlte eine Welle von rascher Röte über das Gesicht. Er rauchte heftig, um sich in den Dämpfen zu bergen.

»Ist deine Schwester noch in Wien?«

»Die Hansi? Ja, bei den Verwandten. Ich glaube, es spinnt sich da etwas an. Eine Partie ...«

.Wie alt ist sie jetzt?«

»Dreiundzwanzig. Ich finde auch: sie hat jetzt genug getanzt und ihr Leben genossen. Es ist da ein Doktor Fronhofer, aus sehr guter Familie, Sektionsrat in einem Ministerium ... ein sehr ernster Mensch, sagt man ... Tante Lini betreibt die Geschichte nach Kräften, ...«

In seinen Worten war immer noch beherrschte Unruhe, unterdrückte Zerstreutheit in seinem Wesen. Von nebenan hörte man, wie Klothilde von Pritzig sagte: »Der Onkel kommt jede Minute. Es ist noch ein Herr aus Amerika bei ihm.« Die alte Exzellenz erhob sich und schüttelte kaum merklich den beschneiten Kopf.

»Wir müssen unsere Zigarren den Menschen opfern, mein Sohn. Es ist, scheint's, schon alles voll. Komm mit hinein.«

Klothilde von Pritzig stand in dem großen Saal unter dem Kronleuchter. Sein Kerzenschimmer lockte goldene Lichter aus dem tiefen Kupferglanz ihres Haares, ihre weißen Schultern blinkten, die hellen Augen strahlten in dem blassen Gesicht. Im Kreise die Motten um die Kerze, Motten im roten Kragen und in der weißen Binde. Wo sie war, waren die Premierleutnants. die Regierungsassessoren, die ehereifen jungen Rittergutsbesitzer. Sie lachte mit ihnen und schwamm im Strom des oberflächlichen Geschwätzes und schien Leo Nimis doch ernster als ihr Hofstaat, eine Königin mit heimlichen Regierungssorgen.

Er konnte nicht zu ihr hin. Exzellenz von Pritzig stellte ihn der Hausfrau vor. Er küßte der Gräfin die Hand und beantwortete ihre herablassenden Fragen, bei denen sie die Antwort überhörte, und vernahm um sich das lebhafte Lippenwerk der älteren Damen. Fast alle Exzellenzen wie sie. Man wurde in Preußen schließlich Exzellenz. Die verwitwete Frau Amélie von Luch, die Schwester des Hausherrn, der keiner mehr ansah, daß sie in ihrer Jugend unter Friedrich Wilhelm IV. eine kapriziöse kleine Rokokoschönheit der Potsdamer Gesellschaft gewesen war, berichtete mit ihrer feinen spitzen Kinderstimme von ihrem Neffen, dem ältesten Sohne des Grafen.

»Hans Joachim? Der sitzt in Zackenzin und hat den Kopf voll Kartoffeln und betet!«

»... und die Christliebe, seine Frau, erst recht. Die Krackows sind durch die Bank so schauderhaft fromm!«

»Wenn man sieben lebendige Kinder hat, braucht man schon den lieben Gott, um sie heutzutage alle anständig durchzubringen!«

»Übrigens – bei den vielen Töchtern fällt's mir ein: die jüngste Ringsburg wird wirklich Hofdame ...«

»Du weißt schon, bei wem! Frau von Pönitz hat es von der Oberhofmeisterin gehört ...«

»Geht Martha mit nach Metz?«

»Es lohnt sich nicht für das kurze Kommando. Er kommt doch wieder in die Garde. Sie bleibt mit den Kindern bei den Schwiegereltern.«

»In Latzke?«

»Nein. Das ist die Schwester, die den zwölften Kürassier zum Mann hat ...«

»Also ... Ihr laßt doch bei Gerson ...«

»Ja. Luischen soll dies Jahr ihren Hofknicks machen.«

»Ich lasse für Beate die alten Spitzen umarbeiten. Die Schleppe in schwerer Silberstickerei und ...«

Leo Nimis ging hinüber zu der Gruppe älterer Herren. Sie erzählten sich von der Jagd. Der hagere, lange, blaublütige Generalleutnant z. D. von Pritzig, der Bruder des Hausherrn, hatte auf der Hofjagd fünf Stück Rotwild geschossen. Eingelapptes Jagen. Prinz Kasimir war auch da. In der Ecke schimpften die Zackenziner Gutsnachbarn, Herr von Kühl auf Klein-Latzke und der Beerwinkeler Postitz, Mitglied des Abgeordnetenhauses, auf Bismarck.

»Seit dem Februar schielt er natürlich erst recht nach links!«

»Die Kornzölle drücken wir durch.«

»Möllenbeck wird Oberpräsident!«

»Ich bringe Kuno lieber bei einer Regierung im Osten unter. Dort nehmen sie ihn mit Handkuß!«

»Was? Nur den Roten Adler zweiter?«

»Ja, er ist wütend, hat sich alle Gratulationen verbeten.«

»Das hat ihm Täuffing eingebrockt!«

»Ne, wissen Sie, die Generalsynode kann da ...«

Der siebzigjährige kleine Oberst a.D. Graf Giesebitz tänzelte durch den Saal. Alter Junggeselle. Immer noch Damenmann. Immer noch Schwerenöter. Immer noch leichtfüßig wie ein Fähnrich.

»Meine Damen ... pst... nee... nee... das ist nichts für die Herren ...«

»Was hat Gustav denn?«

»Gott! Er ist ja so harmlos«, sagte Frau von Pommerich. die Tochter der Frau von Luch, eine große, blonde, schwere Majorsfrau, und lachte. Drüben dämpfte ihr Mann seine Stimme:

»Wissen Sie schon, wie miserabel der gute Klütz gestern im Manöver abgeschnitten hat? Mit der ganzen Division im Wurstkessel!«

»Na ... ganz Berlin spricht ja davon! Dem schickt Albedyll die seidene Schnur!«

Leo Nimis kannte alle diese Leute nicht, von denen die Rede war. Das war eine von der übrigen Menschheit und auch von dem übrigen Deutschland luftdicht abgeschlossene Welt, das war Preußen, das offizielle Preußen, von der Rangklasse eins der Hoffähigkeit bis zur Klasse dreiundsechzig und vierundsechzig, den bei Hofe vorgestellten Herren und den Premier- und Sekondelieutnants. Es wurde ihm klar, daß er wahrscheinlich der einzige Bürgerliche in dieser großen Familie hier war. Es hätte ihn sonst kühl gelassen. Aber jetzt kämpfte er mit einer plötzlichen zornigen Bitterkeit des Weltbürgers gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals, daß diese Gardeoffiziere und Kammerjunker und Erbherren drüben jeden Tag um Klothilde von Pritzig sein und mit ihr sprechen durften und er nur einmal als Gast, eigentlich als Eindringling ...

Sie merkte, daß er allein dastand, und trat liebenswürdig zu ihm. Sie war sehr gewandt. Ein Erziehungsergebnis der alten Gräfin, die sie von ihrer Ecke aus mit unmerklichen Blicken wie mit unsichtbaren Seidenfäden lenkte, so wie bei der Tafel mit einem Augenwink die dienstbaren Geister.

Herr Nimis kann viel erzählen«, sagte das Fräulein von Pritzig. »Er ist schon in allen Weltteilen gewesen.«

»Auf der Jagd?« erkundigte sich ein baumlanger Kürassier.

»Oder im Konsulatsdienst?«

»Nein. Er hat sich nützlich beschäftigt!« Der Hausherr klopfte ihm auf die Schulter und lachte. »Er zapft Petroleum aus der Erde und hat den Indern die richtigen Eierbecher beschert und weiß, wie man Baumwolle kratzt. Solche Leute brauchen wir draußen viel nötiger als Nimrode und Juristen!«

Es machte ihm Spaß, die Gesellschaft zu erschrecken, über deren engen Rundblick er sich selbst oft genug ärgerte. Er hatte häufig versucht, hier am Königsplatz an der Spree eine Art Salon zu schaffen, in dem man den Stammbaum draußen mit dem Stock und die Geheimratswürde mit dem Überzieher abgab. Aber es waren schließlich doch immer wieder die bekannten Potsdamer und Berliner Gesichter geworden. Die paar weißen Raben dazwischen, die irgendwie berühmten Müllers oder Schulzes, verloren sich bald. Sie fühlten sich selbst hier nicht wohl.

Auch jetzt war verbindliches Schweigen, das in Verlegenheit überging. Man war beim besten Willen ratlos. Man wußte Leute, die so anders waren, nicht zu nehmen. Manche hätten sich draußen kurzweg durch Dünkel geholfen. Hier in den vier Wänden verbot das die Kinderstube.

»Haben Sie vielleicht meinen Vetter Ringsburg draußen getroffen? So ein kleiner, toller Kerl. Er war bei der Gesandtschaft in ...«

Leo Nimis verneinte harmlos.

»Nein, sicher nicht! Für Kaufleute sind unsere Gesandten nicht zu Hause.«

Klothilde half noch einmal ein.

»Herr Nimis war in Göttingen mit Malte zusammen«, sagte sie. Eine allgemeine Erleichterung. Ein freundliches Interesse.

»Oh – waren Sie aktiv?«

»Auch bei den Cimbern? Ich bin nämlich Alter Herr!«

»Nein! Leider nicht«, sagte der junge Mann zu dem ›Alten Herrn‹, der höchstens ebensoviel Jahre zählte wie er. »Ich habe für mich studiert und mich dann zum Einjährigenjahr gemeldet...«

Noch eine Hoffnung: »Wo sind Sie Reserveoffizier, Herr Nimis?«

»Man hat mich nicht zum Dienst genommen. Ich war damals noch ein bißchen eng um die Brust!«

Nichts zu machen Hm! ... Ja ... So, so... Auch Klothilde von Pritzig fiel nichts mehr ein. Sie dachte auch an etwas ganz anderes. Sah auf die Wanduhr und dann auf die Eingangstür. Da öffnete sie sich Gott sei Dank. Da kam Malte, der Sohn des Hausherrn, kleiner und untersetzter als sein Vater, das Gesicht voll vernarbter Schmisse mit aufgedrehtem Schnurrbart. Sehr liebenswürdig, aber auch sehr scharf und bestimmt.

Er und Leo Nimis nannten sich von Göttingen her du, aber das war nur äußerlich. Der Dreibändermann aus dem Ministerium des Innern und der in drei Weltteilen heimische junge Kaufmann von Übersee hatten sich so viel zu sagen wie ein Hinterpommer und ein Chinese. Immerhin unterhielten sie sich freundschaftlich.

»Wenn du morgen nach dem Niederrhein fährst, Nimis, grüße dort meinen Korpsbruder Max Buschbeck. Er macht gerade eine Übung bei den Königshusaren, aber er kommt jedenfalls oft nach Lütthahn hinüber!«

»Sag... ich hab das nicht recht begriffen: Ist die junge Dame da eigentlich deine Schwester?«

»Die Klothilde? Bäschen! Süßes Bäschen! Gilt aber als Kind im Haus!«

Leo Nimis wollte etwas hinzusetzen. Aber er schwieg und schaute auf das Fräulein von Pritzig und bewunderte andächtig den schnellen, anmutigen Knicks und Handkuß, in dem sie in ihrer schlanken Länge vor einer eben gekommenen alten Generalin in sich zusammensank.

»Wahrscheinlich triffst du in Lütthahn auch den Mettenburg, du erinnerst dich: den wallonischen Grafen mit den pflaumweichen Augen, der mit dem lieben Gott auf du und du stand. Sag ihm, er soll nur nicht zu heilig werden!«

»Ja ...« Leo Nimis hatte nur halb zugehört. Er suchte immer wieder verstohlen Klothilde von Pritzig mit den Augen. Es schien ihm bewundernswert, mit welch lässiger Grazie sie dem dicken alten Herrn von Kanzleben Tee eingoß.

»Ich weiß immer noch nicht recht: Ist deine Cousine eigentlich Frau oder Fräulein?«

»Klothildchen? Noch zu haben! Siehst doch das Getümmel! Zum ersten, zum zweiten, zum ...« Der fröhliche Assessor von Pritzig wurde unvermittelt etwas ernster. Es fiel ihm etwas ein ... für heute abend ... Etwas, das in der Luft lag. Er setzte in unverändertem Ton hinzu: »Sie ist ja noch gar nicht ausgegangen! Knapp zwanzig. Den Winter soll sie zum erstenmal hüpfen! Kein Spaß! Das gute Kind tanzt bis Aschermittwoch mindestens so viel Kilometer ab, als du von China hierher gesegelt bist, wenn sie nicht schon vorher ...«

»Was denn vorher?« forschte Leo Nimis ängstlich.

»Kindliche Frage! Was ist denn der Zweck der Übung, wenn die jungen Damen oben zu wenig anhaben und dafür unten zwei Meter Stoff am Boden? .. Ich laß mir noch Zeit mit dem Heiraten! Die Töchter des Landes laufen mir nicht davon!«

In einem unbemerkten Augenblick trat Malte von Pritzig zu seinem Vater und versetzte gedämpft, während es ihm belustigt um die Schmisse des linken Mundwinkels zuckte: »Du, Papa ... Ich möchte euch warnen: Es brennt! Die Thilde hat den Jüngling aus der Fremde in aller Unschuld auf Anhieb zur Strecke gebracht!«

»Meinst du das auch?«

»Er brennt wie 'ne alte Strohmiete. Sie kann ja natürlich nichts dafür.«

Exzellenz von Pritzig sah seine Nichte an und sagte nachdenklich: »Das Mädel ist ja heute abend polizeiwidrig schön...«

»Aber doch nicht für ihn! ... Ich muß ihm mal einen sanften Stoß geben!«

Die scharfe, befehlerische Stimme des Assessors gewann etwas Väterliches, während er den fünf Jahre Jüngeren vertraulich unter den Arm nahm und mit ihm ins Nebenzimmer schlenderte.

»Du, Nimis, wenn du in Lütthahn mit dem alten Rauhbein, dem Vater Buschbeck, zu tun hast, dann halte die Ohren steif und nimm die Gelegenheit wahr. Der Kunde hat blödsinniges Geld!«

»Für deutsche Verhältnisse gewiß!«

»Es sind da außer dem Sohn Max, meinem Korpsbruder, noch zwei erwachsene Töchter im Haus!«

»So ...«

»An die Jüngere, das Tinettche, darfst du nicht tippen! Im Vertrauen: Da ist der gute Mettenburg hinterher! Hat doch selber nichts! Vierter Bruder des Majoratsherrn... Möchte auch mit vieren lang fahren ... Und das Tinettche spielt mit Wonne Gräfin – wo doch die Mutter 'ne geborene Mirisch ist und der Großvater noch eigenhändig die Kartoffeln ausbuddelte... Du verstehst...«

»Ja. Es geht mich ja auch gar nichts an.«

»Das Tinettche also nicht! Aber die Ältere. Die Ottonie. Sie wird nicht viel jünger sein als du. Aber das macht ja nichts. Geerbt wird zu gleichen Teilen!«

»Meinetwegen.«

»Die Ottonie ist nämlich ein bißchen verdreht. Nicht etwa geschäftsunfähig ... im Gegenteil ... Sie ist sehr helle. Heller im Kopf als das Tinettche. Nur so komisch. Man wird nicht aus ihr klug. Na – du wirst sie ja selber kennenlernen...«

»Ja.«

»Das wäre vielleicht etwas für dich... Na, was lachst du denn?«

»Zu dumm!«

»Gar nicht dumm! Dort würdest du mit einem Schlag ein gemachter Mann!«

»Das werd ich auch so. Pritzig!«

»Na, schön! Komm, wir wollen wieder da hinein! Eben ist da der Geheimrat von Spängler erschienen! Großes Tier mit Eichenlaub und Schwertern!«

»Ich erinnere mich an ihn aus Göttingen. Ihr wart schon damals in der ›Cimbria‹ unbändig stolz auf ihn!«

»Seitdem ist er unentwegt die Leiter hinaufgeklettert! Er kommt direkt aus der Wilhelmstraße. Unser begabter Alfons weiß mehr als gewöhnliche Sterbliche.«

Drinnen drängte sich ein Kranz von Köpfen um die majestätisch leuchtende Glatze des Geheimen Legationsrats Dr. von Spängler-Colosimo wie die Fliegen um die Zuckerschüssel. Die Würde der Wilhelmstraße grub feierliche, geheimnisvoll-sorgenreiche Furchen in die satt blasierten, wohlgepolsterten Lebemannszüge eines fünfundvierzigjährigen Weltkindes. Die Stimme knarrte gönnerhaft, weichlich gedämpft, in dem gespannten Schweigen.

»Die Nachrichten aus Toblach lassen kaum mehr einen Zweifel...«

»Es ist wirklich ...«

»Ja! Alles stellt sich schon auf die neue Lage um ... In absehbarer Zeit ist Prinz Wilhelm Kaiser.«

»Und dann?«

Herr von Spängler schwieg diplomatisch. Ein Mann, der seiner Zukunft sicher war.

»Und Bismarck?«

Der Geheimrat von Spängler, der Mittelpunkt des Kreises unter dem Kronleuchter, lächelte. Granden, Exzellenzen, Generale hingen an seinem Munde. Er konnte seine Selbstgefälligkeit nicht ganz unterdrücken. Aber sie kam in geschmackvoller Form zutage.

»Es wird auch ohne Bismarck gehn. Muß doch einmal! So oder so!«

»Freilich ...«

»Wir machen es schon! Auch ohne Bismarck! Ebenso gut ... Aus der Ferne sieht das alles gefährlicher aus. Eigentlich liegen die Dinge ja so einfach ...«

»Im Krieg ist auch alles sehr einfach, aber darum noch lange nicht leicht, nach Moltkes Ausspruch ...«, sagte der Hausherr.

»Richtig. Exzellenz. Die Zeit wird alles lehren. Wir haben ja Zeit!«

Herr von Spängler unterstrich das, daß er mit fünfundvierzig Jahren Zeit habe, zu warten, und andere, ältere nicht mehr. Es klang ein ganz klein wenig forciert, aber es wirkte auf diese Runde der weißen und der grauen Köpfe.

Nebenan war ein Rauchzimmer. Leo Nimis zog sich dorthin zurück und setzte sich in einen der Ledersessel und sann vor sich hin. Und sah sich gegenüber einen stattlichen jungen Gentleman mit blondem Schnurrbart, dem der Weltschmerz im Gesicht geschrieben stand, und dachte sich geistesabwesend: Was hat denn der Kerl?, und merkte, daß er es selber war und schüttelte den Kopf und fand doch nicht die Kraft, aufzustehen und unter Menschen zu gehen.

Es waren außer ihm nur ein paar Herren in dem Raum. Der alte von Postiz auf Beerwinkel machte aus seinem Herzen keine Mördergrube und schimpfte gewaltig auf Bismarck. »Seiltanzen lehrt er uns auf unsere alten Tage! Von einem Kirchturm-Knopp zum andern! Nu noch Kolonialpolitik? Was haben wir bei den Wilden verloren?«

»Aber Kolonien ...«

»Kolonien brauchen Schiffe, lieber Graf, und Schiffe brauchen Häfen und Häfen 'ne knollige Kriegsflotte! Wo bleibt denn da zum Donnerwetter die Armee? Die tut uns not! Ich bin Rittergutsbesitzer und nicht Seeräuber! Durch die See kommt Preußen aus seinem Richtungspoint! Das ist mir zu hoch, sprach die Kuh, als sie auf den Apfelbaum klettern sollte!«

Drinnen wurde musiziert. Ein Spalt der Tür stand offen. Als Leo Nimis sich scheinbar unabsichtlich vorbeugte, konnte er den Saal und in ihm das Fräulein von Pritzig sehen. Sie saß zwischen anderen Damen und horchte mit dem Interesse der liebenswürdigen Haustochter dem Gesang.

»Er hört, schon kann er nicht mehr sehn, die nahen Stimmen furchtbar krähn«. brummte der Beerwinkler. »Kinder ... haben die Weiber 'ne Kehle! Nu lassen sie gleich zwei auf einmal los ...«

Leo Nimis wechselte, ohne daß ihn die alten Junker beachteten, seinen Platz. Von dem Klubsessel am Kamin überschaute man, ohne den Hals zu drehen, den Saal. Dort schwebten jetzt ein Alt und ein Sopran über dem Klangmeer der Klaviatur. Aber der Stuhl, auf dem Klothilde von Pritzig gesessen, war leer. Sie selbst nirgend zu erblicken.

Er saß traurig da und hörte, wie Herr von Postitz grollte: »Wir haben, weiß der Deubel, bei uns daheim noch genug auszumisten. Was tun wir nun noch im Affenland?« und fragte sich bitter und erregt, sich selber ganz verändert gegen sonst erscheinend: »Und was tu ich hier?«

Er fühlte, daß er einen lichten Augenblick hatte und dachte: Fort von ihr! Es ist besser, ich laufe weg, als daß ich ganz den Kopf verliere! Auf dem besten Wege bin ich. Ich könnte jetzt den ersten besten Menschen umarmen und ihm meine Liebe zu Fräulein von Pritzig beichten. Ich bin zu jeder Dummheit fähig. Die Tür links ist offen. Die Zimmer dahinter scheinen leer. Von da führt jedenfalls ein Ausgang auf den Flur und zu Hut und Mantel in der Garderobe.

Aber an der Schwelle des großen, mäßig erhellten, düster in Eichen getäfelten Bücherraums hemmte er jählings den Fuß. Auf dem Sofa in der dunklen Ecke, da wo man es am wenigsten vermutete, saßen doch zwei. Eine Rose in goldig-kupferbraunem Haar und ein schimmerndes Straußenei von Glatze neigten sich dicht beisammen, als hätten sie sich Wichtiges zu erzählen, oder vielmehr der Kahlschädel des Herrn von Spängler bewegte sich in eifrigem, ganz leisem und eindringlichem Sprechen, und das schöne Haupt des Fräuleins von Pritzig rührte sich beim Zuhören nicht. Es war so weit nach vorn gesenkt, den Blick auf den Teppich des Bodens, daß man nur die weiße Stirn mit den dunklen, eng zusammengewachsenen Brauen sah und darüber ein paar tiefe, fast finstere Falten, als sammele sie alle Kräfte zum Nachdenken... oder zu einem Entschluß ...

Sie schien ihm sehr bleich. Er war froh, daß sie ihn nicht bemerkt hatte, und kehrte auf den Fußspitzen in das Rauchzimmer zurück und atmete dort beim Flackern des Streichholzes an der Zigarre auf. Welche Dummheit, davonzurennen, wenn ihm das Schicksal diesen einzigen Abend schenkte – diesen Abend mit ihr oder wenigstens in ihrer Nähe? Warum den einzigen? Vom Rhein hierher war es ein Katzensprung. Man konnte sich jeden Augenblick Geschäfte in Berlin machen. Das Pritzigsche Haus stand ihm immer offen.

»Bekanntschaften hat Louis«, sagte drüben die Gräfin zu den Damen. »Am liebsten machte er aus unserem Salon eine Menagerie. Ich habe mich zeitlebens dagegen wehren müssen, wen er mir so ganz harmlos anschleppte. Der junge Mann da heute geht ja noch! ... Man konnte ihn für einen amerikanischen Attaché oder derlei halten!« Sie beugte sich gewinnend vor: »Sie beabsichtigen. uns leider morgen schon wieder zu verlassen, Herr Nimis?«

»Ich hoffe, sehr bald wieder in Berlin zu sein. Exzellenz!«

»Wie nett! Dann vergessen Sie den Weg zu uns nicht!«

»Oh, ich werde mit großer Freude wiederkommen, Exzellenz!«

Leo Nimis sagte es warm und herzlich. Die Teetasse klirrte vor Unruhe in seiner Hand, während er sie niedersetzte. Fräulein von Pritzig war immer noch nicht im Saal. Der Dickwanst mit der Glatze auch nicht ... Niemand fragte nach ihnen ... Es war wie ein Freimaurerzeichen blauen Blutes um ihn, den Fremden, den Uneingeweihten ...

»In der Lütthahner Gegend ist übrigens Mordskandal, Nimis«. sagte der Assessor von Pritzig. »Im Ministerium wußten wir's schon gestern. Heute abend steht's auch im Blättchen. Du kommst wahrscheinlich mitten in den Klimbim hinein. Der alte Buschbeck hat wieder einmal Krach mit seinen Arbeitern. Na, wir werden schon Ordnung schaffen!.. Na nu! Aha!.. Also doch! Da schau ...«

»Was ist denn da im Saal für ein Gedränge?«

»Sieh mal die Weiber! Von allen Seiten laufen sie heran! Die ältesten Semester kriegen Beine. Hei, Kinder! Das ist was für euch. Da sind sie alle selig ...«

»Ich versteh nicht ...«

»Hör nur das Gejubel. Jede tut, als ob sie sich selber verlobt hätte!«

»Verlobt?«

»Na komm! ... Der Mitteleuropäer kargt in solchen Fällen mit seinem Beileid nicht!«

»Wer ist verlobt?«

»Da stehn sie doch inmitten der frohbewegten Menge. Klothildchen ist doch lang genug! Sie schaut ja über die Köpfe der Gratulanten hinweg! Na, für den dicken Spängler ist's jetzt mit Spiel und Tanz vorbei.«

»Dein Fräulein Cousine hat sich verlobt?«

»Das lag schon den ganzen Abend in der Luft. Du als Außenseiter in diesem edlen Kreise konntest das natürlich nicht ahnen! Na, Thildchen! Du machst ja solch ein vergnügtes Gesicht! Gestatte, daß ich mich ehrfurchtsvoll über deine Hand beuge!«

Klothilde von Pritzig strahlte und lachte und schüttelte nach allen Seiten Hände und ließ sich geduldig rechts und links von den gerührten Damen abküssen. Ihr Bräutigam hatte etwas Feierlich-Verlegenes eines älteren Junggesellen, während er die Glückwünsche in Empfang nahm.

»Na, künftiger Halbschwager! Du siehst ja recht erleichtert aus«, sagte der unverbesserliche Malte. »Nun hast du aber auch die moralische Pflicht, ein Mandarin vom ersten Knopf zu werden! Unter der Exzellenz tut's Thilde nicht«

»Mit so einer Frau kann es nicht fehlen«, versetzte der Geheimrat aus der Wilhelmstraße stolz. Er hatte Klothilde von Pritzigs schmächtigen, bloßen, linken Arm so behutsam in den seinen geschoben, als könne er zerbrechen. »Ich hoffe das Beste!«

»Mögen sich alle guten Wünsche erfüllen, die wir für die Zukunft für euch und für Deutschland hegen!«

Graf Pritzig-Zackenzin sprach es ernster als die lachenden Gesichter umher. Es war Leo Nimis zumute, als befände er sich plötzlich in einer großen, fremden Familienfeier des alten Preußen. Niemand achtete darauf, daß er still den Saal verließ.


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