Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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XI.

Blauer Sommerhimmel wölbte sich über dem grünen Waldmeer Siebenbürgens. Niederdeutsche Laute klangen auf dem Bahnhof. Ehrwürdige deutsche Bauerntrachten – Kniehosen, langschößige Röcke, breite Hüte – mischten sich zwischen die weißwollenen malerischen Kittel der Rumänen.

Dr. Camillo Fronhofer stand auf dem Karpathenbahnhof, der weitab von der im Bergkessel gelagerten Stadt sich erhob, und wies auf den ungarischen Stationsnamen auf dem Gebäude.

»Brassó!« sagte er zu seinen Freunden. »Das dürfen wir Deutschösterreicher uns dann in unser siebenhundertjähriges, urdeutsches Kronstadt zurückübersetzen!«

Lutherische Kirchen ragten drüben über der Hauptstadt des Siebenbürger Sachsenlandes. Graue Bollwerke aus Deutschordenszeit trotzten zwischen den Häusern, über dem schwarzen und dem weißen Turm, über der Houteruskirche und der Weberbastei ragte von der Spitze des nächsten Bergs ein Baugerüst.

»Dort wird nächstes Jahr das tausendjährige Hunnendenkmal aufgestellt!« versetzte Dr. Zechmann, der Direktor einer der Zuckerfabriken draußen in der Burzenebene, »Ein Mongolenkrieger aus Arpads Zeit!«

»Die Weltkugel ist für die Herren Madjaren rotweißgrün«. fügte der evangelische Pfarrer Roth aus einem der deutschen Bauerndörfer der Schäßburger Gegend im nahen sächsischen Weinland hinzu. »Ob Sachse, Wallache. Slowat oder Kroat – die hundertsiebzig Grafen und die zweiundvierzig Barone und die zehn Bannerherren und Palatin und Banus an der Magnatentafel in Budapest und ebenso die Herren Komitatsboten unterdrücken alles, was nicht von Geisa stammt!«

»Überall in den k. und k. Ländern wird das Deutschtum unterdrückt, überall kämpfen unsere verlassenen Vorposten ihren letzten Kampf. Im Deutschen Reich aber da draußen feiern sie Feste und fahren über See und raffen Geld und kümmern sich einen Schmarrn um die verlassenen Bruderstämme hinter den schwarzgelben Pfählen!«

Camillo Fronhofer sagte es ohne Leidenschaft, mit dem hoffnungslosen Blick eines Arztes an Habsburgs Sterbelager. Er war noch ernster und versonnener als früher. Noch krauste sich ihm der schlichte Vollbart in glänzendem Blond eines Fünfundvierzigjährigen, aber auf der Stirn standen Leidenslinien, und die Augen sahen still und sorgendunkel durch den Zwicker.

»Sie sind müde geworden, seit wir uns vor Jahren zuletzt gesehen haben, Herr von Fronhofer!«

»Ich bin müde an Österreich, und Österreich selbst ist müde bis zum Sterben, und weil es müde ist. tanzt es. Von einem Tag in den anderen! Wir haben immer ein melancholisches Lächeln an uns gehabt, wenn wir so recht leichtsinnig waren! Zu was sich ernst nehmen? Es ist ja doch bald alles ein Aschen! Schauen Sie mich hier an: da steht der letzte Österreicher, der noch Österreich ernst nimmt! ... Eigentlich gehört ja so einer wie ich nach Döbling hinaus.« ...

»Ins Reich hinaus gehören Sie ... um Hilfe rufen, ehe es zu spät ist!«

»Seit dreißig Jahren ist's zu spät! ... Seit Königgrätz ... Wir haben's so gewollt.«

Der Schaffner trat mit ein paar unverständlichen ungarischen Worten heran.

»Hab die Ehre! Glückliche Reise!«

»Servus!«

Dr. Camillo Fronhofer fuhr nach Budapest. Auf dem Hauptbahnhof dort war es für den Nichtmadjaren schwer, den Ausweg zu finden. Jedes Wort einer der nicht madjarischen Landessprachen im Königreich Ungarn, namentliche jede deutsche Silbe, war wie giftiges Unkraut ausgerottet. Er stand und zweifelte: hieß dies Bémenet nun Eingang und Kimenet Ausgang oder umgekehrt? Ein Budapester, an den er sich mit einer deutschen Frage wandte, fragte zunächst höflich: »Belieben, Reichsdeutscher zu sein?«, merkte dann den Wiener Tonfall und ging mit einem halblauten »Verfluchter Schwab!« weiter. Unter der Bahnhofswölbung zitterte der Haß gegen Wien. Die ganze ungarische Hauptstadt atmete ihn, zu beiden Seiten der Donau.

Dort, am Kai, war jetzt der große Nachmittagskorso. Schob sich die Menge, tausendköpfig lustwandelnd, in zwei breiten Strömen. Saß auf den langen Stuhlreihen am Ufer. Von den dort vertauten großen Donaudampfern schauten die Reisenden neugierig auf das Gewühl. Vereinzelte rote Tarbusche in ihm ließen die Nähe des unheimlich kochenden Völkergemisches des Balkans ahnen. Die Kaffeehäuser auf der Stadtseite des Franz-Josef-Kais waren schwarz von Menschen. Die Zigeunergeigen jauchzten und jubelten. Dunkle Frauenaugen blitzten. Phantastisch hob sich drüben, jenseit des mächtigen Stroms, mit ihren Zinnen und Türmen die noch im Ausbau befindliche Ofener Burg des Königs. Wehe, wer hier vom Kaiser von Österreich gesprochen hätte ...

Auf diesem festlichen, ewig heiteren ungarischen Globus wandelte Koloman Goldkind, der große Budapester Getieidehändler. Er sonnte sich. Er blühte. Er gedieh unter dem Himmel über der Pußta, deren endlose Weidesteppen sich immer mehr in ebenso endlos wogende Kornfelder verwandelten. Er war schon stark madjarisiert. Sein Schnurrbart schwarz gefärbt und aufgedreht. Aus seinem Graukopf kam der Zylinder kaum zur Ruhe. Koloman Goldkind kannte und grüßte Gott und die Welt. Den Adel. Die Spitzen. Die Politiker. Die Zeitungsgrößen. Er war ein eingeborenes und vollbürtiges Kind dieses Junkerlandes, in dem die gräflichen Staatsmänner die Zahl ihrer parlamentarischen Siege mit den Dutzenden ihrer Pistolen- und Säbelduelle multiplizierten, in dem der blaublütige Minister nach des Amtes Last und Sorgen nachts im Klub hunderttausend Kronen auf eine Karte setzte und der Parteiführer, die Brille vor den kurzsichtigen Augen, den anderen Magnaten bei der Hetzjagd in gestrecktem Galopp voranritt.

Koloman Goldkinds Begleiter stammte nicht aus diesem ungarischen Paradies. Um Dr. Juda Mandel, den Zionisten, war Palästina. Waren die Gettos Galiziens, aus denen er, der Sohn des Wunderrabbis, stammte, war die Trauer an den Wassern Babylons, die Gebete an der Klagemauer von Jerusalem, die Sehnsucht Ahasvers nach Heimat und Land und Volk. Er war ein schöner Mann. Großgewachsen glich er mit seiner Adlernase, den mandelförmigen, dunklen Augen, dem seidenen, schwarzen, langen Vollbart eher einem Araberscheich als einem Talmudgelehrten und Doktor dreier Fakultäten und internationalen Weltmann.

»Ah – da schau her: der Herr von Fronhofer! Wie geht's?... Blaß sind's ... Was macht die Gnädige?«

»Danke, Herr von Goldkind! Ich bin auf dem Weg zu ihr nach Wien!«

Koloman Goldkind pfiff durch die Zähne: »So .., so. Wieder glücklich in Wien?«

»Ja – schon seit zwei Jahren!«

»Alsdann ist der Wunsch der Gnädigen doch erfüllt. Mein Schwager, der Weixselbaum, hat's nicht durchsetzen können! Ich bitte: der Weixselbaum und kann in Wien etwas nicht durchsetzen! Da steht die Welt net mehr lang! Das muß sehr eine hohe... aber schon sehr eine hohe Protektion gewesen sein.« ...

»Ich hab die Ehre, Herr von Goldkind!«

»Mein Kompliment! Handkuß an die Gnädige!« Und mit Dr. Juda Mandel allein weiterwandelnd, setzte Koloman Goldkind mit einem fetten und listigen, vielverstehenden Schmunzeln hinzu: »...haben's eine Ahnung, was die schöne Frau von Fronhofer für einen Ruf in Wien hat?«

Der Zionist verneinte. Er hatte andere Sorgen im Kopf.

»Na – da seien's froh!... Zu so einem Ruf gehört schon was ... in Wien« ...

Camillo Fronhofer war in Gedanken versunken dahingegangen Säbel und Sporen klirrten ihm entgegen. Aus einer Gruppe verschnürter k. und k. Wespentaillen und kecker ungarischer Husarenkalpaks hob sich die Hand eines Leutnants mit zwei Fingern an die Mütze. Er erwiderte den Gruß, ohne sich dieses jungen böhmischen Dragoners zu entsinnen. Um den zwinkerten im Weiterschlendern vielsagend die Kameraden.

»Jetzt geh her ... Peindlberg ... erzähl doch!«

»I weiß doch nix von der Hansi!«

»Ach geh, Poldi!«

»Auf Ehr und Seligkeit! ... Da müßt's ihr schon den Pürckenstein selber fragen, ... Ah ... da schaut's mal: das fesche Madel ist da.« ...

Und aller Blicke wandten sich nach rechts, und Augen winkten, und Lippen lächelten, und die Sonne selber schien ein Buhler und der Wind ein Kuppler und die Luft ein Liebesbote, und das war das einzige, worin die beiden zur Todfeindschaft entzweiten Donauschwestern, Budapest und Wien, miteinander einig und sich ähnlich waren, am Franz-Josefs-Kai wie am Kärntner Ring ...

Im großen Saal des »Hungaria« geigte der Primas, verzückt sich wiegend, frei aus dem Kopf. Die Zigeuner fiedelten hinter ihrem Herrn und Meister her. Die Hundertkronennoten flogen ihnen von den Tischen der Aristokraten zu. Kein Stuhl war leer. In einer Ecke saß Camillo Fronhofer mit seinem Prager Vetter Karl Pelzel von der Direktion der k. k. Nordbahn, den seine Dienstgeschäfte nach Budapest geführt hatten.

»Du, Camillo.« ...

»Ja.« ...

»Nachdem mir uns per Zufall mal wieder getroffen haben ... Ich möcht mal recht dumm fragen« ...

»Red halt schon!«

»Wie geht's denn jetzt in Wien?«

»Ich bitt dich: wie soll's denn einem Menschen in Wien anders gehen als im Himmel? Er hat ja alles! Nirgends fahren die Fiaker schneller und sind die Kipferln röscher und spielen's eine Operette besser und sind die Kavaliere fescher angezogen als bei uns.« ...

»Sei nicht so bitter! Ich mein: Wie ist's denn jetzt da mit der Hanserl?«

»Werf einen Fisch ins Wasser und frag ihn, ob er wieder heraus möcht.... Die Hansi hat halt Wiener Blut. Die lacht sich durchs irdische Jammertal und tanzt dazu.«

Einen Blick halben Mißtrauens durch die Zwickergläser hinterher: »Warum fragst du eigentlich, Karl?«

»Ja – weißt: die Leut reden halt so! 's is schon nimmer schön, was sie von der Hansi reden!... Ich bitt dich um Jesu willen: sei nicht bös! Aber ich hab geglaubt, ich müßt einmal ... als dein Verwandter ... wenn die Gelegenheit sich grad bietet.« ...

»Mein Lieber, du bist nicht der erste, der mir mit bei Hansi kommt! Aber ihr seid's dumm! Ihr alle miteinander! Ihr wißt's alle nicht, wie das mit der Hansi ist.«

Ein warmes Leuchten lief dabei über Camillo Fronhofers stilles, in sich versunkenes Gesicht.

»Die Hansi, mein lieber Karl, die ist wie Österreich selber. Die muß man nehmen, wie man Österreich nimmt. Sie ist so lustig. Sie ist so lieb. Bei der wird man selber zum Kind. Wenn ich mein Hanserl nicht hätt ... Sie hat freilich den goldenen Leichtsinn.« ...

»Ja ... schau.« ...

»... aber sie hat auch das goldene Wiener Herz! Sie ist hübsch! Sie ist jung. Sie freut sich, daß sie auf der Welt ist! Aber sie weiß ganz genau, mein Lieber, wie weit sie geht!«

»Freilich ... freilich ... Ich mein ja nur.« ...

»Ich kann nicht 'n Spagat nehmen und einen Schmetterling daran anbinden! Ich verlaß mich auf ihn! Ich weiß, daß ich's darf! Ich habe sie ja so lieb ... Nein ... auf mein Hanserl – da laß ich nix kommen.« ...

»Wirst schon recht haben, Camillo!«

Während der Prager sein Krügel Pils leerte, dachte er sich: Is besser so! ... Wenn man einem Nachtwandler zuschreit: Du ... paß auf!, so fällt der arme Narr erst recht vom Dach und bricht sich's Genick! Lassen mir ihn halt oben! Und laut begann er: »Die Zustände heuer bei der Südbahn, Camillo! ... Mir tun bald die armen Obligationsinhaber leid.« ...

Camillo Fronhofer antwortete nicht. Er saß und sah vor sich hin, und in seinen weichen, bärtigen Zügen lag ein leidender und schmerzlicher Eigensinn, ein Rechthabenwollen um jeden Preis in den Lieben seines Lebens, zu seinem Land und seiner Frau, und man wußte nicht, hielt er die beiden jetzt in seinem Schweigen mit allen Fibern seiner Seele fest, oder hörte er nur, in seine Gedanken versunken, auf die Fiedelkunst der Zigeuner.

Der feiste, gelbe Primas mit den schwermütigen Spitzbubenaugen und dem aufgewichsten kohlschwarzen Schnurrbärtchen schwang leidenschaftlich den Bogen. Die Geigen jauchzten und sangen das alte Lied vom Hause Habsburg und seinen weiten Landen, Tu felix Austria, nube! Schon fehlen Kronen in deinem Kranze: Im Dom zu Monza ruht die eiserne Krone der Lombarden. Am Michaeler Platz in der Hofburg schlummert neben dem Schwert Karls des Großen die Kaiserkrone des heiligen Römischen Reichs. Aber da, gegenüber, in der Ofener Burg, beschirmt noch die Kronwache die Stephanskrone und des heiligen Stephan rechte Hand, und drüben in Wien sendet immer noch aus der Schatzkammer der Burg die österreichische Erblandekrone ihre Strahlen über die Gauen zwischen Leitha und Bodensee. Noch blühst du, Donauland, zwischen Trümmern, tanzest über Gräber bis zum jüngsten Tag ...

Das Zittern der Zigeunergeigen auf der weiten Pußta, Juchzer und Schnadahüpfl auf der grünen Alm Tirols, das Sporenklirren der Mazurka im Sarmatenland, ein Hirtenlied auf der Kürbisflöte fern unter den Eichen des Banats ... tanze, Österreich ... tanze und lache ... lache und liebe ... du hast nicht mehr lange Zeit ...

»Die Hansi soll lachen!« sagte Camillo Fronhofer, plötzlich beinahe zornig das Haupt hebend, und man merkte, daß er die ganze Zeit an seine Frau gedacht.

»Laßt's ja auch nicht daran fehlen, Camillo!«

»Sie soll lachen! Gerad, weil ich gar so ernsthaft bin! Sie soll mir mit ihrem dummen kleinen Patscherl den Griesgram von der Stirn fegen ... da könnt ihr mir lang plauschen.« ...

»Ich bin ja schon still!«

»Ich bin ein trauriger Mensch. Aber ich wär unglücklich, wenn meine Hansi nicht glücklich wär, wie das Zeiserl auf dem Ast! Ihr Lachen ist mir die liebste Musik, schöner als von den Zigeunerbuben da! Ihr Gesichtel soll alleweil fidel sein. Sorgen sind meine Sache. Sorgen hat man g'nug. wenn man heutzutag in Österreich ist! ... Du himmlische Güte ja – wohin treiben wir?«

Ein Schiff ohne Ballast.., ein Wrack auf den Wellen... Kein Steuermann am zerbrochenen Ruder... Klippen rechts und links ... ringsum das slawische Meer ... Camillo Fronhofer stützte düster die Stirne in die Hohlhand. Drüben begann der feiste Primas, sich im Geigen tanzend zu bewegen. Die Kopfe und Schultern seiner Zigeuner tanzten im Takte mit. Der Rakoczy-Marsch jubelte, das jahrhundertalte Schlachtlied Michaels des Braunen, des Zigeuners, wider Wien, Es fieberte durch den Saal. Die Madjaren sangen halblaut mit und wippten mit den Stiefelspitzen. Finster saßen an den Tischen neben den beiden Deutschen kroatische Gutsbesitzer und rumänische Bojaren. Ein Jubel! Eljen! Ungarischer Größenwahn stieg auf und tünchte die Welt mit rotweißgrünem Pinsel. Der heißschaumende Übermut steckte an.

»Die Ungarn sind so wild, weil sie sich jung vorkommen!« sagte Camillo Fronhofer mit aufgehellten Zügen. »Vielleicht werden wir hinter Preßburg auch noch einmal jung! Vielleicht blüht Österreich doch noch einmal! Vielleicht wird doch noch einmal alles gut!

In hundert Jahren werden's die Schulbuben lernen!« fuhr er nach einer Weile fort. »Nicht wurde bei Sedan Deutschland geeint, sondern bei Königgrätz wurde die deutsche Einheit zerstört, und dabei ist's geblieben bis heute, und das ist unser Unglück an der Donau und an der Spree. Der alte deutsche Bund von sechsundsechzig war ein G'lump, aber wenigstens was Ganzes. Da waren wir alle darin. Aber der Zustand jetzt mit zwei Kaiserkronen und einem einköpfigen Adler in Berlin und einem zweiköpfigen in Wien ist etwas Halbes, weil's was Doppeltes ist ... Am End kommt die goldene Zeit doch noch einmal wieder. Der Prinz Eugen und die Maria Theres und der Vater Radetzky und der Tegethoff ... Ich möchte es so vom lieben Gott erbetteln.... Du mein Österreich ... mein liebes, liebes Österreich.« ...

Seine Mienen hatten sich verklärt. Er kam, hartnackig in seiner Hoffnung, auf seine Frau zurück.

»Die Hanserl wird auch mal g'scheiter werden! Sie wird ja doch allmählich älter und gesetzter.« ...

»Wie alt ist sie denn?«

»Gerad dreißig!«

»Zeit is.« ...

»Es wird schon besser werden!« versetzte Camillo Fronhofer. Er sprach von ihr wie von einem geliebten kranken Kind, wie er von Österreich, wie von einer teuren kranken Mutter sprach. »Es wird schon werden! Ich nehm halt die Dinge zu ernst!«

Zu leicht, Freunderl! – dachte sich der andere. Aber er hielt an sich und schwieg.

»Das ist mein alter Fehler! Dagegen hab ich ein Hausmittel – die Hansi! Ihr dürft mich nicht in meinem Trübsinn bestärken!«

»I werd mich hüten!«

»Ich vertrau auf die Hansi! Da mögt ihr reden, was ihr wollt! Ein Mann muß seiner Frau vertrauen. Sonst ist das keine Ehe mehr, sondern ein Auseinanderleben.«

Der Vetter Karl hielt den Mund. Er wollte ihn sich nicht verbrennen. Camillo Fronhofer war ganz heiter geworden.

»Heut hab ich auf einmal wieder Hoffnung!« sagte er. »Weil ich mich mal ausgesprochen hab! Ich dank dir, Karl!«

»Ich bitte!«

Camillo Fronhofer lächelte still vor sich hin, mit der Sehnsucht eines Verliebten.

»Du, übermorgen um die Zeit bin ich schon in Wien! Bei der Hansi! Wie ich mich darauf freue! Weißt: ich hab ihr versprochen: Wenn ich wiederkomm, fahren wir zur Feier mit einem Unnumerierten hinaus in den Prater und nachtmahlen draußen beim Sacher. Das is was für die Hansi! Sie ist ja wie ein Kind!«

Die Kaiserstadt und die Hansi gingen ihm in eines und schienen dasselbe: die alte Stadt und die junge Frau: Wien und Weib.

»Alsdann, Karl – ich geh jetzt schlafen. Grüß alle in Prag!«

»Servus, Camillo! Auf Wiederschauen!«

Kein Gruß des Vetters an die Hansi. Das war deutlich. Das verstimmte ihn. Das kränkte ihn. Unrecht taten sie dem armen Hascherl. Er allein war gut zu ihr. Er verstand sie. Nur er allein in der ungerechten Welt.

Er lehnte in seinem Hotelzimmer am offenen Fenster. Breit flutete vor den Lichtern von Ofen drüben im Mondschein der Silberschwall der Donau. Die Wellen glitzerten und plätscherten und brachten ihm Grüße aus Wien. Küsse von der Hansi. Der laue Sommerwind wehte flußabwärts und flüsterte ihm Liebesworte vom Hanserl ins Ohr. Er legte die Hand auf die Brust und atmete tief auf. In seinem Herzen war die Sehnsucht nach seiner irdischen Heiligen. Um ihr irgendwie im Geiste nahe zu sein, begann er die Geschenke, die er auf der Reise für sie gekauft hatte, auszupacken. Er betrachtete zärtlich die kleinen Mitbringsel, streichelte sie liebevoll: den ungarischen Silberschmuck. Die Leinwandbluse mit bosnischer Stickerei. Das türkische Zuckerwerk. Ein Schleckermäulchen war sie schon, die Hansi. Er lächelte, wickelte die kleinen Gaben gerührt wieder in ihr Seidenpapier, als wären sie ein Stück von der Hansi selber. Dachte dabei: heute über achtundvierzig Stunden bin ich bei ihr in Wien ...

Während er den Koffer schloß, ging es ihm in seinem Heimweh nach der Hansi durch das Hirn: Wenn dieser Fadian hier, der Exzellenzherr, in seinem neuen Ministerium am Parlamentsgebäude nicht erst nachmittags zu sprechen wäre, dann könntest du schon morgen den Mittagszug nach Wien nehmen. Spartest einen vollen Tag! Ach was! Bist mal keck – nicht so zurückhaltend wie sonst – und gehst um zehn Uhr hin und gibst dem Pförtner einen Zehnkronen-Händedruck und erledigst, wenn du Glück hast, deine k. k. Siebensachen noch am Vormittag und schaust, daß du auf die Bahn kommst, und überraschst die Hansi in eurem Nest in der Mariahilfer Straße.

Der Mittagsschnellzug über Marchegg nach Wien war, wie gewöhnlich, überfüllt. Viele Herren standen im Seitengang des Wagens. Camillo Fronhofer, noch atemlos von der Eile, mit der er den Bahnhof erreicht, unter ihnen, zwischen einer Gruppe Honvedoffiziere. In Preßburg stiegen sie säbelklirrend und geräuschvoll aus. Da war Theben mit seiner Burgruine, der Landeswarte und dem Grenzmal zwischen den beiden feindlichen zusammengewachsenen Zwillingen Österreich und Ungarn. Der Zug rollte über die Brücke. Schwarzgelbe Meilenzeiger tauchten auf. Man war wieder in Österreich, dem alten, lieben Österreich.

Camillo Fronhofer zählte die Minuten der letzten Stunde der Fahrt, bis der Zug auf dem Nordbahnhof hielt. Er kaufte draußen noch Blumen für die Hansi, ehe er mit seinem Kofferchen in den Einspänner stieg. Der rollte mit ihm hinunter zu dem ganz nahen Praterstern. Dort kreuzten sich, am Tegethoff-Denkmal, die beiden getrennten Welten des ewig heitern Wiens. Im Wurstelprater drüben tanzten die Marionetten, schrien die Maroni- und Salamucci-Männer, fiedelten die Damenkapellen. sangen die Volkssänger, die Hand gefühlvoll auf dem rundlichen Leib, mit Schmelztenor und gerührtem Augenaufschlag vom alten Stephan und dem goldenen Wiener Herzen. Von der anderen Seite, von der Hauptallee her, rollte an dem Jahrmarkt vorbei der nachmittägliche Praterkorso der vornehmen Welt nach der Innenstadt zurück.

Voll Luxus und Leichtsinn, mit stiebenden Hufen und federnden Gummirädern und wehenden Peitschen überholte das Gefährt in der Praterstraße den bescheidenen Einspänner mit dem einzelnen Reisenden. Vierbeiniges Edelblut, Geschirr. Livree. Haltung, wie man das in deutschen Landen eben nur in Wien und sonst nirgendswo sah. Toilettenträume, wie man sie rechts des Rheins eben nur in Wien sah. Frauen, wie man sie eben nur in Wien sah. Camillo Fronhofer war selbst zu sehr Wiener, als daß er sich nicht trotz seines schweren Geblüts neidlos an dem feschen Sommerbild ergötzt hätte. Ein Landauer mit mächtigen Karossiers, ein Kreuzzugswappen einfacher, schräger Balken auf dem Kutschenschlag, rollte feierlich langsam wie im Londoner Hydepark neben ihm und benahm ihm die Aussicht zur Rechten. Er sah nur, daß der Wachmann an der Aspernbrücke plötzlich jäh warnend die Hand hob, wie um ein zu tolles Fahren zu hemmen ...

Aber halt mal einer den Matuschek! Den Wenzel Matuschek vom Graben! Den Fiaker, den jedes Kind dort im Schattenkreis des Stephansdoms kannte! Den Freund und Spaßmacher des gegen gewöhnliche Sterbliche unnahbar abgeschlossenen Hochadels! Der fegte im Sturmwind heran. Das war die wilde Jagd selber. Der Matuschek saß zungenschnalzend, mit abgespreizten Ellbogen auf dem Bock, den Hut im Genick, selbst selig über die Hetz. Zwei Jahre halten's die Rösser aus! Nur vorwärts, an dem miserabligen Volk zu Fuß vorbei! Zahlen tun's die Kavaliere! Wir sind die Götter von Wien!

Drei Kavaliere saßen im Wagen und eine Dame. Camillo Fronhofer lächelte gutmütig, wie er die Leute rasch und lachend vor dem tollen Gefährt zur Seite springen sah. Er dachte sich: was täten's jetzt in Berlin schimpfen bei so einer Rücksichtslosigkeit!... Dann verfinsterte sich blitzschnell seine Stirn: Das Gigerl auf dem Rücksitz drüben – richtig: – das war der Erwin Pürckenstein: mit dem man schon in Prag soviel Ärger gehabt hatte! Nun war das Früchtel glücklich längst wieder in Wien. Sein modischer Strohhut mit dem breiten, bunten Band verdeckte den Kopf seiner Begleiterin. Jetzt bog er sich vor, um dem Matuschek etwas zuzurufen. Man sah über seiner Schulter ein neckisches Wiener Gesichtel mit lustigen Blauaugen und windgeröteten Wangen.

Camillo Fronhofer saß starr. Er blickte auf den vorüberfliegenden Wagen wie auf eine Sinnesspiegelung. Fuhr sich mit dem Handrücken über die Lider. Nein: Die Erscheinung blieb: das war die Hansi. Unbekümmert. Aus voller Kehle lachend, ohne ihn zu bemerken. Der Spitzenkranz ihres weißen Sonnenschirmchens flatterte, die beiden aufrechten Kolibrifedern auf dem winzigen Toquehütchen bogen sich, die weiten Puffärmel bauschten sich bis zum Ellbogen in der sausenden Fahrt. Die war schon weit voraus. Der Fiaker schoß über die Brücke und verlor sich drüben im Wagengewühl des Rings ...

Der Einspänner trabte eine Weile bedächtig dahin, ohne daß der Fahrgast sich rührte. Der saß dumpf, wie von einem Donnerschlag betäubt, mit ratlosen Augen. Allmählich glomm in ihnen hinter dem Zwicker ein düsterer Grimm auf und schwelte um den zuckenden, noch ungläubig verbissenen Mund. Der Kutscher fühlte sich plötzlich von hinten am Arm gepackt und hörte eine heisere, ganz veränderte Stimme.

»Fahren's zum Stock im Eisen und halten's da voi dem Kaffeehaus!«

Einen echten Wiener und zumal einen alten Junggesellen suchte man nicht in seiner Wohnung. Die kannte man oft kaum. Wer ihm schreiben oder ihn sprechen wollte, der fand ihn am sichersten in seinem Stammcafé.

So saß auch der Feldmarschalleutnant im Ruhestand Freiherr Alfred von Morandell auf Tschitten um diese fünfte Nachmittagstunde vor seiner Schale Haut auf seinem Eckplatz am Fenster und schaute, die Virginia im Mund, auf die Roteturmstraße hinaus und schmunzelte, wenn ein hübsches Madel vorbeiging, obgleich er schon nahe an die siebzig war, aber geschniegelt und gebügelt wie nur irgendein alter Herr in Wien, den schlagrahmfarbenen Überzieher knapp bis zu den Hüften reichend, die Hosen über den Lackschuhen aufgekrempelt, daß man die kokett geringelten seidenen Socken sah, den bunten Schlips jugendlich flott geknotet, so wenig ein Lot Fleisch auf der hageren, eleganten österreichischen Armeegestalt wie einst in seinen jungen Jahren als Leutnant bei den seligen Sachsenkürassieren Nr. 3.

Die Runzeln in dem trockenen, ärarischen Gesicht des alten k. k. Reitersmanns zuckten. Er sagte, während er seinem Neffen Camillo Fronhofer die Hand gab, unter dem grauen aufgedrehten Radetzkyschnurrbart in der langsamen, die Silben betonenden Sprechart der Habsburger Offiziere: »Setz dich, mein Lieber!... Was is mit dir los?« ...

Ein heiseres Flüstern drüben: »Ich hab die Hansi eben in schlechter Gesellschaft gesehen!«

»Das hättest du schon öfter sehen können, wenn du halt Augen im Kopf hättest!« sagte die Exzellenz gemütlich. »Ich bin deiner Frau erst gestern in der Wollzeile begegnet. Und mit wem? Ich bit–te: mit der Mizzi Osmanos und der Frau von Hungar ...«

»Das mein ich nicht ...«

»Neulich – mit der Fritzi Stockvics Arm in Arm, wie zwei Schwestern! Sind ja fesche junge Frauen – Küß die Hand! Aber doch so eine ganze andere Gesellschaft! Der Herr von Hungar soll nach seiner letzten Getreideschwänze auf der Börse zum Weixselbaum gesagt haben: I geb dir mein Ehrenwort: I hab an dem ganzen G'frett noch nett a lumpige Million verdient ...«

Camillo Fronhofer hörte gar nicht mehr zu. Er hatte sich vom Kellner das Adreßbuch geben lassen und durchblätterte es mit fiebernden Fingern. Der Onkel Alfi leerte sein drittes Glas Wasser und fuhr fort: »Die einzige, die da helfen kann, das wär die Tante Lint! Ich hab ihr neulich schon ins Gewissen gepredigt, daß die Hanserl von der Frau von Osmanos und der Frau von Stockvics, mit denen sie als umeinander zieht, nix G'scheites lernt ... Denen beiden schickt der heilige Vater schon ganz sicher net eines schönen Tags die Tugendrose ...«

»Pürckenstein ...«, murmelte der Neffe und suchte düster im Adreßbuch ... »Pürckenstein...«

»Aber die Lintscherl hat nur gelacht! Die is mir die rechte, mit ihren weißen Haaren! Die bringt einmal ihr Pinkel Sünden in aller Unschuld bis vors Himmelstor und sagt dem Petrus sie hält sich nichts Böses dabei gedacht..«

Dr. Graf Gerolf von Pürckenstein, Hof- und Ministerialrat ... Nein ... das ist er nicht!«

»Wen suchst denn? Pürckensteins hat's viele!«

»Da: Graf Erwin Pürckenstein zu Altenpürck de Monte Pauli! Da hab ich dich! In der Herrengasse wohnt er! Im Pürckensteinschen Palais! Wart nur, Buberl! Dich ziehen wir an den Ohrwascheln vor ...«

Der ehemalige k. k. Kürassier hob den Graukopf. Er schnopperte einen Zweikampf. Er war oft genug selber in der Reitbahn, mit entblößtem Oberkörper, den trummen Säbel in der Faust, angetreten.

»Is was mit der Hansi, Camillo?«

»Ja.«

»Alsdann: Ich bin ein alter Esel. Aber mit die Geschichten kenn ich mich aus. Jetzt erzähl mal in aller Ruh, was passiert is.«

Als Camino Fronhofer geendet, nickte der Onkel Alfi als ein bedächtiger Wiener Lebenskenner.

»Wenn man wie ich kein heuriger Haas mehr is, mein Lieber,« sprach er, »dann nimmt man net gleich alles so tragisch, was bei uns passiert! Aus unserm alten Wien wirst nie ein Kloster machen! Das hat schon die Maria Theresia umsonst probiert ...«

»Wenn du nichts anderes weißt ...«

»Ich geh ja hin, freilich – ich geh ja hin – ganz wie du's willst – jetzt gleich, und stell den Hanswurst! Werden ja schauen, was er zu sagen hat ...«

»Ich will keine Erklärungen, sondern Genugtuung!«

»Wirst sie schon kriegen! Laß mich nur machen! Und du fahr unter der Zeit nur ruhig heim und blas der Hanserl einen tüchtigen Marsch. Is ihr ganz gesund, der leichten Fliege! Der Tante Lini darfst auch deine Meinung sagen! Die alte Urschel hält alleweil ihre Hand über solche Eskapaden ...«

Der Feldmarschalleutnant a. D. stand gelassen auf, prüfte sich im Wandspiegel und meinte, gemütlicher als es dem Neffen zu hören recht war: »Aber bring die beiden net gleich um – verstehst! So weit sind wir noch lang net! Ja – du zitterst am ganzen Leib, mein Lieber! Du bist außer dir! Deswegen sind ja grad die anderen da, daß sie kalt Blut in so Sachen behalten! Servus! Ich geh jetzt in die Herrengasse!«

Düster ragten in der engen Straße nahe der Hofburg die Paläste des historischen Adels der Donaumonarchie. Steinerne Fürstenhüte prangten über den Portalen. Gräfliche Kronen. Der Pförtner des Fürstlich Pürckensteinschen Familienpalais hatte die Gemessenheit eines Ministers. Innen in dem steinernen Treppenhaus wehte trotz der Sommerhitze draußen ein kalter Hauch. Ahnenbilder hingen an den Wänden. Eine Türkenfahne. Roßschweife. Ein paar riesige Lakaien kamen die Treppe herab. Sie unterhielten sich auf böhmisch. An dem Glasabschluß im Mezzanin stand ein kleiner, verkniffener, bartloser Kammerdiener in schwarzem Zivilanzug mißtrauisch vor dem Eingang zu der Junggesellenwohnung.

»Herr Graf belieben nicht daheim zu sein!«

»So, mein Lieber? Wann kommt er denn?«

Ein Achselzucken. Aber im selben Augenblick brachte draußen der Fiaker Matuschet seine wie aus dem Wasser gezogenen Jucker scheinbar ohne jede Zügelhilfe jäh aus vollsten Lauf zum Stehen. Drei Herren stiegen aus. Es war keine Dame mehr im Wagen. Die Hansi mußte schon unterwegs irgendwo abgesetzt worden sein. Der Freiherr von Morandell stellte das mit einem Blick durch das Flurfenster fest und zuckte erleichtert die Achseln: Kinderei – das Ganze! Spatzenköpfe sind's halt! Und der Camillo ein gar so ernsthafter Mensch...

Der Graf Pürckenstein hatte die ihm von dem Diener überreichte Karte des Besuchers gelesen.

»Geht's nur einstweilen in den Salon!« sprach er zu den andern und dann zu dem Feldmarschalleutnant mit der leichten Handbemegung eines jungen Herrn aus großem Hause: »Darf ich die Exzellenz bitten? Stehe zu Diensten!«

Sie traten in ein kleines Kabinett, das Erwin Pürckenstein aus unerforschlichen Gründen sein Arbeitszimmer nannte. Denn bei einer nützlichen Tätigkeit hatte ihn in den drei Jahrzehnten, seitdem sein Name das Gothaer Taschenbuch zierte, noch kein Mensch gesehen. Ein zweiter verbindlicher Wink nach dem Klubsessel.

»Wollen's Platz nehmen, bitt schön!«

Der alle Feldmarschalleutnant setzte sich.

»Sagen's mal: Ich glaub, ich hab Ihren Papa gut gekannt. War der nicht seinerzeit Rittmeister bei den Wurmser Dragonern in Mailand?«

»Ich bitte – ich war damals noch nicht auf der Welt!«

»Mit der Sisi Zwette verheiratet?«

»Freilich. Das war meine Mutter selig.«

»Also – dann waren wir gute Freunde: Ihr Vater und ich! Wir haben schon bei Custozza zusammen gefochten. Bei Solferino auch.«

»Dös freut mich sehr!«

Herr von Morandell beugte den verwitterten, trockenen k. k. Soldatenkopf vor und versetzte streng: »Also, Graf – was is denn das? Was machen's denn da für G'schichten?«

»Bit–te?«

Erwin Pürckenstein schaute den Besucher unschuldig und freundlich an. Ein Kind konnte nicht harmloser sein.

»Sie sind gesehen worden ... vorhin ... mit der Gnädigen im Prater...«

»Ja – wie soll ich's denn anstellen, daß i nit gesehen werd, bei die vielen Leut? I kann doch nüt zaubern!«

Liebenswürdige Einfalt. Ein kugelrunder, kurz geigelter Kopf mit abstehenden Ohren, niedere fliehende Stirn, kleine, nichtssagende Augen, englisches Bürstenbärtchen – ein zollanger Mandarinennagel am linken kleinen Finger. Der Feldmarschalleutnant von Morandell dachte sich: weiß der Kuckuck, was die Hansi gerad an dem Früchtel findet! Er räusperte sich. »Der Herr von Fronhofer ist ein Tag früher von der Reise zurückgekommen! ... So! Da haben's die Pasteten!«

»Aber bit–te!«

Im Wasserblau der Augen drüben spiegelte sich ein mattes Erstaunen. Er wiederholte: »Aber bit–te ...« »Der Herr von Fronhofer fährt vom Bahnhof nach Haus ...«

»I hab nix dagegen...«

»... und sieht in der Praterstraße, wie Sie mit seiner Frau da umeinander fahren ...«

»Aber bit–te ... Was is denn da dabei?«

»Graf! – Wir sind hier net im Burgtheater! Sie sind net der Sonnenthal und ich net der Mitterwurzer! Wir spielen hier keine Komödie!«

»Aber bit–te...«

»Wissen's, Graf: Die Sach is ernst! Der Herr von Fronhofer ist in einer furchtbaren Aufregung. Er verlangt Genugtuung ...«

»Aber bit–te...«

Diesmal klang es lässiger von den Lippen des jungen Mannes Obenhin. Er hatte eine mittelgroße, anscheinend schmächtige Gestalt. Aber der alte Morandell wußte: Das saß mit dem fünften Jahr im Sattel. Das spannte seit dem zehnten Jahr auf den böhmischen Gütern das Jagdgewehr. Das lag seit dem fünfzehnten Jahr halbe Tage auf dem Fechtboden und dem Pistolenschießstand. Er sagte sich: Wenn da kein Wunder passiert – der Bub macht ja ein Kronfleisch aus dem Camillo ...

Aber der Erwin Pürckenstein war ein gutmütiger Mensch. Er versetzte lebhafter als bisher: »Bitte doch den Herrn von Fronhofer zu beruhigen. Exzellenz...«

»Dazu braucht's ausreichende Erklärungen, Graf!«

»Bit–te: Was is da zu erklären? Warum soll Gnädige ohne jeden Grund durch Zweikampf kompromittiert werden? Alte Jugendfreundschaft. Lang, ehe der Herr von Fronhofer Gnädige überhaupt kennengelernt hat – viele Jahre vorher haben Gnädige und ich uns schon gekannt und miteinander getanzt, wie ich noch Kadettstellvertreter war und sie ein Tschaperl von sechzehn oder siebzehn. I hab sie sogar schon gesehen, ehe sie gefirmelt wurde ... im Haus von der Tante Lintscherl, der Frau von Matula ...«

»I weiß schon ...«

»Also ich bit–te: Was is hernach dabei, wenn ich harmlos wie Bruder und Schwester mit der Gnädigen durch den Prater fahre! Wenn wir noch allein gewesen wären! Aber weil i schon weiß, was es für schlechte Leut gibt, hab ich expreß noch meinen Vetter Zwettl und den Wenzel Hauzenberg mitgenommen! Den hat der Herr von Fronhofer vielleicht in der Eile gar net bemerkt...«

»Er hat sie schon gesehen!«

»Ja. aber bit–te ...« Graf Pürckenstein war ganz hilflos vor Erstaunen und sanft und zutraulich wie ein Kind. »Was is denn nachher geschehen? Wenn's dem Herrn von Fronhofer net recht is, daß sich die Gnädige a kleine Hetz gönnt, muß er ihr's halt verbieten. I kann's net wissen!«

»Sie wissen's ganz genau, Graf! Sie wissen, daß man denken muß, 's steckt mehr dahinter! Das denkt jeder, und der Herr von Fronhofer besonders!«

Der Erwin Pürckenstein lächelte freundlich und sprach ganz offen: »Belieben Exzellenz: Wann i a Verhältnis mit einer Frau hab, dann fahr i doch net mit ihr am hellen Tag durch den Prater! Dös war doch zu dumm! Net? Dös sagt sich ein Waisenkind! Dös geben doch Exzellenz zu?«

Der Onkel Alfi war bei Jahren und hatte viel hinter sich ... Und gerade auch in diesem Punkt ... Seine Züge blieben dienstlich streng. Aber es war doch so etwas, worin die beiden, der alte und der junge Aristokrat, sich durch einen Blick verstanden. Dann versetzte der grauköpfige Junggeselle: »Sie müssen zugeben. Graf, daß Sie zum mindesten höchst unvorsichtig waren ...«

»Dös tut mir von Herzen leid! ... Bitte meinen Respekt an den Herrn von Fronhofer, und es wird net wieder vorkommen!«

»Aber es is vorgekommen ...«

»Bitte meinetwegen meine Entschuldigung zu bestellen! I hab mir wirklich nichts Schlimmes dabei gedacht!«

»So ... hm ...«

»I geb der Exzellenz mein Kavalierwort für den Herrn von Fronhofer. Es is nix, aber auch gar nix vorgekommen, in den ganzen sechzehn Jahren, seit ich Gnädige kenne! Dös muß doch dem Herrn von Fronhofer genügen! I bin an friedfertiger Mensch! Fragen's nur jeden, der mich kennt! I will keinen Streit. Schon wegen der Gnädigen net!«

»Ich werd's halt meinem Neffen ausrichten!« Herr von Morandell erhob sich. »Servus einstweilen, Graf!«

»Hab die Ehre, Exzellenz!«

Erwin Pürckenstein hatte seinen Besucher bis zum Ausgang geleitet und trat nun in seinen Salon, der eigentlich eine Sammlung von Jagdprunkstucken aus seiner letzten Streiffahrt nach Nairobi in Britisch-Ostafrika war. Auf dem an eine abgebalgte gelbe Dogge erinnernden Fell einer halbwüchsigen Löwin, die er selbst dort geschossen, wiegten sich der Edi Zwettl und der Wenzel Hauzenberg in den Schaukelstühlen. Sie sahen ungefähr ebenso aus wie er, nur daß der Graf Zwettl viel kleiner, von einer Art Jockeigestalt war und der Dr. jur. Prinz Hauzenberg nur einen englischen Bartstreifen an den Wangen in dem sonst glattrasierten Gesicht trug. Er gähnte: »Du – das war doch der alte Morandell? Den kenn ich doch!«

Eine beruhigende Handbewegung: »... Is schon alles in der Reih!«

»Wie is mir denn: Is das nicht ein Onkel zu dem ...«

»Laßt's mich jetzt endlich mit dem Herrn von Fronhofer aus!« sagte Graf Pürckenstein verdießlich. »Wegen meiner mag er zum Teufel gehn! Oder zu die Preußen! Die liebt er ja so! Da gehört er hin!«

»Wann ich bloß nix von die Preußen hören muß...«, sprach der Edi Zwettl, das verkümmerte Rasseköpfchen über die Lehne des Schaukelstuhls geworfen. Aber der Prinz Hauzenberg meinte gedankenvoll: »Wir müssen alle zu die Preußen.«

Er war ein schöner Mensch. Groß und riesenstark gewachsen. Aber die Züge womöglich noch leerer und nichtssagender als die der andern. Die Augen noch schläfriger. Die Worte noch langsamer und lässiger, mit Absicht recht im Wiener Fiakerdeutsch.

»Zu die Preußen? Fangt's den Wenzel! Bei dem rappelt's!«

Aber im Gesicht des Dr. jur. Prinzen Wenzeslaus von Hauzenberg-Trabucchi, k. u. k. Legationssekretär, zurzeit auf Urlaub in Wien und am Ballhausplatz Nr. 2 lieb Kind, ging plötzlich eine merkwürdige Veränderung vor. Wie durch eine durchsichtig gewordene Maske unergründlicher Blasiertheit, Unwissenheit und Gleichgültigkeit leuchtete aus dem Innern die durch Jahrhunderte vererbte Habsburger Kunst, mit Menschen umzugehen – eine Kunst, die in ihrer abwartenden Geduld nichts Deutsches an sich hatte. Slawische Verschlagenheit spielte in diesem lauernden Lächeln. Welsche List.

»Wir ziehen in der Monarchie den Karren nicht mehr allein aus dem Dreck«, sagte er. Österreich braucht Vorspann!«

»Wen denn?«

»Das Reich! Die Deutschen!«

»Die werden dir was malen!«

»Die werden nix merken, mein Lieber! Der Bismarck lebt ja noch. Aber er is längst weg! Der hätt freilich was gemerkt! Aber die arme Leut jetzt da oben ...«

»Was willst denn mit ihnen machen?«

Man hätt schwören können, der Wenzel Hauzenberg wäre der dümmste Kerl der Welt. Treuherzig in seinem schmeichlerischen Wienerisch, weltfremd in seinem Dünkel. Halt ein Hocharistokrat und weiter nichts. Eine Beute jedes in den Alten erfahrenen Geheimrates in der Wilhelmstraße, ein Spielzeug jedes neu angestellten Assessors in Berlin.

»Österreich steht und fällt mit dem Balkan!« sagt er, eine undurchdringliche Leere auf dem gelangweilten Gesicht. »Wir Österreicher können auf die Dauer allein den Balkan net halten. Der Bismarck hat g'sagt: ihm wär der Balkan noch nicht die Knochen von einem pommerschen Grenadier wert! Den Bismarck haben's heimgeschickt! Jetzt müssen wir den pommerschen Grenadier behutsam unter den Arm nehmen und auf den Balkan führen.«

Die beiden andern, der Erwin Pürckenstein und der Edi Zwettl schauten sich hilflos an. Die beiden waren wirklich beschränkt.

»Plausch net, Wenzel! So dumm sind die Deutschen net!«

»Man muß sich halt dumm stellen. Für g'scheit halten's sich schon selber dort oben! Der Deutsche, mein Lieber, der will immer kommandieren. Wann du ihn denken läßt, er kommandiert, dann bringst du ihn, wohin du willst, und auch aus den Balkan! I seh ihn schon da für uns Schildwach stehen!«

»Wenzel – Wenzel – du wirst noch Minister!«

»Einfältig genug bin i dazu!« sagte der Hauzenberg. »Gelernt hab i eh nix! Malteserordensfähig bin i auch! Also – woran fehlt's? Wir werden schon mit die Preußen fertig. Laßt's uns nur machen! Dös geht net von heut auf morgen. Wir stellen unser Habsburg ganz piano auf Berlin ein – ganz still – bis sie nimmer zurück können. weil sie nimmer von uns los können! Wenn's so weit is, dann hat die arme österreichische Seele Ruh!«

»Und bis dahin?«

Der Prinz Hauzenberg zuckte gemütlich die Schultern. »Bis dahin tun wir, was wir immer in Österreich getan haben: wir wursteln halt weiter!«

Der Feldmarschalleutnant schritt inzwischen quer über den menschenwimmelnden, sommergrünen Ring hinüber nach Mariahilf. Gleich hinter der Infanteriekaserne wohnten da die Fronhofers im zweiten Stock eines eleganten Neubaus, der nichts von der traulichen Dunkelheit und Enge Altwiens drüben in sich barg.

»Natürlich – die Lintscherl! Ohne dich geht's ja net!«

Die verwitwete Frau von Matula saß königlich in dem ersten Zimmer. Immer noch ein Bild für einen Maler. Immer noch die klassische Linie des Profils, die vor einem halben Jahrhundert, unter dem Metternich, Wien entzückt hatte. Unter dem Schnee ihres Scheitels brannten die heißen, schwarzen Augen. Die roten Lippen lächelten mild und schmerzlich wie die einer Madonna. Sie wies mit einer mitleidigen Schulterbewegung nach der offenen Nebentür, die sie bewachte.

»Das arme Hanserl!« sprach sie gefühlvoll, mit gerungenen Händen. »Das arme Hanserl ...«

Die beiden, der Onkel Alfi und die Tante Lini, tauschten einen Blick. Der alte Junggeselle und die ewig schöne Frau von Matula waren seit fünfzig Jahren nebeneinander ihren Lebensweg an der blauen Donau gegangen. Sie kannten sich wie der rechte und der linke Schächer. Sie machten einander nichts mehr vor. »Menschen ... Menschen san mer alle!«, sangen bald wieder draußen beim Heurigen die Volkssänger von Grinzing.

»Eine Heilige is die Frau! ...«

»Ah geh ...«

»Sie hat alle Vorwürfe vom Camillo über sich ergehen lassen wie a Lamperl! Rührend hat sie dagesessen! Mir ist das helle Wasser in die Augen geschossen!«

»I bin ja so stolz!« sprach nebenan die Hansi. Ihr Gesichtel war totenblaß, gläubig die großen Kinderaugen nach oben gerichtet, wie bei einer Märtyrerin. Sie stand, die Finger ineinandergeschlungen, ein Bild der Demut, mitten im Zimmer. »I bin ja so stolz, daß der Camillo gar so eifersüchtig is! Jetzt weiß ich, wie lieb er mich hat!«

Die Tante Lini trocknete sich die Tränen. »Einen Stein könnt es rühren, Alfi!«

»Er soll mich nur umbringen, mein lieber, süßer Camillo, wenn ich auch unschuldig bin wie das Kind in der Wiegen. I mucks mich net! Ich küß ihn noch im Sterben!«

»Jessas... Jessas,.. red't dös Mädel g'schwollen!«

»Schäm dich, Alfi! ... – Freilich – So ein alter Drahrer wie du ...«

»I verzeih ihm alles! Wenn man einen so liebt, wie ich den Camillo, da darf er mit mir machen, was er will!«

»Haben's denn schon miteinander gered't?«

»Die längste Zeit«, sagte halblaut die Edle von Matula. »Eben is er erst hinüber in sein Zimmer.«

»Was war denn da hernach?«

»Das arme Hascherl hat ihm halt einmal über das andere geschworen, daß es keine treuere Frau in Wien gibt als sie! Sie sei rein wie ein Engel! Sie macht die Augen zu. Sie duldet gern. Er soll nur zustoßen – mitten in ihr Herz, das für ihn schlägt.«

»Du Katzel ... du ...«, sprach der alte Morandell gutmütig.

»Sie is ja hart gestraft für die kleine Unbesonnenheit mit der Spazierfahrt, sagt sie. Ja – ich bitte: Warum läßt der Camillo seine Frau allein ...«

»I weiß nöt! I hab keine Frau. Gott sei Dank!«

»Aber sie hat's sich schon so lange gewünscht, nur ein einziges Mal mit dem Matuschek seinem Zeugl durch den Prater zu fahren. Es is das fescheste Zeugl von Wien ...«

»Und der Pürckenstein?«

»Immer wieder hat sie so sanft gesagt ... aber so gar lieb: ›I hab nix zu beichten!‹ und still das Köpfel geschüttelt. ›Mei Gewissen is rein! Der Erwin Pürckenstein und ich – wir kennen uns ja schon fast, seit wir auf der Welt sind. Wir sind zusammen aufgewachsen. Wir sind wie Vetter und Cousine ...‹«

»Ja – was soll er dazu sagen? Schließlich is er ganz still geworden und hinüber in sein Zimmer gegangen!«

»Da is er noch?«

»Da wartet er auf dich! Ihr müßt ja gleich schießen und hauen, ihr Männer! Er hat dich ja schon zum Pürckenstein hingeschickt. Es ist ja schon zu allem zu spät: Ob dann die Leut auf die arme Hansi mit Fingern zeigen, wenn ihr sie erst glücklich mit eurem Blutdurst ohne Not ins Gered gebracht habt ...«

»So weit sind wir noch nicht, Lintscherl!«

»Ich glaube, sie geht in den Kanal, wenn dem Camillo was passiert. Der Pürckenstein soll erst neulich beim Preisfechten in der Akademie ...«

»Ach – der Pürckenstein ist froh, wenn man ihm sei Ruh läßt!« versetzte der alte Herr ärgerlich und ging hinüber zu seinem Neffen. Sie sprachen eine Viertelstunde miteinander oder vielmehr: Er sprach, in seinem pedantisch langsamen, eindringlichen Armeedeutsch. Man hörte ein paarmal: »Nachdem der Pürckenstein dich um Entschuldigung gebeten und jede Erklärung abgegeben hat« ... Dann wurde es wieder undeutlich. Und dann kam er heraus und hatte Camillo Fronhofer an der Hand und führte ihn hinüber zu seiner Frau, und die Tür schloß sich hinter den beiden.

Der Onkel Alfi und die Tante Lini saßen im ersten Gemach. Sie redeten nicht viel miteinander. Sie warteten. Auf einmal klang aus dem Nebenzimmer ein leises, silbernes, glückliches Lachen der Hansi.

Der Freiherr von Morandell atmete auf und erhob sich. »Servus! I geh! I hab das meine getan! Grüß das junge Paar!«

»Gelobt sei Jesus Maria! 's alles wieder in der Reih!«

»... wieder mal ...«

Ein wenig Unruhe lag doch über Frau von Matulas weißhaarigem Aphroditenhaupt.

»Wie meinst denn, daß es in Zukunft mit den beiden wird. Alfi?«

Drüben zuckte es schicksalergeben, in einer herbstlichen heiteren Wehmut über die tausend Falten des alten österreichischen Gesichts. »... wie's immer bei uns geht, mei Lintscherl! Es wird halt fortgewurstelt ...«


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