Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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V.

Der alte Hietzinger Kirchhof am Küniglberg bei Wien nahm jetzt, im Herbst 1887, schon seit dreizehn Jahren keinen stillen Gast mehr auf. Katholiken und Protestanten machten jetzt ihre Fahrt hinaus nach Kaiser-Ebersdorf in den Zentralfriedhof. Aber wer schon hier in Hietzinger Erde ruhte, war geblieben.

»Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt? Oder wer will ihn unterweisen?«

Es war ein trüber Septembertag. Regentropfen sprühten auf Reinhold Nimis' silbergrauen Krauskopf. Der alte Achtundvierziger hatte lange Zeit, den Hut in der Hand, vor der verblichenen Inschrift auf dem Grab seiner Wiener Großeltern gestanden. Er beugte sich nieder, rückte den Immortellenkranz, den er mitgebracht, zurecht und ging langsam davon, den Botanischen Garten entlang, und stieg vor Schönbrunn in die Pferdebahn und fuhr in die Stadt zurück. Dort jagten über den Kärntner Ring die Fiaker und klirrten die Säbel der k. und k. Leutnants und gaukelte ein leichtsinniger Blumenduft in der Luft und trotteten die Gigerl und lachten lebensheiße Augen unter verräterischen Schleiern und stiegen alte Herren mit unternehmend zurückgeschobenem Zylinder und in kokett kurzen, hellen Paletots hinter den Madeln her. Reinhold Nimis bog ab und schritt zum Schwarzenbergplatz hinunter und stieg da, gegenüber der Heumarktkaserne, in einem der vornehmen, hohen Häuser die Stufen bis zum Mezzanin empor, wo auf dem Messingschild »Karoline Matula Edle von Flammenstern« stand, und sagte zu dem öffnenden Bedienten: »Bitte – melden Sie mich meiner Cousine! ... Ja – da bist du ja! Grüß dich Gott, Lintscherl! Wann ich in Wien angekommen bin? Gestern spät abends! Aber vor zehn morgens darf man bei euch Langschläferinnen ja nicht anklopfen! Ihr habt sicher gestern wieder irgendeine Hetz vorgehabt! Wie steht's denn? Wie geht's? Laß dich mal anschauen! Wie bringst du's nur fertig, daß du immer noch schöner wirst, Lini?«

Das war nicht nur das artige Zuckerwerk eines Sechzigers an die alte Jugendgefährtin aus fernen vormärzlichen Wiener Tagen. Die einstige Lini Götsch, die gefeierte Schönheit der letzten Metternichzeit, gehörte nicht zu den Frauen, die ihren eigenen Mai losgelöst vom späteren Selbst sehen und seufzen: »Ja damals, wie ich jung und hübsch war ...« Die blauschwarzen Locken der Biedermeierjahre hatten sich in glattgewellten Schnee verwandelt, aber um so größer brannten unter dem Weiß die südlich-heißen, kohlfarbenen Augen. Aus der jungen Madonna war eine Mater dolorosa geworden, durch die Herbstlichkeit noch veredelt, die Gestalt majestätisch in ihrer Schlankheit, die immer noch küßlichen Lippen lachten ihr altes Circelachen, und aus ihnen lachte Wien, das ewig heitere. Dreißig Jahre Witwe! Kein Mensch zerbrach sich mehr den Kopf darüber, warum sich seinerzeit der Hofrat von Matula nach zehnjähriger unglücklicher Ehe im Prater die Pistole mit Wasser geladen und sich den blatternarbigen schwarzen Borstenkopf zerschmettert hatte. An der Wand hing sein Bild. Gallige Bitternis um die herabgezogenen, glattrasierten Mundwinkel. Alle bösen Geister seines Herrn und Meisters Metternich umschwebten dessen getreue, vormärzliche Kreatur.

Nachgeweint hatte dem Niki keiner. Am wenigsten seine Frau, die Lini. Die hatte, seit er tot war, von ihm nur alles Angenehme: den Namen, den Titel, die Pension, das Erbe. Es ließ sich leben. Die schöne, leichtsinnige, weißhaarige Lini steckte sich eine von den roten Rosen, die ihr der alte Herr gebracht, an die Brust und sagte so erregt, wie sie nur sein konnte, wenn von Liebeshändeln und meinetwegen auch von Heirat die Rede war: »Den ganzen Tag steckt er in sei'm faden Ministerium. Aber auf den Abend kommt er! Ich hab ihn eingeladen, mit uns zu nachtmahlen!«

»Der Sektionsrat Fronhofer?«

»Ja. Du wirst ihn selber kennenlernen, Reini! Weißt, i fürcht mich ja vor ihm! Mir graust's vor so ernsten Leuten. Ich glaub, er hält's mit die Freimaurer ... und mit die Preißen.«

»Hurra! Hurra! Der Paperl ist da...«

Der alte Herr wollte sich wehren. Aber die Tochter faßte ihn, von hinten auf den Fußspitzen hereingewischt, an den Händen und drehte sich um ihn im Kreise.

»Hansi ...«

»Der Paperl! ... Der Paperl ... der Paperl ...«

»Laß los, du Unband!«

»Papitschka! ... komm ... I muß di busserln!«

»Ich bin ja ganz außer Atem!«

»Aber fesch schaust aus ... Wart ...« Die Hansi zupfte ihm sachverständig die Krawatte zurecht. »So ... Du mußt an Girardihut tragen, ... der steht jedem alten Kavalier!«

Ein liebes Wiener Gesichtel. Die Wangen rund. Die Nase etwas stark. Das Kinn und der Mund beinahe slawisch weich. Lachende Augen. Lustige Ohrwascheln unter dunkelblondem Haar. Auf dem saß flott und unternehmend schief ein kleiner, steiler, moosgrüner Topfhut mit aufrechter weißer Feder. Ebenso grüne Schleiferln raschelten und flitterten übermütig auf dem gerafften weißen Tuchkleid. Sie umhalste stürmisch den Vater und tanzte wieder mit ihm herum.

»Hanserl ... Du zerdrückst ja dein Kleid ...«

»Macht nix!«

»Warum hast dich denn so aufgezäumt – schon morgens früh?«

»Jessas, Tante! 's ist doch die Matinee in der Josefstadt! I muß hin! ... Kinder – i muß! ... I Hab ja gar net gewußt, wann der Papi kommt!«

»Ich bleib ja auch lang genug da, Hansi!«

»Oder – daß i net lüg ... Eben hab ich's gelesen ... den Augenblick ...«

»Gelesen?«

»Ja! So an berühmten Papa hab ich! Da schaugt's: die ›Wiener Extrapost‹ von heute morgen ... Wart mal: Einbruch bei einem Greißler ... Neue k. k. Trafik ... Die Schrammeln ... Ach da: ›Ein alter Achtundvierziger in Wien!‹ Das bist du! ... I bin stolz!«

»Wie komm ich denn zu der Ehre?«

»Weiß net! I muß zur Matinee! Also gestern begegn ich doch gerade vor dem Sacher der Erzherzogin Genovevua! Der Ehrenpatroneß! Denkt's euch nur: sie hat mich gleich erkannt! »Sie kommen doch morgen?« hat sie gefragt. Ich hab ein Duckerl bis auf den Boden gemacht und gehaucht: »Ich bitte! Ja!« ... Alle Leut sind stehengeblieben und haben gesehen, daß ich mit einer Hoheit geredt hab. Ich bin weiter, als wär ich selber eine ...«

Die Hansi ging, die Nase nach oben, leutselig-unnahbar durch das Zimmer. Ihre Gestalt mit der biegsamen, natürlichen Wiener Taille war zu üppig und nur mittelgroß für eine hohe Dame. Sie lachte aus vollem Hals. Es war nicht zu sehen, warum. Es war eine Leibesübung. Sie lachte, wie andere atmeten.

»Für welchen Zweck die Matinee ist, Paperl? Ja, das, wenn i wüßt! I glaub, für die Babys. Der Sonnenthal spricht selber einen Prolog! Der Martinelli ... Magst den Martinelli? Im Volkstheater ...«

»Hanserl ... jetzt sei g'scheit ... Nimm dich zusammen ...«

»Du bist doch so gut wie Braut, Kind!«

Das Hanserl setzte sich und glättete sich die grünen Mascherln am Kleid. Es nahm den Fall nicht tragisch.

»Hast du ihn denn auch wirklich lieb?«

»Den Camillo? Also denk dir, Paperl: Auf dem Juristenball ... Da kommt der Poldi Morandell, der Älteste vom Onkel Alfi von den Liechtensteinhusaren ... Also fesch schaugt der Bub aus im blauen Attila mit weißen Oliven ... und sagt: ›Da bring ich einen! Der geht sonst nie auf Bälle. Der is zu ernsthaft zum Tanzen! Den mischt's mal auf!‹ ... Der Poldi is nämlich zum Kavalerie-Telegraphen-Kurs kommandiert und ...«

»Also das war der Sektionsrat Fronhofer?«

Das Gesichtchen der Hansi wurde plötzlich feierlich ernst. Sie seufzte tief auf. »Das war er, Papitschka! Meine Tanzkarte war natürlich seit Wochen so ausverkauft wie am ersten Abend von einer Operette an der Wien. Der Poldi hat getuschelt: ›Machst halt Konfusion, du Tschaperl! Mir zulieb! Der Fronhofer hat ein zu schweres Geblüt! Der soll tanzen!‹ Gut. Aber nach dem ersten Walzer hab ich ihm gesagt: ›Wegen Ihnen ist der Strauß net auf die Welt gekommen. Beim Ballett könnten's Ihr Brot net verdienen!‹ Meinst, er hätte geführt? Man war rein verraten und verkauft ...«

»Bleib bei der Sache, Kind!«

»Laß doch das arme Hascherl erzählen, Reini!«

»Am nächsten Sonntag hat er Besuch gemacht! Ich hab eigentlich weglaufen wollen! Aber die Tante hat's net gelitten! Also bin i hübsch dag'sessen, heilig wie 'ne Nonne! Und er halt gegenüber. Im schwarzen Rock hat er besser ausgeschaut als im Frack. Das leichtsinnige Gewand, das steht ihm net ...«

»Sa laß das jetzt einmal, Hansi! Schau nicht auf die Kleider, sondern auf die Menschen, die drin stecken!«

»I muß mi aber fertigmachen!« Die Hansi sprang auf. »Die Patronessen verzeihen das nie! ... Wann die Fürstin ...«

»Jetzt schau schon, daß d' weiter kommst!«

»Ja, Tanti!«

»Kann man denn kein ernstes Wort mit ihr reden?« sagte Reinhold Nimis, als sie hinausgeschwirrt war.

Die Edle von Matula saß auf ihrem Lieblingsplatz in der Ecke, vor der großen Fächerpalme, die einen stimmungsvollen Hintergrund für ihre statuenhafte, weißhaarige Schönheit bildete.

»Der Fronhofer wird sie schon ernst machen! Der hat viel von der Ware abzugeben!«

»Vielleicht zu viel?«

»Und sie ihm von ihrer Fidelität! Ich hoff als zu Jesus und Maria, das gleicht sich aus. Er hat doch schon siebenunddreißig auf dem Buckel. Die Verwandten wollen ihn verheiraten, eh er ein alter Krauter wird. Die danken dem lieben Herrgott, daß er endlich Feuer gefangen hat!«

»So. Da bin i wieder! Begleit'st mich, Paperl? Das is lieb von dir!«

»Hansi! Du hast ihn doch wahrhaftig gern?« fragte der alte Herr ernst, während sie zusammen durch Wien gingen. Das Hanserl hatte sich in ihn eingehängt, in einer schmiegsamen, kätzchenhaft vertraulichen Weise, und musterte dabei in den Spiegelscheiben der Läden, welchen Eindruck sie so zusammen machten.

»Freilich! Sonst tät ich ihn doch net nehmen! Der Camillo hat so was Beruhigendes! I denk als, mir kann nix passieren, wenn er bei mir ist! ... Schau nur den entzückenden Schmuck da. Ich hab mir zur Hochzeit ein Perlenkollier gewünscht! Weißt, es is halt doch für den Teint...«

»Hast du den festen Willen, ihn glücklich zu machen?«

»Aber ich bitt dich, Paperl ... Ich hab dem Camillo gesagt: Wenn was passiert, bringst mich auf der Stelle um! Das hat er mir in die Hand schwören müssen!«

Das Hanserl sprach das sehr ernst und unbefangen, mit einem frommen Kindergesicht. Ihr Vater erwiderte nichts. Einen Augenblick fröstelte ihn vor Wien.

»Du mußt immer denken: Du mußt dich anpassen! Er ist der Mann und der Ältere!«

Die blühende Eva an seiner Seite streifte im Vorbeigehen mit neugieriger Kennerschaft die Pariser Modelle im Schneiderladen. Wozu Worth? Die Kaiserstadt wußte selber, was ihr zu Gesicht stand. Sie war etwas zerstreut.

»Ah geh! ... Wir stutzen ihn schon zurecht, den Camillo! Da bin i unbesorgt!«

»Nimm die Ehe nicht zu leicht!«

»Gewiß net! Ich hab ihm gleich gesagt: Weit von Wien geh ich net! Graz meinetwegen oder Salzburg oder Linz! Aber zu die Rastelbinder und Katzelmacher und Bosniaken bringst mi net... Jessesmariandjosef! Bald zwölf. I muß 'n Wagen nehmen.«

Ihr Vater wollte einem Einspänner winken. Sie war entsetzt.

»Ein Komfortable? I müßt mich ja schämen, wann i net mit einem Fiaker vorfahr, vor all die Leut! Servus, Papitschka!«

Sie lehnte sich lässig, wie in einer Privatequipage, in die Polster zurück. Der Schani aus dem Bock mit dem aufgewichsten Schnurrbärtchen bog sich zungenschnalzend vor. Die ungarischen Jucker warfen die Vorderschultern. Die Gummiräder federten lautlos auf dem Pflaster. Die wilde Jagd bog um die Straßenecke. Das Hanserl nickte selig zurück.

Reinhold Nimis, der Graukopf, ging allein weiter durch die Kaiserstadt. Wien, du altes Wien ... Noch standen die Kirchen und die Paläste, die Patriziergiebel und die Barockbauten der Ministerien wie damals, als er vor vierzig Jahren als junger Student zuerst hier auf der Wiedener Straße aus der Postkutsche gestiegen. Nur war die Kärntner Straße, durch die er ging, doppelt so breit geworden, als sie im Vormärz war, und die breite Pracht der Ringstraße, in die er bog, war neu. Aber immer noch hieß es um die Mittagsstunde: »Es ist die Burgmusik mein allerhöchstes Glück!« und brauste es auf dem Innenplatz der Hofburg, in deren Hunderten von Sälen und Gemächern einsam der alte Franz Josef hauste, von der Kapelle des Edelknabenregiments: »Gott erhalte Franz den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz!« Immer noch malte sich in der Verschnürung auf den Schenkeln der Honveds, in dem grellen Kopftuch böhmischer Steinträgerinnen,den roten Fezen bosnischer Hausierer und roten Schärpen welscher Kastanienbrater, den schwarzen Ringellöckchen und Kaftanen galizischen Ghettos und den farbigen Landestrachten Siebenbürgens und Tirols – immer noch malte sich in ihnen das gewaltige Völkergemisch bis zur Adria und dem Eisernen Tor, über das der doppelköpfige Adler Habsburgs seine Fittiche spreizte.

Und doch erschien das alles dem Achtundvierziger verblaßt und welker als damals. Der alte Stephan schaute immer noch, den Zeiten trotzend, über seine Stadt hin bis zur schönen blauen Donau und dem Wiener Wald in der Ferne. Aber es wehte wie ein herbstlicher Hauch über Hofburg und Herrengasse. Reinhold Nimis wußte nicht, war das das eigene Alter, das ihn das Herz der k. und k. Lande alt sehen ließ, oder war dies Herz selbst alt geworden. Alt nach Magenta und Solferino, nach Maximilian von Mexiko, nach Königgrätz und dem Krach. O du mein Österreich ... Die vielen böhmischen und madjarischen Namen auf den Firmenschildern fielen ihm auf. Die Stadt war kerndeutsch. Trotzdem zitterte etwas Unsichtbares, Fremdes, Feindliches in der Luft, so als nagte unablässiger, unterseeischer Wellenschlag an ins Meer hinausgebauten Quadern.

»Spatz! Ich hab's doch gewußt! Da kommt er!«

Auf dem Opernplatz blieb ein kleiner, dicker, alter Börsianer forschend vor Reinhold Nimis stehen und breitete halb scherzend, halb zweifelnd die Ärmchen aus. Unendliche, schmunzelnde Nachsicht mit allem Menschlichen, allzu Menschlichen glättete ölig die Runzeln der Wangen und die Tränensäcke unter den Augen, die unstet, neugierig flink wie schwarze Mäuse durch den auf der scharf gebogenen Nase sitzenden Zwicker guckten. Satt-versöhnlich spielte ein gutmütiges Lächeln um die dicken Faunslippen unter dem schwarzen Schnurrbart, der ebenso wie die krausen Ringellöckchen unter der Zylinderkrempe zu stiefelwichsartig glänzte, um nicht gefärbt zu sein. Das ganze Männchen war in eine Wolke behaglichen Daseins auf der Wiener Ringstraße gehüllt, wie das gewölbte Bäuchlein in einen prallsitzenden, viel zu kurzen, mausgrauen Gigerlpaletot und die Lackstiefel in taubenfarbene, auffallende Gamaschen. Ein Diamant von Haselnußgröße wechselte in der Rosaseide des Schlipses über der weiß gefältelten Hemdbrust sein glitzerndes Wasser.

»Nu – Herr von Nimis? Wer bin ich?«

Der alte Herr zögerte.

»Denken Sie an Achtundvierzig. An unseren Cercle junger Leute in Heidelberg! ... Nu – was soll ich sagen?« Die rundlichen Schultern hoben sich heftig. An den spielenden fetten Händen funkelten die Ringe. »Denken Sie an den Jeanche Weixselbaum!«

»Herrgott! Herr Weixselbaum! ... Nach vierzig Jahren, ... Ja ... Wie geht's Ihnen denn?«

Der andere machte wieder eine nachsichtig ablehnende Bewegung mit der Achsel auf die kindische Frage, wie es ihm gehen könne? Ihm? ... Eine unermeßliche Selbstzufriedenheit lächelte duldsam und gutmütig um die weltkundigen Mundwinkel. Er zog die Nummer der »Wiener Extrapost« hervor und wies auf den Artikel: »Ein alter Achtundvierziger.«

»Da hab ich Sie schon angekündigt, Herr Nimis!«

»Haben Sie der Zeitung die Nachricht geschickt?«

»Spaß! Die ›Extrapost‹ gehört mir doch!«

»Da gratulier ich!«

»Zu dem Schmarrn?« Weixselbaum nickte nachsichtig lächelnd zu so viel jugendlicher Unerfahrenheit und Unkenntnis des Graukopfs vor ihm, »Wenn mir nicht mehr als das in Wien gehören tät, mein Lieber ...«

»Aber woher erfuhren Sie ...«

»Ihre Ankunft hat mir der Herr von Fronhofer erzählt!«

»Hatten Sie bei ihm auf dem Ministerium zu tun?«

»Die Ministerien haben bei mir zu tun«, sprach Weixselbaum und ging mit dem Jugendgefährten den Kärntner Ring zurück. Er schnaufte dabei kurzatmig. Er hatte überall beim Emporklimmen aus der Lebensleiter Fett angesetzt. Ein gemütlicher Größenwahn hob ihn über Wien empor bis zur Höhe des Stephansdoms. Er grüßte lässig nach allen Seiten. »Ich bitt Sie: Was ist denn ein Minister? Ein Minister ist ein junger Mann, den man schaßt, wenn er im Geschäft Dummheiten macht! Im Polenklub haben sie gestern abend ...«

Er unterbrach sich und schwenkte vertraulich den Bibi zu einer im vorbeijagenden Unnumerierten hingegossenen Dame. Ein Leibjäger auf dem Bock. Es konnte eine Fürstin sein.

»Die Poldi!« sprach er. »Haben's sie gesehen? In der neuen Operette? Beine hat das Madel! ... Weil ich Ihr Freund bin: Fixen Sie Goldrente! Budapest kommt morgen flau!«

»Wie?«

»Sie liegen richtig! Wenn die Rothschildgruppe ... Ja, schauen's: Mir hat's der Türkenhirsch mal gesagt: Je weniger bei uns ein Minister gelernt hat, desto mehr taugt er halt! Deswegen halt ich's mehr mit die Ungarn, obwohl ich die Regierung unterstütze!«

»Das haben Sie früher nicht getan!«

»Wann, mein Lieber?«

»Achtundvierzig!«

Weixselbaum legte den Wollkopf auf die Schulter. Es war eine Bewegung milden Verständnisses für sich und andere im Wechsel der Zeiten.

»Man war jung. Das gibt sich. Mir war's schon damals zu lärmend. Ich bin wieder von Köln nach Paris. Und in den sechziger Jahren, nach dem Ausgleich, nach Wien.«

»Und hier fühlen Sie sich wohl?«

Weixselbaum bekam den Hut kaum auf den Kopf. Alle Welt kannte ihn. Man sah beim Grüßen, daß die schwarzgefärbten Löckchen nur als schmaler Kranz eine mächtige, weltliche Tonsur umrahmten. Er winkte mit der Hand in die Cafés hinein, nickte Freunden zu, dankte als ein Pascha, auf die ehrerbietigen Verbeugungen der wartenden Fiaker. schwamm behaglich wie ein alter Karpfen in sonnenwarmem Schlammwasser.

»Bitt Ihnen, Herr von Nimis: Was wär denn Wien alsdann ohne mich?«

Dann wurde er wehmütig, »Die schöne Heidelberger Zeit! Ein junger Mensch soll Ideale haben – freilich!«

»Ich hab mir meine Ideale von Achtundvierzig bewahrt!«

»Ach – gehen's!«

» ... und werde sie hochhalten, bis ich sterbe!«

»Plauschen's net! Kommen's mit herauf, Herr Nimis, und sagen's meiner Frau guten Tag!«

Der Herr von Wien stand vor einem palastartigen Gebäude des Kärntner Rings. Er begönnerte jetzt Leo Nimis mitleidig wie ein großes Kind. Nahm ihn einfach, ohne auf seinen Einspruch zu hören, unter den Arm, stieg wohlwollend mit ihm die steinerne Rokokoschnecke empor, in der sich die kurze, breite Treppe bis zum Mezzanin schnörkelte.

»Johannes Ritter von Weixselbaum« stand da auf dem Schild neben der Tür. Ein Kammerdiener verneigte sich mit der glattrasierten Feierlichkeit eines Botschafters. Lakaien standen auf den Schwellen der langen Flucht von Sälen und Gemächern, Schloßteppiche lagen auf dem Parkett, Tizians und Murillos und Rubens prangten an der Seidenbespannung der Wände, flandrische Gobelins hingen vor dem Eingang in den Speisesaal. In ihm scholl am runden Familientisch seltsam nach dem feierlichen Schweigen der Prunkräume, lautes Stimmengewirr, Lachen, Wien, das Heute.

»Da stell ich Ihnen meine Frau vor. Herr von Nimis! Sitscherl, der Herr von Nimis hat Hunger! Was habt's denn da? Tafelspitz mit Kren? A la bonheur! ... Mein Schwiegervater, Herr von Nimis! Sie müssen ein bissel laut reden! Er ist halt kein Jüngling mehr. Einundachtzig!«

Der alte Hirsch Donauer hatte mit dem schneeweißen Patriarchenbart und dem schwarzen Käppchen auf dem langen, weißen Haar etwas Ehrwürdigem, Alttestamentarisches. Man unterhielt sich mit ihm hauptsächlich, indem man Fragen mit Bleistift auf kleine Zettel schrieb und ihm zuschob, Er antwortete dann mit der bei einem Greis wunderlich starken Stimme des Tauben. Nur seiner Tochter Sidonie, einer unauffällig kostbar gekleideten kleinen älteren Dame, las er die Worte von den Lippen ab »Hier meine Buben ... der Leopold ... Nu – was soll ich weiter sagen ... Sie wissen ja! ... Im Herbst wird seine neue Oper in Monte Carlo aufgeführt!«

Der Stolz der Familie, der Kunstmäzen und Komponist, war ein weicher, geräuschlos-eleganter Ringstraßenkavalier, zurückhaltend-vornehm nach dem Muster seiner hochadeligen europäischen Freunde, mit schwermütigen Augen und dem seidenschwarzen Backenbart im Schnitt des alten Kaisers Franz Josef. Neben dem internationalen Weltmann stand sein jüngerer Bruder, dem Vater ähnlicher und sein Sozius.

»Mein Sohn Charles! Seine Frau, geborene Osmanos! Sie wissen: Unser Konvertierungs-Osmanos in Wien! Nicht der Bruder von der Dette publique in Pera.«

Charles von Weixselbaum sprach Französisch mit den Schwestern seiner Frau, von denen jede für eine halbe Million Schmuck an sich trug. Der Alte stellte behaglich vor: »Madame Rappaport aus Mülhausen. Madame Ulmo aus Paris ... hier schauen's meine eigenen Schwäger: den Koloman Goldkind ...«

»Hab die Ehre«, sagte der aus Budapest gekommene Weizengroßhändler.

»... und den Siegfried Hungar!«

»Servus« sprach der Großbaissier an der Wiener Börse.

Da war noch der Hausfreund Sigi Stockfisch, ein trockener und verdrießlicher schweigsam kauender alter Junggeselle mit kränklichem Gesicht, und ein großer, schöner, vollbärtiger Mann in den Vierzigern, der wie ein Hohepriester aus dem Tempel Salomons aussah und auch etwas von dessen Würde an sich hatte.

»Doktor Mandel! ... Der Zionist!«

»Mir is zu weit nach Palästina«, sagte Charles und lachte. Simone, seine Frau, die geborene Osmanos, stimmte bei.

»Ich werd unterwegs seekrank!«

Doktor Juda Mandel, der Sohn des Wunderrabbi in Ostgalizien und Doktor dreier Fakultäten, aller Sprachen Europas kundig, redete in Gegenwart eines Fremden nicht über diese tiefsten Fragen seines Volkes. Er saß hier in der leichtlebigen Tafelrunde der Kaiserstadt, in der er selbst wohnte, wie ein Sendbote der Weite, des fernen Ostens und seiner Ghettos zwischen den Kosakensteppen und den Karpathen. Um ihn und Reinhold Nimis plätscherte das Gespräch leicht und vergnüglich wie die Wellen der Donau. Man fühlte sich ja so wohl in Wien. Warum von hier fort? Die Länderbank ... die ewigen Schwulitäten der Südbahn ... Ich bitte: das is halt keine Rolle für den Girardi ... Buschtierahder steigen ... Laßt's mich bloß beim Essen mit dem Lueger aus! ... Wann's als gegen die Ungarn hetzen .. Ma chere Simone .. Die Ungarn kann net einmal der Teufel schlucken... I bin selber einer! ...«

Der Kornkönig lachte zufrieden, im Stuhl zurückgelehnt, die Daumen im Ausschnitt der Weste. In Budapest lebte sich's ebensogut wie hier in Wien. Überall in Österreich. Sie sprachen plötzlich alle wieder Französisch. Die zerbrechlich dünne, in einen Schneidertraum gehüllte Madame Ulmo berichtete in rasendem Pariser Zungenschlag von der Seine. Ihr Mann sei eben nach Brüssel gefahren. Sie treffe sich mit ihm auf der Rückreise in Frankfurt. Dort habe er auch ...

Sie verstummte auf einen warnenden Blick des Ritters von Weixselbaum. Siegfried Hungar begann auch nur: »Ich bin, er soll nur die Alliance Israélite...« und brach sofort wieder ab. Juda Mandel, der Zionist, sagte halblaut zu Leopold, dem älteren Sohn, so daß der Gast am Tisch nur den Anfang hörte: »Wir arbeiten jetzt sehr stark von Neuyork aus, daß in Palästina ...«

»Poldi ... Kennst den Principe von San Donato? Die Simone möcht's wissen!«

»Er war mein Parrain im Circolo della Cuccia zusammen mit dem Grafen Bjelinski«, sagte der künstlerische Weltmann leise, nebensächlich, um nur ja kein Aufsehen damit zu machen. Er besaß überall aristokratische Freunde unter echten, wenn auch verarmten Herzögen Siziliens und russischen, in Meraner Schlössern hausenden Fürsten, unter päpstlichem, neunzackigem Adel und Pariser Prinzen der Lebecercles. Drüben am Tisch waren sie wieder bei der neuen rumänischen Staatsanleihe. Geld, Geld. Das Gespräch umspannte ganz Europa mit goldenen Fäden und lief wieder nach der Wiener Börse zurück. Auch während des Essens empfing der Ritter von Weixselbaum noch Kursdepeschen und die Karten draußen antichambrierender Besucher, schickte die meisten der letzteren weg und ließ einen oder zwei bitten, sich zu gedulden. Lange Titel prangten auf deren Visitenkarten. Aber ihn störte das nicht beim Schwatzen. Wien hatte auf ihn zu warten.

Er war, die Zigarre schief zwischen den dicken Lippen, die Brillantenträger der Finger über der weißen Weste gefaltet, in versöhnlichster Stimmung. Menschenfreundlich. Großmütig. Hilfsbereit.

»Wollen's schon gehen, lieber Nimis? Alsdann, hat mich sehr gefreut!«

Und in dem anstoßenden leeren, ganz in weißgoldenem Empire getäfelten Musikzimmer vertraulich: »Wie lange bleiben's denn in Wien? Ich weiß ja, was Sie herführt. Ich weiß alles, was in Wien passiert! Ich will schauen, was ich für den Fronhofer tun Tann ...«

»Aber ...«

»Die zukünftige Gnädige will net weit von Wien weg, hab ich gehört...«

»Auch schon!«

»Ich werd's beim Minister bestellen! Verlassen's, sich drauf: die jungen Leute bleiben in Wien!«

»Ich wußte nicht, daß Sie so mächtig sind«, sagte Reinhold Nimis. Sein Gastfreund legte, gerührt über so viel Unschuld, den kurzen, breiten Zeigefinger auf die Elfenbeinrose an der Wand.

»Das Leben ist ein Klingelbrett, Freunderl! Wann ich auf den Knopf drück, kommt der Diener und hilft Ihnen in den Mantel. Und wann ich auf einen andern Knopf drück, kommt die öffentliche Meinung und hilft der Regierung in den Sattel ... Servus ... Wenn Sie noch ein paar Notizen über sich im Blättchen haben möchten ... geschieht gern!«

»Danke. Ich sehe die Welt lieber aus der Stille an!«

Der Ritter von Weixselbaum hob ergebungsvoll die ewig beweglichen, mit einer eigenen Gebärdensprache des Ostens begabten Schultern. Zu fade Leut – diese Idealisten, die nichts wollten ... Gott sei Dank: Die Rasse starb aus ... Hier und im ganzen Kaiserstaat und draußen im Reich und überall auf der Welt ...

Und etwas Ähnliches fühlte unten der alte Achtundvierziger auf seinem Weg durch die alten Gassen und Winkel der Innenstadt zum Gasthaus. Ein Frösteln des Altgewordenseins. Oder des Junggebliebenseins. Jedenfalls des Alleinseins. Etwas wurde selten auf Erden, was früher Gemeingut vieler gewesen. Man hatte es sich gegenseitig an den Augen abgelesen und Hand in Hand geschlagen an der Donau und selbst an der Spree. Am Neckar und am Rhein. Jetzt waren die Augen deutscher Menschen allerorts kühl geworden. Nicht mehr das Land Nirgendwo und Ewig spiegelte sich in ihnen, sondern die Börse, die Staatsanstellung, das Volksmandat, der Orden, die Konjunktur, die gute Partie, der Titel, die Protektion. Das Wollen galt mehr als das Wissen. Über der Erkenntnis stand der Erfolg. Die Dinge waren nicht zum Sehen da, sondern zum Beherrschen.

Und doch war einer, in dessen braunen, ruhigen, tief in sich gekehrten Augen noch der frühere Deutsche lebte. Zwickergläser schieden diesen stillen Blick noch mehr von dem lachenden Wien da draußen. Dies von einem kurzen, blonden Vollbart umschlossene Gelehrtengesicht hatte im Ausdruck den Ernst des Nordens, in den Linien die Weichheit deutschen Südens. Es war nichts Strenges darin. Keine Härte. Es war nur einer, der das Leben nicht leicht nahm ...

Der Sektionsrat im Ministerium, Dr. Camillo Fronhofer, saß nach dem Nachtmahl seinem zukünftigen Schwiegervater gegenüber. Die Damen, Frau von Matula und die Hansi, hatten sich in das Nebenzimmer zurückgezogen.

»Das hättest du dir auch nicht träumen lassen, Schwiegerpapa,« sagte Camillo Fronhofer – er hatte eine warme tiefe Stimme und sprach langsam – »daß es das aus der buckleten Welt gibt: Einen traurigen Wiener! Noch dazu einen, der traurig ist, eben weil er Wiener ist! ... hör nur, wie's Hansel nebenan Triller lacht! Sie kann ganze Tonleitern lachen, rauf und runter!«

»Ach lieber Camillo, ich bin alt. Ich fange an, manches zu verstehen!«

»Ich kann mir nicht helfen: Ich leide eben an einer Krankheit – brauchst nicht zu erschrecken –, und die Krankheit ist unheilbar. Denn sie heißt Österreich ...«

»Also, Tante Lintscherl!« plauschte nebenan die helle Kinderstimme, »Ich denk halt, ich nehme weißen Crêpe de Chine und die Schleppe ...«

Camillo Fronhofer lächelte verliebt und versonnen, während sich der Wortwechsel im Rauschen einer gespannt durchblätterten Modenzeitung verlor.

»Österreich ist krank«, sprach er. »Schwer krank.«

»Mir scheint es auch.«

Wenn Reinhold Nimis seinen künftigen Schwiegersohn betrachtete, fiel es ihm immer wieder auf, daß man ihn nach seinem Äußeren eher für einen Arzt halten konnte als für einen höheren Verwaltungsbeamten. Es war der ernste, forschende, unbeirrte Blick des Arztes. Des Arztes am Krankenbett der Zeit. Nur daß aus diesem Blick noch eigenes, tiefes Leiden und Mitempfinden sprach, als säße er am Schmerzenslager seiner eigenen alten Mutter Österreich.

»Weißt du, woran wir hier sterben, Schwiegerpapa?« sagte er ruhig. »Am Jahr sechsundsechzig. Ihr draußen freut euch und sagt: Wir haben Kaiser und Reich. Nein: Wir haben zwei Kaiser und zwei Reiche. Eins in Wien, eins in Berlin. Seitdem ist Deutschland ein Widerspruch zu sich selbst, und in dem Zwiespalt ist Österreich der schwächere Teil, und es gibt halt kein Heilmittel gegen Königgrätz ...«

»Also die Mascherln, da am Rock, sind süß!«,hörte man aus dem Nebenzimmer Hansis helle Kehle. »Sehr lieb! ... Tante Lintscherl, wird der Ausschnitt so tief genug?«

»I sollt's wirklich meinen, du Tschaperl!«

»Oder rucken wir's noch ein bisserl runter?«

»Seit Königgrätz, Schwiegerpapa, ist die deutsche Ehe geschieden durch einen Trennungsschnitt mit scharfem Messer zwischen Etsch und Belt. Mag ja sein, daß sich beide Teile wohler fühlen, seit sie einander los sind! Aber ein Knacks auf Lebenszeit bleibt. Berlin ist dabei der Mann. Ein geschiedener Mann kann leicht wieder hinaus ins Leben. Wien, die Frau, hat's schwerer. Ohne Halt und Hilfe wie so manche geschiedene Frau ...«

»Seid's noch net fertig mit eurer grauslichen Politik?« Ein rosiges Evakopfchen schmollte neckisch durch den Türspalt.

»Geduld, Hanserl!«

»Gleich, mein Götterl, gleich!«

Der Sektionsrat Camillo Fronhofer wandte sich wieder dem künftigen Schwiegervater zu und sagte, immer mit dem leidenden Hellsehen eines Arztes aus den versonnenen Zügen: »Deutschland und Österreich müssen wieder zueinander. Sonst gehen wir hier zugrund. Es kommt ja vor, daß geschiedene Eheleute sich wieder heiraten und es nicht bereuen. Deutschland ist, wo deutsche Menschen wohnen. Erst wenn es eine Wohnung für alle deutschen Menschen ist, hat's seinen Namen verdient. Das habt auch ihr Alten gewollt. Achtundvierzig!«

»Ja – das war unser Kampf und unser Leid.«

»Im alten Heiligen Römischen Reich hatten noch alle Deutschen Platz. Selbst im elenden Deutschen Bund hinterher. Erst vor zwanzig Jahren hat sich Deutschland selbst geteilt, so wie man einst Polen teilte. Euer Haus ist groß und prächtig. Aber ein Drittel aller Deutschen steht draußen vor verschlossenen Toren ...«

»Leider ... leider ...«

»Euch geht es gut im Reich, und ihr seht zu, wie wir in Österreich zugrunde gehen!«

»Mein altes Österreich ... Ich bin doch selber halber Österreicher ... meine Mutter stammt aus Wien ... Österreich lebt und blüht ...«

»Österreich heißt Ostmark. Die Mark, nicht das Reich. Das Glied, nicht der Leib. Jahrhunderte hindurch hat Österreich Blut vom großen deutschen Körper empfangen und mit dem kostbaren lebendigen deutschen Blut die fremde große Slawenwelt längs der Donau veredelt und das Blut im Kreislauf an Deutschland zurückgegeben. Seit zwei Jahrzehnten sind unsere Lebensadern nach Deutschland hin abgeschnürt, und wir fangen an, es zu spüren. Unser Herzblut läuft langsamer, der Pulsschlag stockt. Wir können den Osten nicht mehr meistern. Unsere Hand wird matt. Der Osten wälzt sich heran. Der Osten steht nie still. Das ist ein ewiges Schieben und Drängen der Völker ... Oh ... ich weiß schon, was du sagen willst: Das ist die Stimme eines Predigers in der Wüste! Da hast du recht! Außer mir hörst du das kaum von einem Menschen in Wien!«

»Jetzt kommt's doch schon!« schrie die Hansi weinerlich und ungeduldig.

»Nur ein Minuterl, mein Herzensschnucki! ... Gelt ... bist lieb? ... Freilich, Schwiegerpapa, hier in Wien hörst du sonst eher das neuste Fiakerlied und Tratsch vom Burgtheater als solche Worte. Aber einmal bricht die slawische Sintflut herein. Das braucht nicht heut zu sein. Das kann in zehn und in dreißig Jahren geschehen. Vielleicht erst, wenn ich einmal so alt bin wie du jetzt. Das wär so um 1912 herum. Das ist noch lange hin. Doch schließlich muß sich's vollenden!«

»Jetzt hol ich dich, du Lump!« trällerte die Hansi.

Vom Lichtschein aus dem hellen Nebenzimmer in eine goldige Wolke gehüllt, kam sie heringetänzelt, beugte sich in die Knie und streichelte ihm in zärtlichem Leichtsinn das dichtgewellte Haar, als wollte sie all das dumme Zeug, das ihm darunter im Schädel braute, verscheuchen.

»Wenn er auf die Politik kommt, is er alleweil so grantig, Papischka! Guckerln zu, Buberl! Stillhalten! hübsch artig sein! So!«

Sie vergrub mit einem herzhaften Schmatz ihre roten, weichen Kinderlippen in den Bart ihres Verlobten, der gehorsam, mit geschlossenen Augen und glücklich lächelnd, wie hypnotisiert dasaß, und lachte aus vollem Halse.

»Wie er um meine Hand angehalten hat, hat er sich verschluckt und hat husten müssen und ist rot geworden wie an Indian ...«

»Hansi – sei g'scheit!«

»Ach – ich war ja so froh, Paperl!« Die Hansi legte beide Hände aufs Herz und atmete erleichtert auf.

»Warum denn?«

»Ich bitt dich: Weil er so gar keine Ahnung in Liebeserklärungen gehabt hat, der Camillo! ... Wie ein Schulbub hat er sich angestellt, der lange Mensch! I hab gemerkt: I war die Erste!«

»Ja wirklich, Schwiegerpapa!«

Das Hanserl tanzte im Zimmer herum.

»Hurra! I war die Erste! ... I war die Erste! Das soll einer anderen in Wien passieren! Da hätt'st neulich den Poldi sehen sollen, wie der zum Spaß vor mir hingekniet is und sein Sprücherl hergebetet hat! ... I hab ihm gesagt: Poldi – das kannst auswendig! Das hast schon zu oft aufgesagt! Damit frett'st dich net mehr lang durch! ... Aber der Camillo! Deswegen hab ich ihn ja gerade gern, weil er gar so ernsthaft is! I brauch 'n ernsthaften Mann! I weiß schon! Sonst werd ich zu fidöl im Leben ...«

»Geh her, mein Engerl!«

Doktor Fronhofer zog die blühende, duftende Blume von der blauen Donau zärtlich an sich. Sie schmiegte sich weich und spielend wie ein Kätzchen mit halbgeschlossenen und doch schlauen Augen an seine Brust.

»Wie ihm's Herz puppert!« sagte sie schläfrig. »Nur für mich. Gelt? Nur für mich?«

»Immer nur für dich!«

Er ließ sie behutsam wie ein zerbrechliches Spielzeug aus seinen Armen gleiten, trat vor den Schwiegervater hin und gab ihm die Hand.

»Wir wollen uns nicht weiter streiten, Schwiegerpapa!« sagte er. »Das Hanserl lacht uns nur aus!«

»Still, du Spitzbub!« Der alte Herr drohte ihr gerührt mit dem Finger. Er war beinahe ebenso verliebt in seine hübsche Tochter wie ihr Bräutigam.

»Ich bin zu ernst. Die Hansi wird mich schon erziehen, daß ich die Welt anders anschau! Dann werd ich lachen lernen! ... Närrisch – nicht: Ein Wiener, der nicht lachen kann?«

»Lieber Camillo, nirgend fand ich von jeher die Schwermut so nahe beim Leichtsinn wie bei euch unten!«

»Wann d' nur die Politik laßt«, sagte die Hansi. »Du änderst doch nix an unserer Schlamperei!«

»Die Weisheit aus Kindermund, Camillol«

»Keiner kann's, Schatzi! Das weiß eh an jeder! Es wird halt fortgewurstelt, sagt Onkel Alfi!«

»Bis zum Ende mit Schrecken!«

»Da fängst wieder an! Geh, sei doch lieb!«

Sie griff ihm schmeichelnd unters Kinn und kraulte ihm den Bart, bis er ihr den Gefallen tat und lachte. Sie machte mit ihm, was sie wollte. Reinhold Nimis schüttelte leise den Graukopf und hob hoffnungsvoll die grauen Wimpern, als suche er in den Höhen Habsburgs Stern. In seinem Ohr jubelte aus seiner Jugend der Radetzkymarsch. Rauschte es durch Deutschlands vormärzliche Stille: »Es gibt nur a Kaiserstadt – es gibt nur a Wien.« Fragte Arndts Geisterstimme: »Gewiß, es ist das Österreich, an Ehren und an Siegen reich!« O du mein Österreich ... Tu felix Austria! Viele Perlen fielen aus deiner Krone, seit ich dich mit Jünglingsaugen sah! Wo ist Mailand? Wo Venetien? Aber immer noch brandet die Adria an deine Küsten, rauscht die Etsch durch den ewigen Schnee Tirols, dunkelt der Böhmerwald, kreist der Adler über Siebenbürgens Grün und pfeift der Wind über die Pußta und hält der Grenzer im kroatischen Eichenwald Wacht und spiegeln sich der Städte und Völker viele in den Wassern der Donau. Immer noch bist du reich, Österreich! Kannst Deutschland viel geben und viel sein! ...

»Mag sich auch zwischen den schwarzgelben Pfählen nichts ändern«, sagte der alte Achtundvierziger zu seinem Schwiegersohn. »Draußen ändert sich die Welt. Die, die ohne euch das Deutsche Reich geschaffen, rüsten sich zur großen Reise. Kaiser Wilhelm und sein Sohn, der Sieger von Königgrätz! Wer weiß, wie lange uns noch unser Bismarck bleibt. Eine neue Zeit steigt herauf. Mögen dann Deutschland und Österreich Hand in Hand gehen und den rechten Weg!«


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