Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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XIII.

Aber wer sind diese Stimmen, die des Nachts rufen? Diese Stimmen in schlaflosen Nächten, nach schwerem Tagewerk? Diese fernen Stimmen in tiefster Stille: Das Leben ist nicht nur Arbeit, wie du Armer wähnst, das Leben ist auch Erfüllung ...

Und was ist das für ein fernes Leuchten nachts am Sternenhimmel über einem: Das Leben ist nicht nur Pflicht, wie du Sklave denkst, das Leben ist auch Licht.

Und was ist das für ein Licht, ein geheimnisvolles, fernes Frühlicht im Osten, auf das du harrst und hier einsam im Dunkel stehst? ...

Leo Nimis stand auf der langen, leeren Terrasse des Wohnhauses von Lütthahn. Ein Schatten vor schwarzem Hintergrund. Es war noch volle Nacht. Die Zeit des schwersten Erdenschlafs der Sterblichen. Aber nicht mehr weit von Tag und Tau. Es konnte nur noch eine kurze Spanne Zeit währen, bis die ersten fahlen Streifen drüben gegen Westfalen zu den grauenden letzten Märzmorgen anzündeten. Jetzt dunkelte noch die weite Ebene. Die Purpurflocken der Hochöfen atmeten in ihr da und dort ihre stille Glut. Zuweilen drangen, sonderbar deutlich, scheinbar ganz nah, halblaute Männerstimmen aus der Tiefe. Bergleute, die zum Schichtwechsel durch die Nacht hier oben nach der ewigen Nacht der Schächte gingen. Die Arbeit ruhte in Deutschland nicht ... Arbeit ... Arbeit war das Leben. Deutschland arbeitete vom Morgen bis zum Abend, arbeitete die Nacht hindurch, arbeitete mit allen Fibern und Fasern, arbeitete mit Nägeln und Zähnen, arbeitete um der Arbeit willen, war eine ungeheure Arbeitsmaschine aus Menschenwitz und Menschenleibern. Die Blumen verdorrten, die Quellen versiegten, die Vögel flogen weg, die Sonne verfinsterte sich im Rauch, die Gesichter wurden hart und verbissen. Die Walze Arbeit wälzte sich weiter über deutsches Land. Deutschland arbeitete ... arbeitete ... arbeitete ...

Ein Morgenwehen strich aus irgendwelcher Ferne über die Terrasse und flüsterte gleich einer warnenden, lockenden Menschenstimme um Leo Nimis' bloßen, blonden Kopf. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne. Er dachte sich: Was ist das mit mir, daß ich – ich, der erste Arbeiter von Lütthahn, die gefürchtetste Arbeitskraft am Niederrhein weit und breit – in solche Stimmungen des Müßiggangs verfalle? Wie sollen dann die vielen tausend anderen Arbeiter ihr Letztes hergeben? Das verlange ich von den Arbeitern doch? Ich bin ja ewig mit der Hetzpeitsche hinter meinen Mitmenschen her – so gut wie hinter mir selbst ... Die Nerven halten mich zum Narren ... Die anderen Menschen sind gescheiter. Die schlafen jetzt und warten, bis ich sie wieder mit der Dampfpfeife und Fabrikglocke aufjage! ... Ich stehe allein und mache und warte. Ja, auf was denn? Man sieht ja sein Leben vor sich. Die Dampfwalze Arbeit rollt die schnurgrade Chaussee entlang. Jahr um Jahr. Meilensteine am Weg: vierzig ... fünfzig ... sechzig Jahre ... bis zum Endpunkt ... ein Grabkreuz ... undeutlich ... noch ganz in der Ferne ...

Nein. Ein Mensch wachte doch noch außer ihm. Drüben im Haus waren zwei Fenster matt erhellt. Der alte August Buschbeck, der Schwiegervater, lag schlaflos und rauchte die Nacht hindurch. Er lag schon seit einem halben Jahr ständig im Bett. Ein entthronter alter Tyrann. Er kämpfte so zäh mit seinem Magenleiden und dem Meister Tod wie früher mit den Menschen. Die Ärzte begriffen es nicht, daß dies unwirsche Skelett aus Haut und Knochen kraft seines Willens immer noch ganz schadenfroh und gemütlich weiterlebte.

Eine Turmuhr unten schlug langsam die fünfte Morgenstunde. Leo Nimis drehte sich kurz um und schritt in das totenstille Haus. Es war zu spät, sich noch einmal zum Schlafen hinzulegen. In seinem Arbeitszimmer war es warm und brannte die Lampe. Die Bediensteten wußten, daß der Generaldirektor von Lütthahn oft genug dasaß und sich durch Brief- und Aktenberge hindurchfraß, ehe noch draußen die ersten Hähne krähten.

Leo Nimis setzte sich und griff mechanisch nach den nächsten aufgeschichteten Stößen von Schriftstücken. Wie durch ein hoch gezogenes Wehr schossen die Wellen von Wünschen, Bitten, Drohungen, Geschäften, Berichten, Befehlen der Außenwelt über ihn herein. Zu oberst ein Handzettel des alten Buschbeck, wie er ihn des Nachts alle paar Stunden, während er über das Geldverdienen nachsann, auf alle Fälle durch den Krankenwärter seinem Schwiegersohn für den nächsten Morgen auf den Schreibtisch legen ließ: »Vernachlässige das südrussische Geschäft nicht! Die Mannheimer Konkurrenz hat in Sinelnikowa und allen anderen Eisenbahnknotenpunkten Reklametafeln von landwirtschaftlichen Maschinen aufgehängt.«

Eine neunzackige Krone: Der Schwager Graf Mettenberg. Der Bau der Nachahmung der Lourdesgrotte im Park von Abdinghof verschlang ungeahnte Mittel. Neue Zuwendung zu dem heiligen Zweck ebenso unbedingt wichtig wie zum Peterspfennig ...

»Bezugnehmend auf die Beschlüsse des zehnten Berufsgenossenschaftstages im Vorjahr 1896 machen wir darauf aufmerksam, daß das von Ihnen eingelegte Rechtsmittel des Rekurses gegen das Schiedsgericht für Arbeiterversicherung an das Reichsversicherungsamt ...«

Ein Brief vom Schwager Max Buschbeck, dem Klubmann: »Es war eine Folge unfaßbaren Pechs, daß das Gestüt Marienwörth auch dieses Jahr wieder mit einem so kolossalen Fehlbetrag abschloß. Aber gedeckt mußte er im Interesse der Vollblutzucht werden. Also bitte, mein lieber Leo, mache die Moneten locker!«

»Euer Hochwohlgeboren! Unabweislich drängt sich der Bau protestantischer Kirchen in den Großstädten auf! Dem Volk muß die Religion erhalten bleiben. Das Berliner Komitee naht Ihnen daher mit der Bitte ...«

»Hort für schwachsinnige Kinder der Rheinprovinz. Die Tertianerinnen von St. Vincenz.« Ja. Unterschrift unter den Scheck.

Geheimes Rundschreiben: »Die japanische Kommission unter Führung eines vom Berliner Auswärtigen Amt empfohlenen Herrn Sugimura, die zurzeit angeblich zum Zweck der Anknüpfung deutsch-japanischer Freundschaftsbeziehungen das Industriegebiet bereist, verfolgt ausschließlich Fabrikationsspionage.«

»... und können Sie, verehrter Herr Generaldirektor Nimis, die gehässigen Anwürfe einer gewissen Presse durch den einfachen Hinweis auf die Tatsache widerlegen, daß nach den amtlichen Tabellen im Vorjahr 1896 auf 1000 Versicherte 19,8 Verletzte kamen, während der Prozentsatz in Lütthahn nur 13,4 betrug ...«

»Was gibt's?«

Leo Nimis fuhr im Sessel herum. Der Schatten des Krankenwärters war auf Filzparisern hereingehuscht. Ein neuer Bleistiftgruß von dem schlaflosen Alten drüben.

»Wie steht's in Venezuela? Schläft eigentlich unser Vertreter in Maracaibo?«

Eine Nachtdepesche: »Unser Schriftsatz in Patentprozeß kontra Schwendemann betont, daß nach Reichsgerichtsentscheid subjektiver Irrtum über Tragweite des Patents kein Ausschlußgrund für Wissentlichkeit ist ...« Da war der Wärter schon wieder. Der alte Buschbeck hatte Blut geleckt, seit er seinen Schwiegersohn wach wußte. Erbost gekritzelte Schriftzüge: »Dampfpflüge über 10 P.S. für Südrußland natürlich zu schwer! Leichte Einmaschinen! Rundherumsystem! Grubber!«

»Also i bitt schön, lieber Bruder Leo – Du hast's ja dazu. Hilf Deiner armen Hanserl! Ich darf meinem Mann mit den faden Rechnungen gar nicht mehr kommen! Der Camillo wird gleich wild wie ein Türk! Unsere Ehe ist die Höll auf Erden! Sei lieb und schick das Geld recht bald an das Modehaus Spatzier, Wien I. Kärntner Straße, und an den k. k. Hofjuwelier Galitzer am Burgring ... Deine treue Schwester Hansi.«

»Auf zum Kampf gegen die Tuberkulose ...«

»Vertraulich: Lieber Generaldirektor! Die vereinigten bürgerlichen Wahlausschüsse verlangen Ihre Landtagskandidatur! Der Name Nimis allein hält die disparaten Elemente zusammen!

Gruß Bergrat Killing.«

»Lieber Vetter Leoche! Lasse Dich nicht von dem Killing und seinen Ordnungs-Heulmeiern auf den Leim locken! Was soll denn ein vernünftiger Mensch wie Du unter den Ostelbiern am Dönhoffplatz? Meine Leute verlieren bloß das letzte Zutrauen zu Dir. Die ›Freie Stimme‹ bringt heute schon einen scharfen Artikel gegen Deine Rückwärtserei!

Dein Vetter und Proletarier Robert Nimis.«

Rein persönlich: Privatbrief: Direktor Scholz vom Syndikat:

»Wir müssen Sie daher wiederum allen Ernstes darauf aufmerksam machen, sehr verehrter Herr Generaldirektor Nimis, daß Ihre ständig betonte, beinahe ausschließliche Vertretung der Arbeiterinteressen in Lütthahn diesseits peinlich empfunden wird und eine Störung des Geschäftes darstellt, die ...«

Die Polizeidirektion. Inoffiziell: »Nach Mitteilungen aus Zürich haben wir mit der Möglichkeit des Auftauchens anarchistischer Elemente hierorts zu rechnen. Es würde sich empfehlen, in nächster Zeit namentlich die Förderschachte zu überwachen ...«

»Lange lebst Du nicht mehr, Du Hund!« Drei Kreuze.

»Der Kriegerverein bittet ...«

Eine Damenhand. Zweiundzwanzig Seiten. »Sie werden sich wundern, daß eine Unbekannte an Sie schreibt, und sich vergeblich den Kopf zerbrechen, wer ich wohl sein mag und wie ich wohl dazu komme, mich an Sie zu wenden?«

»Ich bin keiner der gewöhnlichen, für die Gummizelle reifen Erfinder! Meine Entdeckung, alle Leiden der Menschheit mit einem Schlag durch Krotonöl zu heilen, revolutioniert die Welt! Schon in der Heilanstalt, aus der ich kürzlich meinen Austritt erklärte ...«

Leo Nimis las das alles mit dem gleichen phlegmatischen Interesse durch. Priatschublade. Vermerk für den Seketär. Papierkorb ... Papierkorb ... Papierkorb. Der Jahrmarkt des Lebens tanzte mit Hammerschlag und Pritschengeklingel, geballter Faust und bittender Hand, goldenem Kalb und lahmem Amtsschimmel, Schweiß und Tränen, Not und Narrheit an ihm vorbei, heute wie jeden Tag. Da murmelte wieder der Schatten aus der Krankenstube: »Herr Geheimrat lassen Herrn Generaldirektor bitten!«

Der mächtige Raum, in dem der alte Buschbeck lag, war beinahe ein einziges Dunkel. Nur zwei Lichtpunkte glommen in ihm: Ein Nachtlämpchen auf dem Tisch und die brennende Havanna im Bett. Aus der Gruft der Kissen klang es hohl wie schon aus einer andern Welt: »Leo! Morgen ist der 1. April 1897! Bismarck wird zwelundachtzig Jahre alt! Wir wollen ihm eine besonders schöne Glückwunschdepesche schicken!«

»Rödicke hat sie schon aufgesetzt!«

»Kinder .... macht es diesmal doch recht schwungvoll! Ich hab so eine Ahnung: Lange feiert der Fürst nicht mehr seinen Geburtstag, und lange gratulier ich ihm nicht mehr dazu! Es geht alles zum Alteisen ...«

Die Stimme im Dunkeln schwieg erschöpft. Der alte Gewaltmensch, der sonst alles unter die Füße trat, lag still zu den Füßen des noch Gewaltigeren und sah andächtig zu ihm auf. Leo Nimis ging leise hinaus.

Drüben breitete die Hängelampe ihren traulichen Goldkreis über die Wiener Kaffeemaschine, die Tassen und Semmeln und Teller. Seine Frau saß, während noch draußen der Tag dämmerte, schon mit den Kindern am Frühstückstisch. Sie gehörte zu den Menschen, die morgens am muntersten waren, die es ungeduldig zu den Pflichten des Tages hinausdrängte wie das Pferd ins Freie. Ihr ruhiges, regelmäßiges Gesicht, das hell von der Lampe beschienen war, geigte eine zusammengefaßte Bestimmtheit des Aufgehens im Dienst, wie sonst bei gewissenhaften Beamten. In den tief unter den dunklen Brauen liegenden blauen Augen leuchtete, als er eintrat, die freundliche Liebe zu ihrem Mann... Eine Liebe, die nicht nur aus dem Herzen, sondern auch aus dem Kopf kam, dessen klösterlichen, schwarzen Scheitel sie zurückbog, um seinen Gutenmorgenkuß zu empfangen. Es war eine Begrüßung wie zwischen zwei guten Kameraden, die der gleiche Pflichtenkreis einte. Frau Ottonie Nimis war, obwohl es wenig über sechs Uhr morgens war, schon fertig für den Tag angezogen, aber so bewußt schlicht, daß man sie für die Erzieherin der Kinder hätte halten können. Sie erhob ihre hohe, schlanke Gestalt, um die Hängelampe auszudrehen – denn nun war es wirklich draußen Tag geworden – und sagte, während sie mit der gleichen sorgfältigen Sachlichkeit, mit der sie alles tat, ihm Kaffee eingoß und ein Brötchen strich: »Du – ich hab eben nach dem Doktor geschickt. Camillchen hatte die Nacht ein wenig Abweichen. Es ist nichts Besonderes. Aber bei einem Kind von achtzehn Monaten muß man vorsichtig sein!«

»Und der Peterli krächzt mir auch, scheint es!«

»Er hustet schon seit gestern. Er darf mir heute nicht ins Freie.«

Otto und Peter, die beiden stämmigen fünf- und vierjährigen Flachsköpfe, saßen hinter ihren Milchbechern und futterten emsig und stumm.

»Du, Leo, Papa hat heute nacht wieder dem Wärter die Wärmflasche an den Kopf geworfen!«

»Gib dem Mann 'nen Taler!«

»Mama liegt! Sie hat ihre Migräne.«

»So...«

»... und ihre geliebte Schneider ist tief gekränkt: Du hättest ihr gestern abend nicht Gute Nacht gesagt!«

»Mag sich die alte Spinatwachtel unter den Dampfhammer legen!« Leo Nimis griff gleichmütig nach der Morgenpost. Die häufte sich, obwohl das Geschäftliche bereits abgetrennt war, noch in einem dicken Stapel vor seinem Platz.

»Leo! Fräulein Schneider ist auch ein Mensch!«

»Halbfabrikat!«

»... und alle Menschen sind einander gleich ...«

»Wenn das wahr ist, Kinder, dann macht ihr doch mal meine Arbeit ein paar Tage.« Er entfaltete zerstreut die Berliner Zeitungen. »Ich wäre froh!«

»Ich muß gleich nachher hinunter ins Dorf. Es hat wieder Krach zwischen den Hauspflegerinnen gegeben! Die Schwester Thekla ist in einer Weise unverträglich! Lange geht es nicht mehr mit ihr ...«

»Schmeiß sie rauß!«

»Gerade jetzt, wo der Keuchhusten grassiert? ... Ottochen, wirst du gleich den Peterli nicht so knuffen! Du mußt ihn mal durchwichsen, Leo! Die Großmama verzieht sie zu arg! Ja – ich muß dann noch wegen des Konsumvereins mit dir sprechen! Da sind wieder Quertreibereien ...«

»Nachher, Kind! ... Die Kurse sind mir jetzt wichtiger!«

Luise Tiefbau. Harpener. Gelsenkirchen. Dazwischen ein Schluck Kaffee. Kuxe. Kohlenkartell. Kohlenrauch am bleigrauen Himmel, vor den Fenstern. Schwarze, schwere Schwaden weithin über dem Land. Das Eifern ferner und naher Dampfpfeifen: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« ... Arbeit... Arbeit ... Arbeit... Arbeit ist das Leben! Gleichmäßig dreht sich das Tretrad der Pflicht. Schwingt das Rad des Seins, bis es einmal langsamer läuft und stillsteht. Und alles so grau ... Wo war nur auf der Welt die Sonne? Irgendwo mußte sie doch sein. Er dachte sich: Früher, in meinen jüngeren Jahren, hab ich die Sonne glühen gesehen über allen Weltteilen und hab ihr Lachen nicht verstanden. Dann dachte er sich weiter: In meinen jüngeren Jahren? Ich bin ja erst fünfunddreißig! Fange ich denn schon an zu altern in dem ewigen Glockenschlag einer Arbeitsstunde nach der andern? Donnerwetter – da unten läuten sie schon in Lütthahn ... Ich muß mich mit dem Frühstück eilen ... Sonst machen sie wieder irgendeine Dummheit, bis ich komme ...

»Du, Leo – meine Schwester hat geschrieben! Aus Berlin!«

Ottonie Nimis entfaltete den Brief der frommen, kleinen Gräfin Mettenberg.

»Was macht denn das Tinettchen in Berlin?«

»Ihr Mann hat inoffiziell auf dem Kultusministerium zu tun. Sie schreibt: Man kennt sich nicht aus vor lauter Festen .. Den ganzen März hindurch die große Hundertjahrfeier für den alten Kaiser Wilhelm. Denkmalsenthüllung am Schloß, Fackelzug der Studentenschaft. Festkommers. Es reiht gar nicht ab, sagt sie ...«

»Sie soll doch nach Hause, wenn es ihr zuviel ist.«

»Da geht es ja jetzt noch bunter zu! Da kommen jetzt im Frühjahr alle die rheinischen Feste. Denkmalsenthüllung in Köln. Großes Fest auf dem Gürzenich. Feierlichkeit in Bielefeld. Im Mai: Sängerfest in Frankfurt. Im Sommer das Festmahl der Rheinprovinz in Koblenz. Die große Parade in Homburg. Dann wieder ein Festmahl in Köln. Ihr Mann müsse wegen seiner Stellung fast überall dabei sein, schreibt sie, und wenn das schon bloß hier am Rhein mit den Festen so zuginge – welch ein Trubel von Feierlichkeiten und Hurra müsse dann jahraus, jahrein im ganzen Reich herrschen ...«

Leo Nimis hatte nur noch halb zugehört. Er überflog einen Privatbrief des Vertreters des Lütthahnkonzerns in Petersburg.

»... denn die gegen Deutschland gerichtete Spannung der europäischen Lage ist hier eher noch im Wachsen. Die Freundschaft zwischen Petersburg und Paris ist dicker als je. Am Hofe wächst durch die Ehe des neuen Zaren unaufhaltsam der deutschfeindliche, englische Einfluß. Unsere fortwährenden, auch dies Jahr wieder bevorstehenden Flottenbesuche in Petersburg helfen da gar nichts. Im Gegenteil: sie werden in ihrer ständigen Wiederholung hier mißverstanden...«

»Leo! Du hörst wohl gar nicht zu ...«

Leo Nimis hatte das Schreiben weggelegt und wieder die Zeitung ergriffen. Sie zitterte plötzlich in seiner Hand.

»Mann – was hast du denn?«

Er stand auf. Er antwortete nicht.

»Du wirst ja ganz bleich, Leo!«

Er wies seiner Frau stumm und erschüttert eine kurze Nachricht auf der zweiten Seite. Sie las: »Auf seinen Gütern in Pommern verstarb dieser Tage hochbejahrt der Staatsminister a. D. Graf Pritzig. Eine der markantesten Persönlichkeiten der Bismarckschen Aera scheidet mit ihm aus der Zeitgeschichte.«

Leo Nimis beugte sich hastig nieder, griff mit bebenden Fingern in den Haufen der noch uneröffneten Briefe und Depeschen. Da war ein großes, elfenbeinfarbenes Schreiben mit dickem Trauerrand und Grafenkrone. Er riß es auf.

»Es hat Gott dem Allmächtigen gefallen, in der Nacht vom 29. zum 30. März meinen geliebten Mann, unseren treuen Vater, Großvater, Schwiegervater und Bruder, Seine Exzellenz Herrn Dr. jur. Grafen von Pritzig, Majoratsherrn auf Zackenzin, Kgl. Staatsminister und Oberpräsident a. D., Ritter des Hohen Ordens vom Schwarzen Adler und zahlreicher anderer hoher Orden, Rechtsritter des Johanniterordens, Mitglied des Herrenhauses, Rittmeister der Landwehr a. D., im siebenundsiebzigsten Jahr seines gesegneten Lebens durch einen sanften und unerwarteten Tod zu sich heimzuberufen. Im Namen der trauernden Hinterbliebenen: Hans Joachim Graf von Pritzig-Zackenzin.«

»Was hast du denn da noch für eine Depesche, Leo?«

»Aus Darmstadt!«

»Von deinem Vater?«

»Ja.«

»Er weiß es schon?«

»Er telegraphiert mir deswegen!«

»So lies doch vor!«

Leo Nimis tat es: »Mein Louis Ferdinand ist nicht mehr. Ich kann es kaum fassen. Ich liege hier seit einer Woche an meiner alten Venenentzündung fest und kann dem lieben, teuren Freund nicht einmal die letzte Ehre erweisen. Bitte vertritt mich mit bei der Beisetzung in Zackenzin, zu der du jedenfalls fährst, und sprich allen Leidtragenden auch mein tiefstes Beileid aus. Dein alter Vater.«

»Du fährst?«

»Selbstverständlich!«

Leo Nimis griff noch einmal nach der Todesanzeige. Da stand unten: »Beisetzung am 1. April, nachmittags 3 Uhr in Zackenzin. Wagen zu den Zügen 11 Uhr 17 Min. und 2 Uhr 5 Min. an der Bahn.

Er sah auf die Uhr, »Noch nicht sieben! Wenn ich mich eile, kriege ich noch den Morgenschnellzug. Dann bin ich abends in Berlin und morgen hoffentlich noch rechtzeitig an Ort und Stelle!«

Anspannen! Die Koffer! Kuß an die Kinder! Dazwischen immer noch Telegramme. Anfragen. In fliegender Eile Konferenz mit den von unten zusammengetrommelten Direktoren. Gequengel des alten Buschbeck aus den Kissen: Was hast du bei den Junkern in Hinterpommern zu suchen? Die Schmiegermama mit Migränekompresse um die Stirn ... Adieu ... Adieu ... Mit einem Arm in den Mantel... »Dr. Rödicke, verschonen Sie mich jetzt mit den Geschaftssachen, und wenn es das Kruppsche Direktorium selber ist...« Der zweite Arm ... »Vorwärts... Zum Donnerwetter ... Vergißt die Gesellschaft wieder die Zylinderschachtel ... Also leb wohl, Otte!«

Sie küßten sich. Er las die Liebe in ihren Augen. Bei solchen seltenen Gelegenheiten des plötzlichen Abschieds leuchtete es heiß aus diesen blauen, verschwiegenen, schwarz überschatteten Tiefen. Sie sagten sich nicht viel. Es ging alles so schnell ...

»Pappi – bring was mit!«

»Schakalade!«

»Ja ... ja ... Seid vor allem artig! Vorwärts!... Uff!«

Im Zuge sah Leo Nimis, in die Ecke gelehnt, in einer sonderbaren, wohltuenden Müdigkeit des Genesenden. Ruhe um einen. Niemand, der etwas von einem wollte. Endlich einmal Mensch ... Und es ging ihm durch den willenklaren, zweckbewußten, in unzählige Arbeitskammern eingeteilten Kopf: ... Mensch ... Aber was ist der Mensch? ... Wozu ist er da? ... Wie sieht solch Menschenleben aus, wenn man es vom Ziel aus rückwärts überblickt? ... Da müßte meines köstlich sein! Denn es ist, weiß Gott, Müh und Arbeit!... Aber ich finde nicht, daß es so köstlich ist.

Durch das Zugfenster lugte noch das Grau der Arbeit. Verrußte Industriestädte, schwarz wandernde Menschenhaufen, qualmende Schlote, schieferfarbene Schlackenhalden, rauchige Bahnhöfe. Dann erhellte sich die freudlose Welt. Der Himmel wurde lichter. Die Luft klarer. Vor einer Viertelstunde war das letzte Bündel von Schornsteinen in der Ferne vorbeigeglitten. Mit niederem Riesendach wuchtete da der erste niedersächsische Bauerhof auf der roten Erde. In dieser Erde schlief nicht mehr die Kohle, sondern keimte das Korn. Ein Mann mit geraffter Schürze ging über das Land und streute die Sommersaat. Es war eine feierliche Handbewegung. Sie wiederholte sich, gleichmäßig ... abgemessen ... immer wieder ...

Am nächsten Mittag, in heißem Frühlingsblau und kühlem Ostseewind über dem weiten, pommerschen Plattland, schien das Reich von Stahl und Eisen nur noch ein Traum der Nacht. Wenn hier ein Schornstein ragte, dann war es eine Rübenzuckerfabrik. Wenn hier eine Maschine keuchte, dann war es der Dampfpflug. Mit umbrochenen Schollen, klein geeggt, flach gewalzt, dehnten sich die braunen, in sprossender Wintersaat die grünen Felder. Alle Äcker voll von Menschen und Tieren und Gespannen. Bedächtige, ruhige, sonnenverbrannte Gesichter. Eins mit der Erde, aus der der Mensch ward, zu der er wird. Nichts mehr von Haß und Hast und Hetze. Die Natur ließ sich nicht drängen wie die Menschen und Maschinen. Sie folgte nicht dem Befehl. Sie erhörte nur das Gebet: Unser täglich Brot gib uns heute! ...

Das war die Welt des verstorbenen alten Grafen Pritzig. Ein tiefer, unbestimmter Klang wanderte im Winde, als Leo Nimis auf dem kleinen Bahnhof von Zackenzin ausstieg. Von nahen und seinen Kirchtürmen läuteten die Glocken. Die sieben alten Pritzigschen Familiengüter sandten dem, der sie wiederum in den Besitz seines Geschlechts zurückgeführt hatte, den letzten Dank. Eine Wagenburg harrte vor der Station. Der sonst beschaulich leere, gemächlich dahinpilgernde Zug der Kleinbahn war überfüllt. Bis in die dritte Klasse hinein saßen die Großen des Landes, die Majoratsherren und Rittergutsbesitzer, die Johanniter und die Spitzen der Behörden, die Abordnungen des Potsdamer Regiments des Verstorbenen und der drei Korps des Sohnes, die Mitglieder des Herrenhauses und der Zweiten Kammer, die alten Adelsgeschlechter zwischen Ostsee und Elbe.

Auf Chausseen rollten die Wagen mit den Herren und Damen der Nachbarschaft über Land, dem Schloß von Zackenzin zu. Die Kriegervereine marschierten mit umflorten Bannern. Die Dorfschulen rückten in wimmelnden Kinderzügen aus. Ein Gefährt, voll von aufgetürmten Kränzen und Blumen, nach dem andern fuhr von dem Bahnhof, der Postbote, mit einem dicken Bündel Depeschen neben dem Kutscher auf dem Bock, nach dem Herrenhause von Zackenzin.

Das war im Dreißigjährigen und dann wieder im Siebenjährigen Krieg von den Schweden und Russen eingeäschert worden. Nun stand es schon wieder seit anderthalb Jahrhunderten in der wuchtenden Würde seines Hauptbaus und der zopfigen Anmut seiner Seitenflügel. In dem mächtigen, niederen Saal ragte schwarz ein geschlossener Sarg. Seine Silberbeschläge funkelten im Glanz der Kerzen vor dem Palmengrün. In grünen Röcken, den blanken Hirschfänger in der Rechten, hielten zu beiden Seiten die Forstgehilfen die Totenwacht. Die Trauergemeinde stand hundertköpfig bis in die Halle und zum Haustür hinaus, in einer seltsamen Verkehrung der Farben, in der die Frauen in tiefem Schwarz unter düsteren Schleiern verschwanden, während die Männer in allen bunten Uniformen und Ordensmassen des kriegerischen Preußen und seiner bürgerlichen Staatsdiener leuchteten.

Der Pfarrer Eichhorst hatte das Eingangsgebet gesprochen, so wie sein Urgroßvater, schon den Urgroßvater des jetzt Verstorbenen, den Rittmeister von Pritzig von Friedrichs des Großen Brüsewitzcuirassiers, ausgesegnet hatte. Aber die Leichenrede hielt ein alter Berliner kirchlicher Freund des Grafen Louis Ferdinand, einer der Großen in Israel, dem die Macht des Wortes auf der Zunge wohnte. Er begann mit seinem Besuch bei dem Fürsten Bismarck in Kissingen. Aus dem Rückweg von der Saline nach dem Bad hatte er dort im Kurpark an den Ufern dei Fränkischen Saale einen schon stark verwitterten Grabstein des Gefechts von 1866 gesehen, mit der Inschrift: »Hier ruht ein Preuße.«

Die Stimme des Berliner Gottesmannes erhob sich. Er wies auf den Katafalk, der die Hülle des Grafen Pritzig barg. Hier ruht ein Preuße! Einer, der Preußen in sich trug und Preußen war und Preußen wollte und Preußen diente, um Deutschlands willen ...

Im Zittern der Kerzen schienen sich die Gesichter der Feldherren und Staatsmänner in den Ahnenbildern an den Wänden zu beleben. Ein Hauch von Preußengeist wehte mit den Worten des Redners durch den totenstillen Saal. »Deutschland, halte dich an Preußen! Und wenn Preußen fehlt, und wenn Preußen irrt – nichts auf Erden ist ohne Blindheit und Schuld! – verleugne Preußen trotzdem nicht! Du verleugnest sonst dich selbst! Die Mark Brandenburg ist dein Mark und Bein. Preußen ist dein Stecken und dein Stab!«

Leo Nimis stand im Hintergrund, nahe an der Tür. Lauter fremde Menschen waren um ihn. Da und dort nur ein Gesicht, das er einmal in dem Hause am Königsplatz in Berlin gesehen. Der Bruder des Verstorbenen, der hochgewachsene strenge General a. D. von Pritzig, der Vetter, der steinalte, schrumpfelige, kleine Graf Giesebitz, die Schwester, die weißhaarige Frau Amélie von Luch. Neben der Gräfinwitwe Pritzig saß ganz vorn eine andere alte Dame, die ihr ähnlich sah. Sie und ihre Begleitung sprachen im Tonfall der Wasserkante, und es fiel Leo Nimis ein, daß dies die Sippe der Lüdingworth, die diesem Hause verschwägerten königlichen Kaufleute von Hamburg, sei.

Neben der alten Dame saß eine junge Frau im schwarzen Flor. Ihr schönes Antlitz war schmerzlich gebeugt und von Tränen feucht. Die weißen Hände verschlungen. Sie schaute nicht auf. Leo Nimis konnte nur zuweilen, wenn sich die Schultern des mächtigen pommerschen Granden vor ihm bewegten, diesen blassen Kopf mit dem strengen, klassischen Profil, dem sich unter der Nacht der Schleier das heiße Braunrot des Haares an den Schlafen träufelte, erblicken. Aber auf den ersten Blick hatte er gesehen, was er seitdem immer in einem atemraubenden Hämmern des Herzens sah: Dort saß Klothilde von Spängler.

Am Sarge standen die beiden Söhne des alten Grafen: Hans Joachim, der neue Herr auf Zackenzin, in der händefaltenden Ergebung des Erweckten, stille Gotteskindschaft in den pommerisch blauen Augen, und Malte, der Landrat. Er hatte vor Beginn der Feier Leo Nimis' Händedruck in Empfang genommen und ihn mit dem gezwungenen »Du« aus ferner Göttinger Zeit begrüßt. Nun war die Andacht zu Ende. Ein Choral setzte ein. Der Sarg schwankte auf den Schultern der Gutsbediensteten hinaus auf die Straße, der Familiengruft in der Dorfkirche zu. Dort löste sich der Zug auf. In dem Gedränge trat Malte von Pritzig, der die Leitung der Trauerfeier übernommen hatte, zu seiner Cousine und sagte halblaut und bittend: »Klothilde, sei doch so gut und nimm dich ein wenig des Herrn Nimis an! Es ist ja sehr liebenswürdig von ihm, daß er gekommen ist! Aber er ist hier ganz fremd. Er steht dort drüben wieder ganz allein. Du kennst ihn ja doch von früher!«

Dann fiel ihm ein, daß sich da wieder ein faux pas ereignen könne, und er meinte beiläufig im Vorübergehen zu Leo Nimis: »Du – hör mal: Wenn du mit Frau von Spängler sprichst, frage sie um Gottes willen nicht etwa, warum ihr Mann nicht mitgekommen ist! Die Geschichte ist nämlich seit mehr als einem Jahr auseinander.... Oder vielmehr: die Karre ist verfahren! Er weigert sich hartnäckig, in die Scheidung zu willigen, und sie will nicht zu ihm zurück! So – nun bist du im Bilde!«

Der Trauersaal war künstlich verdunkelt gewesen. Nach dem unruhigen Goldgeflimmer und Schlagschatten des Kerzenlichts, dem süßen Modergeruch weitgereister Totenkränze, blendete draußen der lichte, klare Frühlingstag, wehte die Luft würzig herbe und rein. Es war da hinter den Wirtschaftsgebäuden von Zackenzin, die in ihrem riesigen Ausmaß den Stallungen und Reitbahnen einer Kaserne glichen, eine ebenso weite Obstwiese, Hunderte von Bäumchen standen schachbrettförmig auf dem grünen Boden, alle gleich groß, alle je drei Meter vom Nachbar entfernt, alle mit dem ersten rötlichweiß vor dem blaßblauen Aprilhimmel zitternden Apfelblust in der noch kahlen Krone. Sie sahen aus wie die gleichförmigen Muster einer Blümchentapete an der Wand. Etwas Schwarzes spielte im Winde durch die pedantische Lieblichkeit des Frühlingsbildes. Ein langer dunkler Florschleier mitten im Blütenschnee. Klothilde von Spängler hatte sich auf die Fußspitzen erhoben, um sich einen der kleinen, weißen Zweige zu brechen. Ihre in Trauerkleidung gehüllte Gestatt zeichnete sich wie ein mit der Schere ausgeschnittener, tiefschwarzer, schlanker Schattenriß von Luft und Licht ab, das sie umfloß. Sie glich einer Nonne im Klostergarten, Leo Nimis stand etwas seitwärts an einem Baum. Er stand stumm und schaute auf ihre Schönheit, die sich ihm in diesen Jahren der Trennung erst zur vollen königlichen Blüte vollendet zu haben schien. Er schaute sie nicht – er trank diese Schönheit in sich hinein. Er trank sie mit durstigen Augen, in endlosen Zügen, wie ein Verirrter und Verschmachteter die endlich wiedergefundene Quelle. Vom Schloß her rollte Rädergerassel über die Chaussee. Der Oberpräsident fuhr weg, der Konsistorialpräsident, viele Große des Landes. Die anderen Gäste saßen und standen noch in den Zimmern, wo Büfette für die Bewirtung aufgeschlagen waren. Die Unruhe des Aufbruchs, die Trennung nach kurzem, traurigem Beisammensein lag in der Luft.

Klothilde von Spängler hielt den kleinen Frühlingszweig in der Hand. Sie spielte damit, unbewußt, unruhig. Sie wandte sich Leo Nimis zu. Er wußte, wie ihr Gesicht sich veränderte, wenn man es von vorn sah. Dann verschwand die klassische Härte des Profils. Weiche, schmerzlich zarte Linien lebten liebevoll in seinem weißen, reinen Grund. Der zurückgelegte Schleier verdeckte ihr reiches Haar. Es reichte noch bis über die dunklen, dicht zusammengewachsenen Brauen. Unter dem Trauerflor schauten die haselnußgroßen Augen hell und heiß in die sonnige Welt. Jugend, die den Frühling suchte. Ein Blick, der an seinem hängenblieb. Ein langes, schweres Schweigen.

»Möchten Sie nicht noch etwas zu sich nehmen, Herr Nimis?«

»Ach, lassen Sie doch das Essen und Trinken, gnädige Frau!«

»Aber wenn Sie wirklich in einer Viertelstunde zur Station fahren wollen...«

»Ich will nicht, gnädige Frau. Ich muß. Mein Leben ist ein einziges, großes Muß ...«

Vor ihnen breitete sich weithin die Herrschaft Zackenzin. Das war kein einförmiges, pommersches Plattland. Der Boden hob und senkte sich, als holte er schwer, mit verhaltener Frühlingskraft, Atem, in braunen und grünen Hügeln, und dazwischen schimmerten nah und fern große und kleine, blaue, schilfumränderte Seespiegel, weithin gen Osten, zur Grenze des deutschen Westpreußens und Pommerellens, wo schon die ersten Schatten der Abenddämmerung lagen und in ihnen die ersten vorgeschobenen Sprachinseln des Polentums, und dahinter die uferlose, endlose, nach Asien verschwimmende slawische Welt.

»Erinnern Sie sich noch, wie wir uns zuletzt gesehen haben, gnädige Frau? Dort im Osten?«

»In Petersburg damals ... freilich...«

»Es ist lange her ...«

»Das ist ... warten Sie ... ja: sechs Jahre!«

Er verstummte und preßte die Lippen zusammen. Sein Gesicht wurde finster.

»Was haben Sie, Herr Nimis?«

»Ich bin erschrocken, wie die Zeit dahingeht ...«

»Ich bin es manchmal auch ...

Von der Chaussee her laute, abschiednehmende, ostelbische Stimmen.

»Also Weidmannsheil bis zum Kreistag, Exzellenz!«

»Weidmannsdank! Bitte mich der Jattin zu Füßen zu legen!«

Räderrasseln. Stille. Stimme des Windes: Ich wehe dahin, und mit mir weht die Zeit ... verweht... vergeht ...

»Nun ist man mit Gottes Hilfe schon über die Mitte der Dreißig« sagte Leo Nimis.

»Ich werde dies Jahr auch dreißig.«

Ein Vogel piepste, hoch oben, wie ein Federbäuschchen, auf kahlem, wippendem Zweig. Unermüdlich denselben gleichförmigen Ton. Es klang wie Früh–ling ... Früh–ling.

Leo Nimis schüttelte den blonden Kopf. Er sagte ruhig, aber mit einem fragenden, fast hilflosen Erstaunen in den blauen Augen, die er seiner Begleiterin zuwandte: »Soll denn das Leben nun eigentlich immer so fortgehen?«

Ihre Lippen verzogen sich trotzig. »Bei mir nicht!«

Dann nach einem Schweigen, in dem sich der Blütenzweig zwischen ihren nervösen Fingern entblätterte: »Ich lasse mich jetzt scheiden!«

»Ich denke Ihr Mann will nicht?«

»Bisher nicht! Es war hauptsächlich wegen des Jungen! Ich hatte ihn darin unterschätzt. Er hat das Kind doch auch, scheint's, sehr lieb.«

»Und das ist jetzt geordnet?«

»Ja, in den allerletzten Tagen. Ich hab hier noch gar nicht davon gesprochen. Ich bekam einen Brief von meinem Rechtsanwalt. Die Advokaten raten auch dringend, nicht zu lange zu fackeln. In ein paar Jahren kommt das Bürgerliche Gesetzbuch. Dann ist es überhaupt kaum mehr möglich, daß beide Teile als nicht schuldig geschieden werden! Und so ist es doch! Es war eben Pech für beide Teile. Weiter nichts!«

.Und nun, meinen Sie, gibt Ihr Mann nach?«

»Ich glaube sicher! Ich habe ihm heute selbst einen langen Brief geschrieben. Von seiner Antwort hängt es nun ab!«

Sie setzte, während sie ein paar Schritte weitergingen, den Fuß mit einer ungeduldigen und zornigen Bewegung auf den Boden, als könnte sie es nicht erwarten: »Was hat er denn auch davon? Ich will ja nichts von ihm! Ich nehme meinen Mädchennamen wieder an. Ich verlange auch keine Unterstützung von ihm. Onkel Louis Ferdinand ist ja so gut. Das Testament ist ja noch nicht eröffnet. Aber ich weiß, daß er mir eine Rente ausgesetzt hat, von der ich leben kann!«

»Bei Ihrer Tante in Berlin?«

»Nein. Tante Pritzig löst den Hausstand in Berlin auf und zieht dauernd hierher nach Zackenzin. Und mich hier im Hinterpommern einmotten ... Das kann ich in zehn Jahren auch noch, wenn es sein muß! Nein. Tantes Schwester, Frau Lüdingworth ... die Witwe des großen Reeders – sie ist auch schon nahe an die achtzig, aber noch fabelhaft rüstig ...«

»Ich sah sie vorhin bei der Feier ...«

»Tante Hyma hat mich eingeladen, zu ihr und ihrem Sohn und dessen Frau in ihr Haus nach Hamburg zu kommen. Sie meint, das gehört sich so für eine Frau, wenigstens so lange, bis die Scheidungsgeschichte zu Ende sei ...«

»Und dann?«

Klothilde von Spängler machte mit den mädchenschlanken Schultern eine seltsame, frauenhaft ergebene Bewegung. »Dann steht man an der Ecke ...«

»Wieso?«

»...und wartet, was um die Ecke kommt, und was einem das Leben weiter bringt! Das ist unser Los. Unsereins kann das Leben nicht zwingen!«

Und nach einer Weile beinahe hart: »Ich bin doch schließlich jung. Noch bin ich jung.«

Leo Nimis schwieg. Er vernahm ihre helle, nun wieder sanfte und weiche Stimme: »Sie können sich das Warten nicht vorstellen. Sie packen zu. Sie handeln. Sie sind ein Mann!«

»Wir werden alle getrieben... Alle ... Alle ...«

»Sie wahrhaftig nicht! Sie haben sich Ihr Leben geschmiedet. Sie meistern es! Ich beneide Sie um Ihr Leben!«

»Tun Sie es lieber nicht!«

»Ihr Leben ist so weit. So reich. So bedeutungsvoll. Angefüllt mit Arbeit und Pflicht!«

»Zu viel Arbeit! Zu viel Pflicht!«

»Voll Sorge um die andern. Tausende hängen von Ihnen ab. Tausende setzen ihre Hoffnung auf Sie!«

»Ach – lieber nur einmal selber Mensch sein!«

»Jeder rühmt Sie! Mein guter Onkel hatte solche Freude an Ihnen! Er sagte es oft: Sie sind ein Vorbild für das neue Deutsche Reich!«

»Und dies Reich heißt Arbeit... Arbeit ...«

»Sie sind ein nützlicher Mensch ...«

»... und das Nützliche ist das Unnützlichste von der Welt ...«

»Unsereiner ... Man ist wie der Zitronenfalter, der da über die Wiese fliegt. Er kann ja nichts dafür, daß er da ist! Aber warum er da ist ...«

»Ich glaube immer mehr: Die Welt ist gerade nur Ihretwillen da ... wir andern sind krank und grau ...«

Klothilde von Spängler wurde noch blasser. Sie schaute an ihm vorbei ins Leere.

»Ach – lassen wir mich! Ich habe eine Bitte ...«

»Ja?«

»Ich möchte wissen, wie es Ihnen geht? Erzählen Sie mir von Ihrer Frau und Ihren Kindern!«

»Meine Buben sind noch zu klein. Von denen ist nicht mehr zu sagen, als daß sie schreien und schlafen und mit einem Hottopferdchen spielen!«

»Und Ihre Frau?«

»Wir gehen zusammen unsern Lebensweg.«

»Ihre Ehe soll aber sehr glücklich sein?«

»Ja. Denn Glück heißt ja in Deutschland Arbeit, und wir finden uns täglich neu in der Arbeit für andere!«

»Nur für andere?«

»Meine Frau lebt nur für andere Menschen!«

»So bin ich nicht!«

»So war meine Frau schon als Mädchen im Tiefsten ihres Wesens, das viel tiefer ist als bei andern, und ich wußte es wohl, und wir waren darin einig, als wir uns heirateten. Als Mädchen konnte sie das, was sie für ihre Lebenspflicht hält, nur in engem Umfang erfüllen. Als Frau, an meiner Seite, im weitesten Wirkungskreis. Ich bin für sie der Mittler zu den Menschen. Ihr ererbter und mein erheirateter Reichtum heißt für uns beide Pflicht. Pflicht heißt bei uns beiden Arbeit. Durch die Arbeit entsteht bei uns beiden neuer Reichtum, der uns beiden neue Pflichten auferlegt. So dreht sich das Rad.«

»Aber Sie selber ...«

»Was ist man denn selber? Der Mensch ist die Masse!«

»Sie doch nicht!«

»Wer die Masse lenkt, gehört erst recht zu Ihr. Er ist nur das Firmenschild für die anderen, das man dem Zug vorausträgt. Ich bin ein Sklave der Menschen und Dinge, die mir gehorchen!«

»Das ließe ich mir an Ihrer Stelle nicht gefallen!«

»Ich muß!«

»Warum?«

»... weil das von vornherein das Einverständnis zwischen meiner Frau und mir war, durch das ich mit einem Schlag, durch meine Ehe, von einem unbemittelten Angestellten zum Leiter und Mitinhaber eines der größten deutschen Betriebe aufgestiegen bin. Es ist stillschweigende Voraussetzung, daß mein Leben nicht mehr mir gehört ...«

»Vielleicht das äußere Leben! ... Aber jeder Mensch hat doch ein Recht auf sich. Ich zum Beispiel ... ich brenne danach, mir mein Recht vom Leben zu holen ...«

»Ich habe meine Seele verkauft! Und wissen Sie, warum?«

Leo Nimis brach ab. Dann setzte er mit einer seltsamen Ruhe hinzu: »Ich habe meine Seele verkauft, weil ich gar nicht wußte, daß ich eine Seele hatte! Das geht nicht nur mir so! Das ist heutzutage das Schicksal vieler Menschen und Kreise in Deutschland! Nur merken es die wenigsten!«

»Und wodurch haben Sie es gemerkt?«

»Durch Sie.«

Klothilde von Spängler zuckte zusammen. Sie erwiderte nichts, sondern wandte sich hastig von ihm ab und tat einige Schritte in der Richtung nach dem Herrenhaus von Zackenzin. Er blieb stehen. Dann machte auch sie halt. Beide schauten sich an. Erschrocken, mit großen Augen. Er trat vor sie hin. Sie standen Auge in Auge. Oben piepste immer noch das dünne Vogelstimmchen sein eintöniges, einfältiges Frühlingslied in das Schweigen ihrer schweren Atemzüge.

»Also ... lassen Sie es sich gut gehen, Herr Nimis ...«

»Es ist noch Zeit zum Abschiednehmen!«

»Nein!«

»Warum wollen Sie uns diese eine, arme Stunde auch noch verkürzen?«

Klothilde von Spängler stand halb abgewendet, den einen Fuß wie fluchtbereit, nur mit der schmalen Lackkappe auf dem Boden, und rührte sich doch nicht. Auf der Chaussee fuhren wieder Wagen zum Abendzug nach der Station. Eine näselnde, scharfe Stimme sagte: »Nee – auf mich hat der Sprechanismus von dem Berliner Oberbonzen einen recht mäßigen Eindruck gemacht! Wissen Sie, lieber Graf: Was von der Spree kommt, hat 'nen Stich! Da schneidet so ein oller, tüchtiger Feld-, Wald- und Wiesenpfarrer hier bei uns für meinen Geschmack bedeutend besser ab!«

Leo Nimis sah vor sich eine ausgestreckte weiße Hand. Sie zitterte leise. Das Gold des Traurings glänzte matt an ihr und ebenso an seinem Finger, als er die Hand ergriff. Er wollte sie festhalten. Sie entzog sich ihm.

»Wollen Sie wirklich gehen?«

»Ich muß.«

»Warum?«

»Wir kommen da in Dinge, über die wir gar nicht reden dürfen! ... Sie wenigstens nicht ...«

Und ein bitter um ihre Lippen zuckendes Lächeln ergänzte, was sie nicht aussprach: Ihr Haus und Herd stehen ja festgefügt auf Lebenszeit! Ich ... ich bin ja bald frei wie der Vogel da oben auf dem Baum ...«

Die Sonne war kühler geworden. Der Himmel blasser. Man ahnte den Abend. Der kleine Vogel zwitscherte unverdrossen seine zwei Töne. Aber es war, als hießen sie nicht mehr Frühling, sondern: zu spät ... zu spät! ...

Dann flog er plötzlich ins Weite. Der Zweig, auf dem er gesessen, schaukelte hin und her. Blütenschnee stäubte herab. Ein zartes, weißes, rosig getontes Blättchen ließ sich zutraulich auf dem düsteren schwarzen Krepp nieder, der Klothilde von Spänglers Brust umschloß. Er sah es. Er sagte: »Man möchte weinen, wenn man den Frühling sieht!«

Sie hatte das schwarz verhüllte Haupt gegen das dünne Bäumchen gewendet. Ihr langer, düsterer Nackenschleier wehte ihm abwehrend im Wind entgegen. Er sah an dem Zucken ihrer Schultern, daß sie lautlos schluchzte. Auch seine Augen wurden naß. Sie drehte sich wieder zu ihm um. Sie gab ihm wieder stumm die Hand. Die Tränen perlten auf ihrem blassen Gesicht.

»Wir wollen uns nicht unnütz quälen! ... Fahren Sie jetzt weg!«

»Ich hab noch eine Bitte!«

»Sie versäumen sonst den Zug!«

»Versprechen Sie nur, daß Sie sie erfüllen!«

»Ich muß jetzt auch ins Haus!«

»Schreiben Sie es mir, wenn Ihr Mann sich in diesen Tagen wegen der Scheidung entschlossen hat!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Klothilde ...«

»Wir sollten uns nicht schreiben ...«

»Nur das eine Mal! Es ist das erstemal, daß ich um etwas bitte! Bekomme ich die paar Zeilen? Bitte!... Bitte!«

Sie nickte hastig ein »Ja«. Trat von ihm weg. Sie gingen auseinander. Blieben gleichzeitig stehen. Wandten sich um. Kamen langsam wieder zueinander zurück.

»Ich danke dir, Klothilde ...«

»Ich dürft es nicht tun ... Das ist der Anfang...«

»Ich muß es wissen! Ich lebe doch mit dir ...«

»Da drüben kommt jemand ...«

»Ich lebe dein Leben in mir. Schon seit vielen Jahren ...«

»Es ist der Malte! Er sucht uns!«

»Leb wohl, Klothilde ...«

»Nicht ›du‹ ...«

»Ich denk an dich ...«

»Nicht ›du‹... nicht ›du‹...«

»Ich zähle die Tage, bis dein Brief kommt!«

»Wir dürfen uns nicht ›du‹ nennen ... Wo soll das hin ... Um Gottes willen ...«

»Es hört's ja niemand außer uns!«

»Der Malte ist schon ganz nah!«

Der Vetter Pritzig war ein Mann von Haltung. Auch heute, am Beisetzungstag seines alten Herrn, den er wirklich geliebt und verehrt hatte. Die Enden seines aufgedrehten Schnurrbärtchens starrten wie zwei Pickelhaubenspitzen in dem narbenreichen Antlitz aufwärts. Er versetzte kameradschaftlich: »Na, Kinder ... verkühlt euch hier nicht im Grase! Du, Thilde, schau doch, daß der Onkel Gustav seine gewohnte Pulle Rotspon zum Abend kriegt. Sonst klappt uns der alte Knabe hoffnungslos zusammen! Mein lieber Nimis: Ich darf dir ein Fremdenzimmer richten lassen? Du bleibst doch wohl über Nacht?«

»Nein... nein ... ich muß jetzt gleich zur Station!«

»Ja – dann ist's allerdings allerhöchste Eisenbahn!«

»Also Adieu, Pritzig! ... Guten Abend, gnädige Frau ...«


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