Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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IX.

Der blaßblaue Sommerhimmel über dem finnschen Meer verschleierte sich an diesem Julitag von 1891 in den weißen Wolken des Kanonendonners, unter dem sich Frankreich und Rußland auf der Reede von Kronstadt einten. Schwarze Schwaden wälzten sich aus den Schloten der Schlachtschiffe, rote Blitze zuckten aus ihren Türmen, aus den Kasematten der Inselfestungen, von den scheinbar auf dem Wasser schwimmenden Seebatterien und aus den Mäulern der Geschütze auf den Molen flammte es dagegen, über dem Pulvergewölk flatterte brüderlich von den Masten der sich in langen Reihen gegenüberliegenden welschen und moskowitischen Panzer die blauweißrote Trikolore und das blaue Andreaskreuz im weißen Feld. Häuser und Hafen der Kronstadtinsel Kotlin badeten sich im Schwarzgelbweiß des Zaren. Von der russischen Küste drüben flatterten bunte Fahnen längs der viele Stunden langen parkgrünen Kette von Palästen, Sommersitzen, Badeorten, Lustschlössern zwischen Petersburg und Oranienbaum. Die blaue Flut des Golfs wimmelte von bewimpelten Schaluppen, Jachten und Vergnügungsdampfern.

Die dritte Republik und das heilige Rußland vermählten sich feierlich im Meer von Kronstadt. Der finstere gekrönte Muschik Alexander der Dritte und der weltmännische Enkel des Königsmörders Carnot umarmten sich im Bruderkuß. Der russische Dampfer »Onega« hatte triumphierend die Franzosen durch die Finnenbucht herangelotst. Nun lagen da die Kolosse, Masten und Rahen blau von Pünktchereihen mützenschwenkender und jubelnder Matrosen. Pinassen mit Admiralen und Würdenträgern der beiden Reiche schossen hin und her, die Trommeln wirbelten am Fallreep, an dem die Kommandanten mit Dreispitz und Degen standen. Feierlich klang von der »Marengo«, dem Flaggschiff des Admirals Gervais, vor entblößten Häuptern Glinkas: »Gott schütze den Zaren!«, und drüben, von dem Geschwaderschiff des Selbstherrschers aller Reußen, schmetterte, Thron stürzend, Kronen brechend, die Marseillaise:

»Tyrannenwut ist wider uns
und zückt Ihr blutbeflecktes Messer ...«

und der Seewind trug höhnend die selbstmörderischen Klänge gen Osten, nach den unterirdischen Kerkern Schlüsselburgs und den sibirischen Bergwerken, und gen Westen, den Baltenstrand entlang.

An dem träumte fern, weit fern an der estnischen Küste, das Städtchen Baltischport. Es träumte wie alle Tage. Hier war heute nichts Besonderes los. Wie immer wuchs das Gras in den paar ungepflasterten breiten Straßen zwischen den einstückigen Holzhäusern und lag in dem kleinen Hafenbecken ein lebensmüder Segler und schütteten die Fischer die glitzernden Haufen von frisch gefangenen Strömlingen zwischen den ausgespannten Netzen auf das Ufer und weidete das Vieh inmitten der grasbewachsenen ehemaligen Festungswälle der Großen Katharina.

Vor der hölzernen Endstation der nach Reval führenden Kleinbahn stand der Teekessel, ein sonderbarer, in eins zusammengebauter, zweistöckiger Zwitter von Lokomotive, Tender und Personenwagen. Es wurde nach russischer Art wie besessen zur Abfahrt geläutet. Aber niemand nahm das vorderhand ernst. Das Stillleben war heute noch ländlicher als sonst. Denn auch die Kronschiffe, die häufig draußen vor Packerort kreuzten, weilten jetzt drüben zu der Bündnisfeier auf der Reede von Petersburg.

»Sie haben leider eine jrimmige Zeit jewählt, um bei mir Ihren Elch zu schießen, Herr Jeheimrat!« sagte der Baron Bartenschildt in seinem harten baltischen Deutsch zu dem Dr. Alfons von Svängler-Colosimo vom Auswärtigen Amt in Berlin, dem Gast auf seinem Gute, dem und dessen Gattin er das Geleit zur Abfahrt nach Petersburg gab.

»Reden Sie nicht, verehrtester Baron! Tiefgefühlter Dank ist meines Herzens Stimme. Nachdem ich den hervorragenden Vorzug hatte, Sie diesen Winter in Berlin in der russischen Botschaft kennenzulernen, und Sie die Gnade besaßen, mir zu gestatten, mal bei Ihnen einen Finger krumm zu machen!«

»Is jerne jeschehen! Nur kamen Sie bei uns jerade zu dem Handkuß Dschinghis-Khans an Frankreich. Zu anderen Zeiten hätten Sie bei uns nur die Deutschenverfolgung jefunden, wie sie in den Ostseeprovinzen jetzt jang und jäbe ist!«

»Ja ... ja ...« Der Geheimrat von Spängler gähnte durch die Nase, die zu kurz und zu klein in dem verwöhnten Feinschmeckergesicht saß.

»Zum Beispiel, die Stationsbeamten hier können alle Deutsch wie wir...,« ergänzte die Baronin Bartenschildt, die mit Klothilde von Spängler auf dem hohen, hölzernen Bahnsteig stand, »aber es ist ihnen verboten, ein Wort Deutsch zu sprechen!«

»Unsere deutschen Schulen sind jeschlossen«, fügte der Baron Stedingen, der bis Kegel mitfahren wollte.

»Unsere deutsche Amtssprache ist uns genommen«, versetzte der alte Graf Hardinghausen.

»Unsere Pastoren dürfen keine jemischte Ehe mehr einsegnen!«

»Unsere alten, verbrieften, vom Zaren beschworenen Rechte werden von dem Tamerlan in Moskau mit Füßen getreten!«

Erregte Gesichter um den Geheimrat von Spängler... angstvolle Augen... ein Rufen von vielen Tausenden von der Bernsteinküste bis zur Naromaschlucht: »Deutschtum in Not!« Ihm wurde unbehaglich. Er lächelte die Barone und ihre Damen beschwichtigend an. Aufgeregte Menschen liebte er nicht ...

»Ja – was kann man da tun, meine verehrtesten Gönner?«

»Für uns Balten in Petersburg eintreten! Wir verteidigen hier seit vielen Jahrhunderten den äußersten Vorposten deutscher Kultur!«

»Alle andern Völker kajoliert ihr seit drei Jahren! Reist umher! Feiert sie! Überschüttet die Welt mit Komplimenten und Reverenzen! Nur jerade die deutschen Stammesverwandten verjeßt ihr ...»

»Wenn der Russe mit uns anfängt, endet er mit euch!« sagte der greise, hochgewachsene Graf Hardinghausen, »Die Balten schlagt er und die Deutschen meint er! Uns unterdrückt er und verliert dadurch den Respekt vor dem Deutschen überhaupt!«

»Ja, aber wir tun ja, was wir können«, sprach Herr von Spängler etwas unsicher. Die Leidenschaft der sonst so kühlen Balten machte ihn verwirrt. »Wir sind ja gegen Rußland so höflich wie nur menschenmöglich. Jedes Jahr kommen wir zu Besuch – im Vertrauen: sogar uneingeladen! – Wir lassen es wirklich an Entgegenkommen nicht fehlen!«

»Das ist ja eben der Fehler! Untertänigkeit versteht der Moskowiter ganz falsch! Das lockt bei ihm nur Asien auf die Bildfläche! Bismarck – der verstand die Kunst, mit Russen umzugehen!«

Klothilde von Spängler stand neben der Baronin Bartenschildt und der Baroneß Stedingen. Die Ostseebrise bauschte ihr die weiten grünen Ärmel, die sich mit hohen Schulterzwickeln von der weißseidenen, eng die Figur umspannenden Taille absetzten. Der Rock flatterte ihr im Winde um die mädchenschlanke hohe Gestalt. Sie hielt mit der einen Hand das mit Blumen ausgeputzte Toquehütchen auf dem hochfrisierten Haar, dessen tiefer Kupferglanz hier in Luft und Sonne noch wärmer als sonst die Schönheit des weißen Gesichts mit den paar launischen Sommersprossen belebte. Ihre hellen, haselnußbraunen Augen suchten ihren Mann, der, durch den plötzlichen Ansturm der Balten aus dem Gleichgewicht gebracht, unruhig dastand und schwieg.

»Fühlte sich Ihr Herr Vater nicht in letzter Zeit etwas leidend?« erkundigte sich die blonde, frische Baroneß Stedingen. Klothilde von Spängler sah die Achtzehnjährige erstaunt an.

»Mein Vater?«

»Ja doch!«

»Der ist schon seit vielen Jahren tot!«

»Aber wie denn?«

»Er ist als Hauptmann a. D. in Kassel gestorben!«

»Julie versprach sich! Sie meint natürlich Ihren Herrn Jemahl,« versetzte die alte Baronin schnell mit einem vernichtenden Blick auf die Unschuld vom Lande. Die kleine Baroneß wurde puterrot.

»Ach, seien Sie nicht böse! ... Ich wußte wirklich nicht!«

»Bitte! Bitte!« sagte Klothilde lachend. »Das kommt öfters vor! Mein Mann ist mir ja ein ganzes Ende an Jahren voraus ...«

»Nun... der Unterschied ist jewiß nicht so sehr jroß!« stammelte das Fräulein von Stedingen hilflos und fühlte, daß sie sich immer mehr verhedderte.

»Genau ein Vierteljahrhundert!«

Klothilde von Spängler schaute dabei unwillkürlich auf ihren Gatten. Er näherte sich nun schon den Fünfzig. Er hatte in letzter Zeit stark eingepackt. Das spärliche Schläfenhaar war eisgrau. Die Speckfalten im Nacken lagerten tiefer, das Doppelkinn hatte sich ausgebaucht. Er trug Tränensäcke unter den kleinen, genüßlichen Augen. Durch die Strapazen der Elchjagd schienen seine blasierten Züge bleich und schlaff. Er war ihr noch niemals so alt vorgekommen wie in diesem Augenblick.

Der Geheimrat achtete nicht auf seine schöne, vierundzwanzigjährige Frau. Er stand ehrlich verblüfft, mit offenem Mund – klüger wirkt er dadurch auch nicht, dachte sich Klothilde – vor dem auf den Bahnsteig getretenen kaiserlichen Kammerjunker und Kollegienassessor Waldemar von Mohr, der als zweiter Legationssekretär einer russischen Gesandtschaft im fernen Ausland eben rund um die Erde auf Urlaub heimgekommen war. Ein Diplomat wie er. Der baumlange, hochmütige junge Balte beugte den weißblonden Kopf zu dem älteren Berliner Berufsgenossen herunter und redete halblaut, lebhaft, eindringlich-vertraulich: »Wie ist das denn? Belieben Sie: Seht ihr denn nicht die Jefahr? Ihr laßt euch zwischen Rußland und Frankreich einquetschen und rührt euch nicht!«

»Wir sind ja immerwährend unterwegs ...«

»Was treibt ihr denn für eine Politik, seit Bismarck fort ist? Ich bin von deutschem Jeblüt! Ich diene Rußland. Ich wünsche von Gott nur Gutes zwischen Deutschland und Rußland. Und jetzt? Die Petersburger Damen sticken rotgemusterte, russische Handtücher für jede Kabine auf den französischen Schiffen, die Moskauer Kaufleute schicken den Franzosen Dutzende von silbernen Humpen, diese kleinen Advokaten und Politiker in Paris werden ja mit Gewalt verrückt gemacht! Warum schickt ihr nicht, wie zu Bismarcks Zeiten, mal einen tüchtigen kalten Wasserstrahl dorthin?«

»Wir wollen die Franzosen durch Ritterlichkeit versöhnen!«

Der andere lachte. »Habt ihr jetzt in Preußen so viel Humor? Früher war das nicht! Der Scherz ist gut!«

»Ritterlichkeit am rechten Ort ...«

»Die Franzosen bleiben eure Feinde! Die Russen laßt ihr heute zu euren Feinden werden, und um das auszugleichen, fangt ihr an, euch mit England zu verfeinden! ... Seltsam!...«

»Ich sehe nicht das geringste Wölkchen am Horizont!«

Der Kammerjunker von Mohr schüttelte den Kopf und schaute auf den Geheimrat von Spängler hinunter, mitleidig, wie es Klothilde zu ihrem Mißfallen dünkte.

»Aber ihr erzeugt ja selber die Wolken! Erklären Sie mir nur ... ich möchte die Jelegenheit benutzen – was wollt ihr denn nur eigentlich?«

»Ich verstehe Sie nicht ganz ...«

»Ich bin jetzt um die Welt jereist! Überall jriff sich die Welt an die Stirn! Überall fragte man sich: Was ist in die Deutschen jefahren? Wozu auf einmal dieser Lärm?«

»Wir müssen mehr als bisher die Welt auf Deutschland aufmerksam machen!«

»... indem ihr die Welt nervös macht?«

»Das ist nicht unsere Absicht! Wir sind, mit unseren bisherigen Potsdamer Manieren, offen gestanden, wenig beliebt gewesen. Es ist Zeit, daß mir uns in liebenswürdigerer Weise in die europäische Gesellschaft einführen!«

»Aber auf diese Weise erreichen Sie das Jejenteil! Sie wirken verwirrend. Sie klopfen dem einen auf die Schulter und treten dabei dem andern auf den Fuß. Sie kommen zu oft. Auch unjebeten ...«

»Ich möchte doch bitten, Herr von Mohr ...«

»Ich muß mein Herz ausschütten! Ich hänge an Deutschland. Ich habe in Deutschland studiert. Jerade deswegen ... Was für Pläne verfolgen Sie? Alle Diplomaten der Erde, die ich unterwegs sprach, zerbrachen sich darüber schon den Kopf. Wollen Sie die janze Welt durcheinanderbringen und sich dann überraschend auf den Schwächeren werfen?«

»Um Gottes willen!«

»Wollen Sie durch diese Fontaines lumineuses und Feuerwerke von Berlin die Augen blenden und von Ihren eigentlichen Zielen abwenden?«

»Wir haben gar keine Ziele!«

»Haben Sie vielleicht schon jeheime Bündnisse jeschlossen und wollen uns andere durch forcierte Freundschaftsbeweise einschläfern?«

»Wir denken nicht daran!«

»Erbarmen Sie sich: Was wollen Sie denn dann nur?«

»Nichts!«

Ein Staunen zuckte um den Mund des Kammerjunkers und Kollegienassessors. Klothilde von Spängler beobachtete das unmutig und auch, daß ihr Mann unter dem ironischen Blick des langen Balten unsicher, beinahe verlegen wurde. Der reichte ihm die Hand.

»Nun – ihr Deutschen seid undurchdringlich!« sagte er achselzuckend und kühl. » Enfin ... c'est le métier ... Bon voyage ...«

Der Geheimtat von Spängler saß mürrisch da. So wie vor Jahrzehnten nach einer Abfuhr in Göttingen. Er selbst war ganz mit sich zufrieden. Aber der sonderbare, verschlossene Gesichtsausdruck seiner Frau mißfiel ihm. Er fragte knapp, das Einglas fest im Auge: »Was hast du denn?«

»Ach – ich ärgere mich ...«

»Worüber?«

»Über dich! Über uns beide hier! Über uns alle!«

»Weswegen?«

»... weil wir uns fortwährend blamieren!«

»Wir?«

Herr von Spängler nahm vor Erstaunen die Zigarre aus dem Munde.

»Ja, merkst du denn das nicht, Alfons?«

»Nee! Weiß Gott nicht! Danke gehorsamst!«

»Aber ich!«

»Was verstehst denn du davon?«

»Ich hab das Gefühl: Da geschieht zu viel! Und das geschieht zu oft! Und das geschieht zu laut! Und hinterm Rücken lachen sie einen aus!«

»Nun ist's aber genug, ja?«

»Ja, jetzt kannst du kollern ... Aber wie die Hopfenstange von Balten uns abkanzelte, da standst du da wie ein armer Sünder ...«

»Klothilde ... Was ist denn das für ein neuer Ton?«

»Glaubst du, es ist angenehm, wenn sie auf der Welt anfangen, auf uns herunterzuschauen?«

»Ich merke von dem allen rein gar nichts!«

»Ich hab zu viel altes Preußenblut in mir. So bin ich auch bei meinem Onkel erzogen. Ich bin stolz auf Preußen. Ich will nicht, daß man über Preußen lacht. Ich bin eine Pritzig!«

»Na wenn schon!« brummte Alfons von Spängler und sog übellaunig an seiner Havanna.

»... und solange Bismarck da war, hat auch kein Mensch auf der Welt über uns zu lachen gewagt!«

»Laß mich jetzt bloß mit dem ewigen Bismarck zufrieden ... zum Donnerwetter ja!«

»Ja, mich kannst du anwettern! Daheim, da seid ihr die starken Männer. Aber hier im Ausland ...«

»Was denn?«

»... da verliert ihr ja gleich die Fassung, sobald euch einer nur kaltblütig fixiert!« sagte Klothilde trotzig. »Erst tun wir Gott weiß wie, und dann kriechen wir ins Mauseloch. Ich hab's ja eben im kleinen gesehen ...«

»Nun wird's mir aber zu bunt! Was ist denn in dich gefahren? Herrgott ... jetzt fängt sie auch noch an zu weinen...«

»Ja, vor Zorn und Kummer! Ich will stolz sein auf dich und auf alles! Und nun lachen sie!«

»Laß sie doch lachen!«

Der Geheimrat von Spängler sprach es selbstbewußt und geringschätzig und lehnte sich bequem in die Ecke. Er streifte nachlässig die Asche von seiner Zigarre. Er lächelte schon wieder wohlwollend in Gedanken. Die spiegelten ihm die Zukunft vor. Seine Zukunft. Die baldige Exzellenz, der kommende Mann schimmerten schon deutlich durch die Verspinnung seiner geheimrätlichen Puppenstands. Bald kroch, über und über goldbetreßt, der feierliche Würdenträger aus.

»Warum schaust du mich denn so an, Klothilde, als hättest du mich noch nie gesehen?«

»Ich merk jetzt nachgerade, daß wir mit Wasser kochen! Aber sehr!«

»Andere werden auch noch Wasser in ihren Wein tun!« sagte Herr von Spängler gähnend. Er tat seiner Frau nicht mehr den Gefallen, sich über sie zu ärgern.

Da fing sie wieder an: »Red doch auch nicht immer vor diesen Leuten von Ahnen und so! Die sind von Uradel! Ich meinetwegen auch. Aber du bist doch erst seit ein paar Jahren geadelt! Wir wollen immer mit andern Dingen imponieren, als die wir wirklich haben! Das ist dumm! Das merken sie ...«

»Ich scheine ja merkwürdig in deiner Achtung zu schwinden«, sagte Dr. von Spängler, nun doch deutlich gereizt. Sie waren schon zwischen Reval und Petersburg und allein in dem breiten, graugepolsterten Abteil. Auf dem waldumgebenen Knotenpunkt Taps vertrat sich der Geheimrat die Beine.

»Sieh mal,« sagte er aufgeregt und geschäftig, auf der hölzernen Plattform vor dem Wagen stehend, zu Klothilde, »da sind die beiden jungen russischen Fürsten, denen ich neulich in Reval vorgestellt worden bin ...«

»Oder sie dir!«

»Du – ob ich mal hingeh und ihnen schnell guten Tag sag?«

»Laß sie doch in Ruhe!«

»Aber es wäre doch ganz nett ... Ich glaube, sie würden es hoch aufnehmen ...«

Er redete verbindlich die beiden Knjäfe aus französisch an. Es waren elegante, englisch gekleidete, brünette Bojaren von Rurikblut, mit der langen, engbrüstigen, verlebten Vornehmheit des Pariser Großfürstenschlags. Der eine meinte leise und nachlässig erstaunt durch den Rauch seiner Papyros: »Sie gehen jetzt nach Petersburg? Petersburg gehört in diesen Wochen den Franzosen!«

Dann hörte Klothilde das leutselige, aber sehr selbstbewußte Lachen ihres Mannes.

»Gerade darum, Durchlaucht! Die Welt muß sich daran gewöhnen, daß wir Deutschen auch auf der Welt sind! Wir dürfen nirgend mehr fehlen, wo etwas los ist!«

Er trat an das Bahnhofsbüfett, um sich eine pilzgefüllte Pirogge zu kaufen. Die Fürsten schritten zu ihren Plätzen zurück. Der eine sagte vor Klothildes Ohren unten, im Vorbeigehen an ihrem Wagen, ohne sie zu bemerken, achselzuckend: »Deutlicher als wir gegen Deutschland sind, kann man doch nicht werden!«

Und sein Bruder, nachlässig: »Dies Nachlaufen ist geschmacklos!«

Das »Hotel de France« in Petersburg war ein französisches Heerlager. Dreispitze der Admirale und Diplomaten, rote Bändchen der Ehrenlegion, Zylinderhüte spitzbärtiger Pariser Journalisten, Lammfellmützen und Käppis, blauweißrote und schwarzgelbweiße Fahnen an den Fenstern auf dem Dworzowplatz.

»Ich möchte nur wissen, was wir hier verloren haben, Alfons!«

»Gott... Wenn man so zufällig in den Zauber hineinschaut...«

»Wir hätten zur See heimfahren können!«

»Danke gehorsamst für das Geschaukel! Ich finde diese Affenkomödie hier direkt neckisch!«

»... in der unsere Feinde sich gegen uns verbrüdern!«

»Wieso denn Feinde? Warum immer diese unnötig starken Ausdrücke? Das ist auch so 'ne schlechte deutsche Angewohnheit! Dies Kraftmeiertum ist vieux jeu! Letzter Theaterdonner aus dem Sachsenwald!«

»Du bist von einem unverwüstlichen Optimismus...«

»Bin ich auch! Sind wir alle! Wozu denn Schwarzseherei!? Ich freue mich diebisch, wenn der gute Zar stehend die Marseillaise anhört! Ein Schauspiel für Götter!«

»Du tust, als säßest du im Theater, und die anderen spielten dir nur etwas vor!«

»Tun sie auch!« Herr von Spängler schlüpfte sonnig und selbstzufrieden in seinen Mantel und setzte sich den Hut auf. Man mußte sich vor seinem verbindlichen, oft fast unterwürfigen Lächeln hüten. Plötzlich, unvermutet brach eine schneidende, unangenehme Bestimmtheit durch. »Tun sie, Mathilde! Man muß diese Festivitäten nicht zu tragisch nehmen!«

»Aber wir feiern doch selbst ununterbrochen in Deutschland Feste!«

»Na ja – wir! ... Das ist natürlich ganz was anderes!«

»So ...«

»Nun los! Ich muß mir den Zauber vom Ufer aus anschauen!«

»Mußt du denn überall dabei sein?«

»Nur inkognito! Etranger de distinction! Thilde... sei kein Frosch und komm nach Kronstadt mit!«

»Ich hab da als Deutsche nichts zu suchen. Ich bin ein preußisches Soldatenkind!«

»Jugendliche Unbesonnenheit!« sprach der Geheimrat von Spängler voll nachsichtiger Würde. Diese großmütige Überlegenheit hatte er gegen jedermann – gegen seine Frau – gegen das deutsche Volk – gegen die feindlichen Völker draußen, deren Treiben er so belustigt betrachtete, als seien es mit Pfeffernüssen spielende Kinder. Trotzdem lag ihm jetzt ein unbehagliches Schweigen auf den lebemännischen Lippen. Flüchtige, eheliche Aprilgewitter hatte es im letzten Halbjahr schon wiederholt in seinen vier Pfählen gegeben... Nahm man nicht ernst!... Aber heute war es das erstemal, daß sich Klothilde bewußt und trotzig seiner Führung entzog. Es ging ihm nicht recht in den Kopf.

»Ich habe mich doch nun schon verabredet, Klothilde! Mit den Cramfords und de Silva und Herrn Aalstrup ..«

»Die können hin! Das sind alles keine Deutschen!«

»Nee – aber kolossal deutschfreundlich – durch die Bank.«

»Das denkst du von jedem Menschen! Warum sollen uns denn eigentlich alle Leute so liebhaben? Wir treten doch gar nicht so furchtbar herzgewinnend auf.«

Ihr Gatte stampfte mit dem Fuß.

»Klothilde ... Du machst mich ernstlich böse!«

»Du mich auch!«

»Du hast dahin mitzugehen, wohin ich gehe!«

»Ich gehe nicht ... Ich gehe nicht ... Ich gehe nicht ...«

»Ein Eigensinn ...«

»Und eine Geschmacklosigkeit, sich dahin zu stellen, wo wir die Dummen sind!«

Herr von Spängler stülpte sich heiter den Hut auf den Kahlschädel. Der Vorwurf der geistigen Unzulänglichkeit machte ihm Spaß. »So dumm ist niemand auf der Welt, daß er uns für dumm hält! Man hat überall höllische Manschetten vor uns!«

»Ja, jetzt noch! Weil Bismarck noch nicht lange weg ist!«

Er überhörte es geflissentlich und streckte ihr die Hand hin. »Thildchen ... Schafi ... Flugs! Komm mit!«

Ein hartnäckiges Kopfschütteln.

»Ich kann dich doch hier nicht den Mittag über allein lassen!«

»Mich stiehlt keiner!«

»Na – dann mopse dich in Gottesnamen! Ich gehe jetzt! Da swidanje!«

Klothilde zuckte bei den schäkernden russischen Abschiedsworten ungeduldig die Schultern. Ihr Mann war schon weg. Sie saß eine Weile, die Hände im Schoß, und nagte quälerisch an der Unterlippe. Dann gähnte sie nervös und trat gelangweilt an das Fenster. Unten schwenkten Kinder blauweißrote Fähnchen, elegante Petersburgerinnen trugen Trikolorenschleifchen an der Brust. Es wurde schon sehr heiß. Durchdringender Teergeruch stieg aus dem sonnenüberglühten Holzpflaster der Morskaja. Ein Dunst von Staub. Eintönig klang aus den Nebengassen das Geschrei der Kwaß- und Erdbeerenverkäufer. Ein ferner, sich nähernder Jubel: da waren die ersten französischen Matrosen. Arm in Arm mit ihren russischen Kameraden. Sie hatten mit ihnen die bebänderten Mützen getauscht und gingen in einer blauen Reihe mit schlendernden Seebeinen. Haufen von Neugierigen um sie. Begeisterte Damen blieben stehen und winkten mit weißen Tüchern. Klothilde von Spängler setzte sich an den Tisch, kramte ihr Reisetintenfaß aus dem Necessaire und schrieb Briefe nach Hause ... Das Schreiben an den Onkel Louis Ferdinand und die Tante Gesine in Berlin begann: »Hier ist alle Welt närrisch geworden und der gute Alfons mit!« und schloß: »Vorläufig sitze ich hier als Strohwitwe im Hotel und bin wahrscheinlich augenblicklich der einzige vernünftige Mensch in ganz Petersburg und wollte, ich wäre daheim und bei meinem Jungen! Es küßt Euch Eure dankbare Nichte Klothilde!«

Das Hauptpostamt in der Poschtamtskaja an der Isaakkathedrale war nicht sehr weit. Sie trug die Briefe selber hin, um die Zeit totzuschlagen. Sie mußte sich auf ihren Ortssinn verlassen. Lesen konnte sie die russischen Straßennamen nicht. Die Stadtsoldaten an den Ecken verstanden keine deutsche Frage. Stieg man in einen Iswoschtschik, so konnte man nicht wissen, wohin einen der langmähnige Kerl entführte. Sie fühlte sich schutzlos in der großen fremden Stadt. Asiatische Unheimlichkeit um sich.

Bis zum Postamt ging es. Da hatte sie sich die Richtung eingeprägt. Aber auf dem Rückweg geriet sie in eine Pereulok, eine Seitengasse, dann an einen Kanal, schritt unschlüssig weiter, immer von Iswoschtschiks verfolgt, die mit ihren leeren Wägelchen lärmend und einladend neben ihr herfuhren und nicht begriffen, daß die Barinja zu Fuß ging. Sie machte zögernd an einer Ecke halt. Sofort haschten da aus einem Bündel Unglück am Boden die Krüppelfinger eines Bettlers nach ihrem Rocksaum. Sie raffte ihr Kleid und drehte entsetzt um. Am Ende der Straße trat ihr ein Mensch in Polizeiuniform mit mongolischen Backenknochen in den Weg und fragte sie etwas, was sie nicht verstand. Sie wich scheu aus und eilte auf die andere Seite der Straße und floh um die Ecke und fand sich in einer breiten, endlosen Verkehrsader mit glänzenden Läden, saufenden Trabern, geputzten Menschen, die sich rechts und links ins Weite dehnte.

Es wurde Klothilde von Spängler immer banger zumut. Sie ging langsam den Newskiprospekt entlang und wußte nicht, ob sie sich dabei nicht immer mehr von ihrem Hotel entfernte. Ihr Trost waren die deutschen Laute, die häufig genug an ihr Ohr schlugen. Sie nahm sich endlich vor, den nächsten Begegnenden anzureden und nach dem Weg zu fragen.

Da kam wieder eine Gruppe von Herren. Sie blickte zögernd hin und sah ein bekanntes Gesicht. Einen hochgewachsenen, etwa dreißigjährigen Mann mit blondem Schnurrbart, der eine Sekunde stutzte, sie auch erkannte und dann, mit einem sehr förmlichen Lüften des Strohhuts, weitergehen wollte. Aber fast zugleich merkte er an ihrem ungewissen Gesichtsausdruck, daß ihr eine Frage oder Bitte auf den Lippen lag.

»Also heute um fünf Uhr bei Ihnen in der Offizarskaja, Gospodin Roschko! Empfehlen Sie mich Anna Nikolajewna!« sagte er auf deutsch zu dem Russen neben ihm und verabschiedete sich von ihm mit einem Händedruck. Dann trat er zu Klothilde von Spängler. Sie streckte ihm die Rechte entgegen.

»Gott sei Dank, Herr Nimis! Sie kommen wie ein Engel vom Himmel!«

»Um Himmels willen! Was ist denn geschehen?«

»Total verlaufen hab ich mich! Tun Sie ein gutes Werk und bringen Sie mich armes Waisenkind wieder in das Hotel de France, wenn Ihnen der Weg nicht zu weit ist!«

»Ich wohne selbst dort, gnädige Frau!«

»Ach, wie komisch!«

»Ich habe dieser Tage mein möbliertes Quartier hier aufgegeben und kehre nach Deutschland zurück.«

»Wie lange waren Sie denn in Petersburg?«

»Mehr als ein Jahr. Nun bin ich hier nicht mehr nötig. Die Geschichte läuft allein weiter!«

Er war mit ihr umgekehrt, so daß sie merkte, daß sie die ganze Zeit in falscher Richtung gegangen war, und schritt neben ihr her und sagte: »Am meisten wundert es mich, daß Sie mich überhaupt erkannt haben!«

»Wieso?«

»Nun, von unseren früheren Begegnungen blieb Ihnen niemals etwas in der Erinnerung!«

Sie lachte. »Das habe ich aber auch bereut und bin in mich gegangen! Sie sehen, ich habe Sie mir inzwischen eingeprägt. Mein Onkel Louis Ferdinand hat im letzten Jahr auch mit mir öfters über Sie gesprochen. Er hält große Stücke von Ihnen!«

Leo Nimis erwiderte nichts. Erst nach einer Weile fragte er: »Wo ist denn Ihr Herr Gemahl?«

»Bei den Franzosen!«

Die prompte Antwort verblüffte ihn. Sie ergänzte mit einem gereizten Obenhin: »Er möchte doch auch etwas von der Kronstädter Herrlichkeit genießen ...«

»So, so ...«

»Ja, das sag ich auch! Wie? Ob mein Mann denn nicht um mich in Sorge ist? Nee – gar nicht, Herr Nimis!«

»Es wäre aber Grund! Der Deutschenhaß wächst unheimlich!«

»Glaubt er Ihnen nicht!«

»... oder vielmehr, der alte Haß wird jetzt von der Kette gelassen ...«

»In seinen Akten steht das anders! ... Sehen Sie nur den Blaufuchs da im Schaufenster! Pelze gibt es hier! Zum Träumen!«

»Ja Gott, die Akten!«

»Er findet Petersburg ganz gemütlich!«

»Petersburg ist nicht Rußland. Er sollte einmal nach Moskau kommen. Da ist die große slawische Hexenküche. Ich kenne Rußland. Ich möchte immer warnen! Aber unsereiner hat ja in Deutschland nichts zu sagen. Die Herren in Amt und Würden wissen ja alles viel besser!«

»Nicht wahr? Ich habe manchmal den Eindruck: Wir tragen Scheuklappen rechts und links!«

»Ach, gnädige Frau, den Eindruck habe ich gehabt, sobald ich als junger Mensch nach Deutschland kam, und er hat mich seitdem keinen Tag mehr verlassen!«

»Aber was kann man denn da nur tun?«

»Ich kann nichts tun! Denn der Auslanddeutsche ist in Deutschland ein lästiger Außenseiter. Er hat die Dinge doch nur selber gesehen, aber er besitzt keine Kenntnis der Akten. Da schiebt man ihn schonend beiseite. Jeder Referendar ist gegen ihn ein höheres Wesen. Jeder Privatdozent, der nie aus seinen vier Wänden herauskam, belehrt ihn über Gott und die Welt. Da muß man sich daran gewöhnen. Und doch möchte man immer wieder denen daheim die Augen öffnen. Heute ist im offiziellen Rußland der Stein ins Rollen gekommen. Gegen Deutschland. Zurückpfeifen kann man so eine Lawine nicht mehr. Wie und wann sie endet, das wissen die Götter! So, gnädige Frau! Hier sind Sie glücklich angelangt!«

Er reichte Klothilde von Spängler die Hand und ging hinüber nach der Polizeibrücke, um da oben im ersten Stock bei Leiner zu frühstücken. Sie stieg in ihr Zimmer hinauf. Nach einiger Zeit kam da auch ihr Mann. Sehr aufgeräumt. Sein sattes Gesicht war vom finnischen Wind gerötet. Er schien jugendlicher als die Tage bisher. Was er draußen gesehen hatte? Gott, eigentlich nicht so viel. Das Bild war eben entzückend: die blaue See mit den grauen und schwarzen Panzern, wo auf der »Marengo« Zar und Zarin, Großfürsten und Großfürstinnen die Gäste Frankreichs gewesen, ihre weiße Prunkjacht »Derschawa«, das beflaggte Kronstadt, wo das Verbrüderungsfest im Marineklub stattgefunden, das stolze Palais Peterhof, in dessen Paradesaal der Zar gestern die französischen Offiziere bewirtet hatte, die für heute zum großen Rout der Stadt Petersburg und der abendlichen Ehrentafel der russischen Artillerie in die Hauptstadt geladen waren ... Feste über Feste ... Verflucht großzügig machten sie so was ... die Russen... Alle Achtung! Der Geheimrat war einen Augenblick, während er sich die Hände wusch, voll ehrlicher Bewunderung. Dann blinzelte wieder die alte Gönnerhaftigkeit aus seinen vergnüglichen Augen.

»Das heißt ... na ja ... also... ganz nett, was sich die Leutchen da so in ihrer Unschuld zusammenzaubern! ... An sich natürlich ein lächerliches Schauspiel! Immer Pärchen: ein französischer Matrose und ein russischer. Sie reden mit Zeichen miteinander, und der Russe schmatzt den Franzosen auf beide Backen. Die ganze Blase ist verrückt, von A bis Z!«

»Einander küssen sie und uns hassen sie!«

»Ah bah! ... Das ist nur Schaumschlägerei! Unser nächster Besuch hier mit gehörigem Kanonendonner und ausgiebigem Ordensiegen und nettem dreimaligen Hurra auf den Zaren macht alles wieder weit!«

»So? Ich hab anderes gehört!«

»Nun aber genug!« Herr von Spängler wedelte gereizt mit dem nassen Handtuch. »Was verstehst denn du davon, möchte ich nur wissen! Du kannst das alles doch nur nach mir beurteilen ...«

»Du giltst ja auch für solch eine Leuchte!«

»Na also! Dann sei doch zufrieden, liebes Kind! Ich weiß nicht, was diese ewigen Szenen zwischen uns seit einiger Zeit bedeuten sollen! ... Ich springe nur eben hinunter und hole mir die neue Zeitung!«

Als er mit dem deutschen »St. Petersburger Herold« in der Hand wieder hereinkam, rötete nicht mehr die Seebrise, sondern ein dumpfer Ärger seine peinlich überraschten Züge. Er setzte sich mißmutig hin und wartete, daß seine Frau ihn fragen sollte, was geschehen sei. Aber sie tat ihm nicht den Gefallen. Endlich konnte er nicht mehr an sich halten und platzte los: »Du ... das ist doch ein tolles Stück ...«

»Weißt du, welchen Trinkspruch der französische Admiral, der Gemütsmensch, ganz unverfroren bei der Festtafel ausgebracht hat? Wörtlich ... hier steht's: ›Ich wünsche der russischen Armee von Herzen, daß sie sich bald mit neuen Lorbeeren bedecke!‹ ..., Gegen wen denn? ... Ich frage: gegen wen?«

»Wahrscheinlich gegen die Marsbewohner, Alfons!«

Herr von Spängler brummte etwas Unverständliches. Er war sehr gereizt. Seine Frau blieb kühl. Sie betrachtete ihn mit einem stillen Lächeln, das ihn noch mehr in Harnisch brachte. Bis zu diesem Lächeln beginnenden Zweifels durfte man es gar nicht erst kommen lassen! Nicht bei den Frauen und nicht bei dem Volk! Beide verlangten eine feste Hand! Hatten zu gehorchen! Er sagte streng und verweisend: »Du ironisierst meine Worte? Mein Kind, ich bin fünfundzwanzig Jahre älter als du! Merke dir das!«

Der kupferbraun gewellte, schöne, jugendliche Frauenkopf vor ihm neigte sich zustimmend. Es fiel ihm ein, daß die Betonung des Altersunterschieds seine Stellung nicht stärkte. Er sah ohnedies oft, wenn er mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden war, den Kahlkopf auf die hohle Hand gestützt, und sann kummervoll darüber nach, daß sein Sohn sein Enkel sein konnte. Er lenkte ab: »Wenn ich nur wüßte, was diese Kronstädter Bundesbrüder gegen uns wollen! Wir tun doch niemand was! Wir haben doch die besten Absichten! Wir möchten doch nur mit aller Welt in Frieden und Freundschaft leben! Wir versichern es doch seit Jahr und Tag, so laut und so oft wir nur irgend können ... Du, Thilde ... kannst du dir übrigens vorstellen, wer unten im Hotel an mir vorbeilief? Der alte Protégé deines Onkels Louis Ferdinand, dieser Herr Nimis!«

»Ja. Ich weiß ...«

»Woher?«

»Wir sind vorhin zusammen über den Newskiprospekt hierher gegangen!«

Über das Antlitz des Geheimrats zuckten Gewitterwolken. Er riß die Augen auf.

»Du?«

»Na ja!« sagte sie leichthin.

»Wie kommst du denn dazu?«

»Gott – ich hatte mich beim Spazierengehen verlaufen und ihn zufällig getroffen!«

»So? Na – dem Herrn werd ich ...«

»Was denn?«

Klothilde von Spängler sprang auf und trat streitlustig auf ihren Mann zu. Zwei krause Wetterfältchen standen ihr zwischen den dichten, dunklen Brauen.

»Sei so gut und mache dich nicht lächerlich, Alfons!«

»Ich!«

»Dich und mich! Diese Art Eifersucht ist lächerlich!«

Eine Sekunde war der Geheimrat betroffen. Er wußte: Er war eifersüchtig wie ein Türke! Viel zu eifersüchtig. Aber der Zorn ging mit ihm durch.

»Ich werde diesen Herrn mit aller wünschenswerten Entschiedenheit belehren ...«

»... daß man eine Dame, die einen auf der Straße um Hilfe bittet, stehen läßt und weitergeht!«

»Du hättest ihn eben nicht bitten sollen!«

»... und du hättest mich dann irgendwo von der Polizeiwache abholen können!«

»Wie kämst du denn dahin?«

»Wer kann denn wissen, weswegen er hierzuland eingesperrt wird!«

Diese Art von Frauenlogik machte den Geheimrat von Spängler wütend. Er lief auf und ab.

»Solche Leute sind kein Umgang! Solche Leute sind nicht gesellschaftsfähig!«

»Wen mein Onkel Louis Ferdinand in seinem Hause aufnimmt, der ist es! Lieber Alfons, darauf kannst du dich verlassen!«

»Jedenfalls, in unser Haus kommt dieser Herr Nimis nicht wieder!«

»Da paßt er auch nicht hinein! Den Eindruck hatte ich schon voriges Jahr. Er hat einen viel zu weiten Blick für unsern Kreis.«

»Klothilde!«

»Er kennt die Welt zehnmal besser als ihr alle und hat ein klares Urteil über alles! Man hat das Gefühl: wenn er etwas sagt, dann ist es auch so!«

»Haarsträubenden Kohl hat er damals produziert! Ich erinnere mich noch genau!«

»Onkel Louis Ferdinand meint auch, er sei eine ganz hervorragende Kraft und eben mit jenen praktischen Fähigkeiten ausgestattet, die in Preußen nicht gelten, weil da ja alles nur auf den Namen und das juristische Examen ankäme!«

»Dein Onkel ist ein alter Jakobiner!« schrie Herr von Spängler.

»Der Onkel meinte, mit solchen Leuten wie diesem Herrn Nimis treiben wir in Deutschland Raubbau zugunsten unserer Mandarinenkaste!«

»Das bin ich also!«

»... und unsere Tschinowniks seien schwerfällige, lederne, unpraktische Leute! Anderswo als in Deutschland würde man aus so jemand wie Herrn Nimis etwas ganz anderes machen als einen beschränkten Untertan!«

»Dann soll er doch dahin gehen!«

»Das tut er ja auch! Er ist ja hier! Solche Leute gehen schließlich ins Ausland, sagt Onkel Louis Ferdinand, und uns verloren! Die Assessoren – die wanderten nicht aus! Die bleiben!«

»Ich war auch mal Assessor!«

»Und ich für meine Person muß sagen: Wenn wir beide, du und ich, einmal irgendwo in einer fremden Gegend tüchtig in die Klemme gerieten und Herr Nimis käme zufällig dazu, so würde ich sofort beruhigt sein, daß alles in Ordnung kommt!«

»... indem er seinen Musterkoffer auspackt – he?«

»Nein. Mit seinem gesunden Menschenverstand!«

»... den ich nicht besitze?«

»Warum vergleichst du dich denn nur fortwährend mit ihm, Alfons?«

»Das habe ich mit keinem Wort getan! Ich wüßte auch nicht worin wir uns ähneln!«

»Ich auch nicht!«

»Gott sei Dank bin ich kein höherer Kommis!«

»Na – weißt du: Mir scheint, er sieht genau so aus wie ihr! Und benimmt sich auch so. Oder besser!«

»Klothilde, du verwilderst!«

Sie lachte hell auf.

»Du äußerst da ein Zeug, Klothilde! Die Haare stehen einem ja zu Berg!«

»Du hast ja gar keine, Alfons!«

»Solche Leute wie dieser Herr Nimis laufen bei uns zu vielen Tausenden herum!«

»Um so unbegreiflicher, daß ihr sie nicht besser zu gebrauchen versteht!«

»Aber es sind eben Menschen von bescheidener Geburt...«

»Mehr wie geboren sein kann man doch eigentlich nicht!«

»... sie müssen sich selber ihr Geld verdienen!«

»... und haben schließlich mehr wie wir!«

»... und zu diesem Zweck des Geldverdienens eine unruhige Betriebsamkeit entwickeln! Dieser Herr ist ja auch ewig auf der Walze! Mir wäre schon der Gedanke an die Reisestrapazen ein Greuel!«

»Er ist ja auch so viel jünger als du! Er hält es leichter aus!«

»Das gehört gar nicht zur Sache!« versetzte Herr von Spängler scharf und wurde wieder bis zur kahlen Stirn hinauf zürnend rot. »Solche Handelsbeflissenen müssen mit Christen und Juden ihre Geschäfte machen, um ihren Kram loszuwerden! Sie verlieren dadurch jeden Charakter ...«

»Ich glaube, er hat einen sehr festen Charakter! Ich glaube, auf ihn könnte man sich unbedingt verlassen!«

»Nimmst du ihn schon wieder in Schutz?«

»Gegen deine ungerechtfertigten Angriffe!«

»Was geht er dich an?«

»Ja und dich?«

»Ich zeige dir, wie so jemand in Wirklichkeit ausschaut...«

»... und ich glaub es dir nicht!«

»... statt des Idealbilds, das du dir von ihm machst!«

»Das schaffst du ja erst in mir, Alfons! Merkst du das denn nicht?«

»Du hast ihn nicht zu verteidigen!«

»Du hetzst mich ja fortwährend hinein!«

»Du hast dich überhaupt nicht mit einem fremden Mann zu beschäftigen ...«

»... wenn du mir unausgesetzt die Ohren von ihm vollredest!«

»... sondern die Begegnung mit ihm zu vermeiden!«

»... wo du mich in einer wildfremden Stadt allein läßt!«

Klothilde von Spängler starrte mit einem rätselhaften, trotzigen Lächeln vor sich hin und versetzte nach einer Weile ruhig: »Das ist doch ganz natürlich: Wenn du ein gehässiges Zerrbild von jemand entwirfst, der es nicht verdient, dann ärgert man sich über soviel Ungerechtigkeit. Das erbittert einen förmlich. Herr Nimis ist ein tadellos aussehender Mensch, der in jeder Gesellschaft seinen Platz ausfüllt, und dabei offenbar ein sehr kluger Mensch und ein unermüdlich tätiger Mensch und ein sehr energischer und unerschrockener Mensch. Und ein durch und durch anständiger Mensch dabei! Das ist meine Meinung!«

Der Geheimrat von Spängler war im Sturmtrott eines Eisbären im Käfig durch das Hotelzimmer hin und her gependelt und stand nun jäh und düster still. Auf seinen Mienen dämmerte die Selbsterkenntnis eines Mannes, der eine große Dummheit begangen. Er lenkte ein. Er wurde zusehends der Alte. Er setzte sich, zündete sich eine Zigarre an. Schaute zerstreut durchs Fenster. Sprach im ersten Schmauchen jovial, etwas väterlich im Ton: »Schön! Einigen wir uns auf die mittlere Linie. Herr Nimis ist ein durchaus tüchtiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Man muß ihm die Achtung entgegenbringen, die man jedem fleißigen Zeitgenossen schuldet. Diesen guten Durchschnitt müssen wir in Deutschland pflegen ...«

»Ich weiß, wo der Durchschnitt steckt!« sagte Klothilde.

»Anständiges, solides Mittelmaß! Alles andere, nur kein Entrüstungsobjekt!«

Sie zuckte die Achseln mit einem still lächelnden Trotz. Ihr Mann fuhr fort: »Mag er nur weiter für uns in Rußland tätig sein! Kaufleute sind Pioniere, die wir Generale gar nicht entbehren können!«

»Er bleibt nicht in Rußland! Er kehrt in diesen Tagen auch nach Deutschland zurück. Er hat's mir gesagt!«

Der Geheimrat hob aufmerksam den Kopf, überlegte. Nickte selbstzufrieden.

»So? ... Du – da hab ich eine Idee! ... Das trifft sich ganz gut! Da könnte er sich gleich sehr nützlich machen!«

»Für dich?«

»Nee! Danke! Brauch ich nicht! Aber für die Balten! Der gute Bartenschildt hat mir ein Bündel Briefe anvertraut, die die russische Post lieber nicht befördern soll ... an andere, nach Deutschland geflohene Barone! Ich befasse mich ungern mit dem Ostseeprovinzenzeug... als offizieller Mensch ... wo ich so durchaus dafür bin, ja nicht die Russen unnötig vor den Kopf zu stoßen ...«

»Ja – sei nur recht vorsichtig, Alfons!«

»Dieser Herr Nimis ist ein in weitesten Kreisen unbekannter Privatmann ...«

»Ich glaube, den kennen sie auf der ganzen Welt besser als dich!«

»Er riskiert nichts, wenn er die Briefe nach Deutschland mitnimmt! Dann bin ich sie los! So ist doch die ganze Geschichte noch zu was gut!« Er klingelte und reichte dem eintretenden Kellner seine Karte. »Bitten Sie doch Herrn Nimis, er möchte sich auf einen Augenblick zu mir bemühen!«

»Zu dir?« fragte Klothilde mit großen Augen, während der Kellner verschwand. »Wenn man etwas will, geht man doch selber zu dem Betreffenden!«

»Nee – ich danke schön! Hab ich nicht nötig! ... Kind ... wenn ich bitte ... gewissermaßen halbamtlich ...«

»Das imponiert ihm gar nicht!«

»Er läuft doch hier jedenfalls tagsüber von einem Kontor ins andere. Da wird er wohl auch noch den Weg hierher finden! Da ist er schon! Ich empfange ihn im Eingangszimmer, Thilde!«

Aber es war nur der Kellner, der zurückkam. Herr Nimis war ausgegangen

»So? Na, und meine Karte?«

Die hatte der Privatsekretär des Herrn Nimis an sich genommen und sich den Fall notiert. Herr von Spängler lachte entrüstet.

»Einen Sekretär leistet sich der junge Mann bereits!« sagte er zu seiner Frau und dann wieder zu dem Deutsch sprechenden Kellner gewendet: »Was, mein Bester, einen Diener hat er im Vorzimmer, der anmeldet?«

»Nun ja ... wundert dich das?« fragte Klothilde.

»Wie, mein Lieber, er hat sein Petersburger Bureau noch nicht aufgelöst, sondern bis zu seiner Abreise mit ins Hotel genommen? Auch noch einen Plantechniker? Drei Schreibmaschinenfräulein für deutsche, russische und englische Korrespondenz ... danke gehorsamst ... genügt...« Der Kellner ging. Herr von Spängler wandte die wohlbeleibte Gestalt mißmutig gegen das Fenster. Es war mehr gekränkte Würde als Zorn in seinem gereizten Achselzucken. »Also das ist doch grober Unfug, Klothilde! Unsereiner packt hier seinen Koffer selber, und Herr Nimis reist mit Gefolge und Dienerschaft wie eine exotische Fürstlichkeit!«

»Nein, Wie jemand, der für Deutschland viel zu tun hat. Das verstehst du eben nicht!«

»Sei nicht naseweis!«

»Ach – dazu ist das alles viel zu ernst!«

Geheimrat von Spängler ließ den Deckel seiner goldenen Taschenuhr springen.

»Donnerwetter! Schon drei! Zu dumm, daß ich mir den Menschen ... Aber ich kann doch meine Karte nicht wieder feierlich zurückfordern.«

»Er wird schon nicht kommen!«

»Meinetwegen! Ich muß jetzt rasch einmal nach dem Newski hinüber und nach unseren Fahrkarten schauen. Ohne Protektion bekommt man morgen keinen Platz im Berliner Schnellzug! Kind ... lasse doch die Zigaretten! Das ist das Neueste bei dir!«

»Ja. Das ist das einzige, was ich in Rußland profitiert habe.«

»Dies ewige Rauchen ist ungesund!«

»Aber gut gegen die Nerven!«

»Woher hast denn du Nerven?«

»Von der Langeweile.«

»Und warum hast du Langeweile?«

Herr von Spängler sah sich neben seiner Frau im Spiegel. Er leidlich gut erhalten ... rosig-runzeliges Mittelalter ... und sie: blühender, sprossender Mai des Lebens. Er sagte nichts weiter. Er ging bekümmert aus dem Zimmer.

Kaum war er fort, so warf Klothilde auch die Papyros wieder in die Ecke. Sie unterdrückte ein Gähnen. Schaute, am Fenster stehend, wie ihr Mann unten vom Portier und Kommissionär in eine Droschke gesetzt wurde und davonfuhr. Dann drehte sie sich um. Es hatte geklopft. Ein Unbekannter stand auf der Schwelle. Er sagte kurz: »Ich bin der Sekretär des Herrn Nimis. Er kam wieder. Er erwartet Herrn von Spängler bei sich auf seiner Nummer im zweiten Stock.«

Klothilde von Spängler wußte nicht, daß dem Deutsch der Deutsch-Russen des Mittelstandes im eigentlichen Rußland – nicht in den Ostseeprovinzen – leicht ein ungewollt rauher, barscher Ton anhaftete. Sie glaubte, eine Gereiztheit des Auftraggebers aus den Worten herauszuhören. Sie gab dem Herrn die Hand. Das ständige Händeschütteln hatte sie den Russen schon abgesehen.

»Bitte, bestellen Sie Herrn Nimis, es sei natürlich ein Irrtum! Nicht Herr von Spängler, sondern ich, Frau von Spängler, hätte den Wunsch ausdrücken lassen, ihn zu sehen!«

»Sehr gut!«

Kaum eine Minute später hörte sie Leo Nimis' Stimme draußen, Sie wurde etwas blaß und trat schnell und lächelnd in den eigentlich zum Aufenthalt des Dieners bestimmten Vorraum, der nach russischer Art das Zimmer vom Gang abschloß und nur einen Tisch für den Samowar und ein paar Stühle enthielt.

»Sehr liebenswürdig, Herr Nimis! Bitte, nehmen Sie Platz und seien Sie nicht böse! Ich habe Sie auf einen Moment hergebeten, um mich bei Ihnen zu entschuldigen! Mein Mann ist nicht da. Er ist manchmal ein bißchen ein Konfusionsrat. Selbstverständlich wollte er zu Ihnen, nicht umgekehrt. Es wurde falsch ausgerichtet. Er wollte Sie irgendeine Kleinigkeit fragen. Die Geschichte ist aber inzwischen schon erledigt. Für Sie auch, nicht wahr? Hand darauf! Sie sind eben ein vernünftiger Mensch! Sie denken über so etwas nicht weiter nach ...«

»Wenn ich keine anderen Sorgen im Leben hätte, gnädige Frau!« sagte Leo Nimis. Sie hob lebhaft den schönen Kopf. Ihre hellblauen Augen fragten mit: »Sie und Sorgen?«

»Es geschehen zu viel Dummheiten!«

»Sie machen gewiß keine!«

»Wir vielleicht nicht. Aber Dummheiten von oben. Die müssen wir ausbaden!«

»Komisch, das sagt einem jeder, der sich in der Welt auskennt!«

In dem Schweigen, das ihrem Seufzer folgte, hätte Leo Nimis sich erheben und seinen Besuch beenden können. Aber er blieb sitzen. Er prüfte beinahe besorgt, mit einem treuen, wachsamen Blick der Augen, das halb beschattete längliche Rund ihres zarten Gesichts.

»Sie sollten auch bald abreisen, gnädige Frau, ehe Sie sich hier was holen! Der Sommer in Petersburg ist sehr ungesund! Ziehen Sie sich abends nur immer recht warm an und trinken Sie um Gottes willen kein Newawasser!«

Sie lachte belustigt. Dabei war es plötzlich ein beruhigendes, beinah angenehm einschläferndes Gefühl, daß ein vernünftiger, erfahrener Mann für sie sorgte.

»Wer ein besonderer Sicherheitskommissarius ist, gnädige Frau, putzt sich hier im Hochsommer sogar die Zähne mit Mineralwasser ...«

»Sie tun, als ob Sie ein Doktor wären ...«

»... weil Sie sehr blaß aussehen, gnädige Frau!«

»Das ist nur der Ärger ...«

»Worüber?«

»Ach ... so ... Manchmal regt sich in mir der Widerspruchsgeist. Obwohl ich nichts davon verstehe ... Oder es höchstens halb verstehe, was vielleicht noch schlimmer ist. Denn im Haus meines Onkels, in dem ich aufgewachsen bin, war natürlich vom Morgen bis zum Abend von Politik die Rede, und ich gewissermaßen sein Privatsekretär ... Sie können sich denken: Während er unter Bismarck im Amt war ...«

»Da sind Sie wahrscheinlich sogar die Mitwisserin von Staatsgeheimnissen!«

Frau von Spängler beugte sich eifrig vor. Ihr warmer Atem streifte sein Gesicht. Der Rosenbusch an ihrer weißen Spitzenbluse schmeichelte in einem ganz leisen, süßen Duft.

»Das größte Staatsgeheimnis – sagt mein Onkel alle Tage – das ist, daß seit Bismarcks Sturz alles verkehrt gemacht wird! Et c'est déjà le secret de Polichinelle

Leo Nimis lachte herzlich. Unbefangen und gesund wie ein großer, vergnügter Junge.

»Es geschehen Mordsdummheiten. Das wissen schon die Eskimos, Na – wir machen sie eben wieder wett!«

»Können Sie das?«

»Ewig kann ja nicht illuminiert und geflaggt und geredet und telegraphiert werden! Wenn die Luft rein ist, gehen wir Deutschen im Ausland wieder still an die Arbeit. Es ist Kleinarbeit. Man braucht Geduld dazu, und Dank erntet man von den hohen Herren daheim nicht! Im Gegenteil: Sie machen einem das Leben sauer und schauen auf einen herab. Aber ich lasse mich die Mühe nicht verdrießen.«

Er saß vor ihr in seiner blonden, sicheren, jungen Ruhe wie eine Verkörperung neuer deutscher Kraft. Es ging Zuverlässigkeit von ihm aus. Überlegenheit über die Menschen und Dinge Halbasiens, in dem er Fabriken und Kraftwerke aus dem Boden stampfte, und – so schien ihr – auch Überlegenheit über viele deutsche Menschen und Dinge daheim. Er machte eine kurze Bewegung mit dem sonnengebräunten Kopf in die Weite.

»Solch eine kolossale, ganz neuzeitliche Industrieanlage, wie wir Deutschen sie jetzt, mit Gottes Hilfe und der Pariser Rothschildgruppe zum Trotz, im letzten Jahr hier in Petersburg eingerichtet und finanziert und in Betrieb gebracht haben, macht auf die Dauer in einem Lande viel mehr Eindruck als diese Theateraufzüge am hellen Tag. Die Russen erkennen es auch an! Ich habe eben in diesen Tagen aus der Kanzlei des Ordenskapitels auf Verwendung des älteren Gehilfen des Ministers des Innern eine, wie sie hier behaupten, ganz nett hohe Stufe des St.-Stanislaus-Ordens erhalten!«

»Und aus Berlin?«

»Berlin?« Er machte erstaunte Augen. »Dort wissen sie doch gar nicht, daß ich existiere.«

»Zu dumm!«

»Ach, lassen Sie's doch, gnädige Frau!« sagte Leo Nimis gutmütig. »Woher sollten sie's denn wissen? Ich stehe nicht in der Rangliste. Nicht im Gothaer Kalender. Auf den Schriftstücken von Behörden, die von dort an mich gerichtet sind, ist in dem vorgedruckten ›Hochwohlgeboren‹ das ›Hoch‹ immer sorgfältig mit Tinte durchgestrichen. Wenn's den Leuten Spaß macht ... Mir ist's gleich. Ich gehöre ja auch keiner von den vierundsechzig Rangklassen der preußischen Hoffähigkeit an!«

»Aber das ist ja vorsintflutlich!«

»... und ich paßte da ja auch nicht hinein! Ich hab zu viel Neue Welt und fernen Osten und Übersee in mir. Mein Kopf ist nicht mehr darauf eingestellt. Ich würde mir doch nie mehr merken können, ob dort jemand, der vom Ausland keine blasse Ahnung hat, Vortragender Rat ist oder Geheimer Regierungsrat oder ... So! ... Nun hab ich mich schön verschnappt!«

Sie klatschte leise in die Hände. Sie war übermütig, glückselig.

»Das hätt ich nicht geglaubt, daß jemand wie Sie noch so harmlos rot werden kann ...«

»Ich hab doch eben eine Dummheit gemacht...«

»Aber wirklich rot bis unter die Haarwurzeln!«

»Ihr Gatte ist doch selber Geheimrat!«

»Ach, wenn schon ...«

Die junge Frau lachte immer noch. Aber zugleich fühlte sie plötzlich selber eine verräterische Wärme auf den Wangen. Sie kämpfte dagegen. Aber es half nichts. Er mußte es sehen. Nur einen Augenblick. Dann schaute er vor sich hin auf den Boden. Und sie seitwärts nach dem Fenster.

Das stand offen. Die zitternde staubige Glut des Petersburger Sommers bebte herein und füllte das Zimmer mit fremdartiger Schwüle. Hufschlag klang da unten. Klagende Straßenrufe: Apelsiny – Limony. – Ein eintöniges Glockenläuten von irgendeiner goldenen oder grünen Kuppel. Innen waren sie beide still. Eine plötzliche Befangenheit wuchs zwischen ihnen immer mehr und mehr. Und je länger dies Schweigen dauerte, desto größer wurde die Verlegenheit, es mit irgendeinem alltäglichen Wort zu brechen.

»Wir haben über viel zu ernste Dinge gesprochen, gnädige Frau!«

»Ach – man sollte viel ernster sein! Als Mädchen war ich's – bei meinem Onkel. Mein Onkel Louis Ferdinand ist ein sehr ernster Mann ...«

»Ich weiß es ... Ich danke ihm auch viel.«

»Aber jetzt ... Wir leben ja wie die Spatzen im Hanfsamen ... Immer unverwüstlich vergnügt...«

»Das Schicksal hat es eben gut mit Ihnen gemeint!«

Sie schaute ihn plötzlich voll an. Aber sie sagte nichts. Und er blickte auf sie. Beide wurden langsam sehr blaß. Es war wie ein Schatten von Angst auf ihren Gesichtern.

»Sie sind doch ein Sonntagskind, gnädige Frau!«

»Es gibt auch verregnete Sonntage ... Ich beneide Sie um Ihre Arbeit ...«

»Für wen?«

»Als ob Ihnen nicht das ganze Leben offen stände«, sagte sie leise.

»Man hat es und hat doch nichts ...«

»Sie werden es schon noch finden!« Sie stand rasch und unruhig auf und reichte ihm die Rechte. Er fühlte das Zittern dieser schlanken, weißen Kühle. »Man muß auch den Mut zum Glück haben! Ich glaube, der fehlt Ihnen nur ... Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr künftiges Leben ...«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau!«

»Wir sehen uns kaum mehr wieder. Ich gehe wahrscheinlich schon in nächster Zeit mit meinem Mann auf einen diplomatischen Posten irgendwo ganz da draußen ... voraussichtlich in Südamerika ... Da bleiben wir wohl eine Reihe Jahre ... Und nun gehen Sie, Herr Nimis! Ich werde meinem Mann bestellen, daß alles in Ordnung ist!«

Er beugte sich schweigend über ihre Hand. Sie stand schlank aufgerichtet, ruhig und sehr bleich und schaute ebenso stumm auf ihn hinab ...

»Na – da hab ich die verwünschten Billettersch! ›Na Tschai‹ hat's gehörig gekostet ... Trinkgelder an die Rasselbande, mein ich ...« Alfons von Spängler hatte die Tür geöffnet und wähnte, durch die Stille getäuscht, seine Frau allein im Zimmer. Jetzt erst sah er den Besucher. Er versetzte wohlwollend: »Sehr gütig, daß Sie sich zu mir bemühten, Herr Nimis ...«

»Zu Ihnen nicht. Herr von Spängler ...«

»Ich habe Herrn Nimis hierher gebeten, Alfons, um ihm zu erklären ...«

»Ach so ... Na ja ... danke ...« Der Geheimrat war eigentlich ganz guter Laune, mit seinen Fahrkarten in der Tasche. »Danke ... danke ...«

»Ich wüßte nicht, wofür ...«

»Ist ja auch nur so 'ne Redensart ... unter uns Mitteleuropäern ... heiß heute ... was? Na ... was machen die Geschäfte?«

Es klang leutselig. Klothilde winkte, hinter dem Rücken des Besuchers, zornig ihrem Mann mit den Augen, daß er diesen herablassenden Ton für Berlin und seine Amtsstube aufsparen möge. Herr von Spängler verstand sie nicht. Er strahlte vor Gönnerhaftigkeit. Herrgott – man war doch im Ausland. Da mußte man doch ein bißchen nett zu den Landsleuten sein, auch wenn sie einem persönlich wider den Strich gingen, wie dieser Herr da ...

Schon wie der breitbeinig dastand und einen in einer merkwürdigen, fischblütigen Art, aus kalten, blauen Augen, Phlegma unter dem blonden Schnurrbart, die Hände auf dem Rücken, mit einem schweigsamen Vorbehalt musterte! Wie so ein Engländer! Der richtige Globetrotter! Leute, die viel zu lange draußen gewesen waren! Leute, bei denen das innere Läutewerk nicht mehr recht klingelte, wenn man diesseits auf den Befehlsknopf drückte! Herr von Spängler geriet unwillkürlich wieder in eine gereizte Stimmung.

»Welche Geschäfte meinen Sie, Herr Geheimrat!« sagte Leo Nimis mit einem kühlen Lächeln. »Die Ihrigen oder die meinigen?«

»Na hören Sie mal: Was wir amtlich für Geschäfte machen, das weiß ich selber!«

»Und ich fürchte, Herr Geheimrat, Sie geben sich da einer großen Selbsttäuschung hin! Ich glaube, daß wir amtlich leider genau das Gegenteil von dem erreichen, was wir wollen!«

»Nanu!«

»So wie ich den Russen kenne, lächelt er nur aus seiner breiten Seele über unsere krampfhaften Bemühungen, ihm um seinen langen Bart zu gehen. Dem muß man ganz anders kommen! Sie sehen ja draußen in Kronstadt den Erfolg unserer Staatskunst!«

»Das lassen Sie doch unsere Sorge sein!«

»Ich täte es gern wenn ich zum Beispiel es nicht ausbaden müßte. Sitzen Sie einmal, mit irgendeinem Millionenprojekt in der Tasche, im Vorzimmer einer russischen hohen Exzellenz, und der Sekretär sagt immer liebenswürdiger zum Deutschen: ›Belieben Sie, zu warten!‹, und inzwischen wird der Däne und der Franzose einem an der Nase vorbei direkt in das Privatkabinett des Ministers geführt und schon auf der Schwelle mit einem Händedruck empfangen!«

»Das sind reine Einbildungen! In unseren Konsulatsberichten steht darüber nicht das geringste, daß ...«

»Unsere Berufskonsuln sind auf der ganzen Welt zum großen Teil weltfremde, unpraktische, oft sogar noch faule Juristen, die jeden Deutschen, der zu ihnen kommt und sie in ihren unnützen Schreibereien stört, als ihren Feind betrachten! Die deutschen Wahlkonsuln sind vielfach Ausländer und vertreten die Interessen ihres eigenen Landes. Ich weiß davon ein Lied zu singen.«

»Ich muß Ihnen anheimstellen, durch eine Eingabe höheren Orts ...«

»Hinter jedem Franzosen steht seine Regierung! Hinter jedem achtzehnjährigen britischen Clerk steht sein Konsul wie eine zähnefletschende Bulldogge. Wenn man dem Bengel nur auf die Hühneraugen tritt, liegt am nächsten Morgen der nächste englische Panzer auf der Reede. Aber wir? ... Versuchen Sie's doch einmal, als Kaufmann, und wenn es sich um ein Riesengeschäft handelt, weiter als bis zu dem Herrn Hofrat und Kanzleichef vorzudringen ... Und wenn Sie sogar schließlich von einem jüngeren Aristotroten mehr oder minder gelangweilt empfangen werden, so hat der junge Herr von Handel und Wandel so viel Ahnung wie ich vom Chinesisch – nein – ich kann sogar einen ganzen Haufen Chinesisch –, und erklärt achselzuckend: Ja – die Sache wäre doch höchst schwierig ... und ob es denn sein müßte ...«

»Wir können uns nicht um jeden Handwerksburschen im Ausland kümmern!«

»Glauben Sie denn, Herr Geheimrat, daß diese fortgesetzten, furchtbaren Unterlassungssünden dadurch gutgemacht werden, daß wir lärmend mit Geschwadern umherfahren, Böllerschüsse lösen und über die Toppen flaggen? Wir selber sind die einzigen, die unser bengalisches Feuerwerk ernst nehmen! Sie sollten mal hören, was die andern in den europäischen Klubs draußen sagen, wenn sie glauben, daß kein Deutscher in der Nähe ist...«

»Wenn Sie denken, mir hier eine Lektion erteilen zu können ...«

»Sie haben mich herablassend gefragt, wie die Geschäfte gehen, und ich antworte Ihnen auf gut deutsch und als Auslanddeutscher auf Ihre Frage! Ich bin in diesen Tagen auch erregt!«

»Das merke ich!«

»Wir sind ja draußen wie die nackten Spatzen! Früher stand Bismarck hinter uns ...«

»Aha ... hörst du ... Klothilde? Da haben wir's wieder!«

»Das machte alles wett! Da wagte es keiner, uns an den Wagen zu fahren!«

»Die alte fixe Idee!«

»Denn jeder Muschik hier und jeder Kuli und jeder Nigger wußte: Der alte Herr hat Haare auf den Zähnen!«

»Der alte Herr war überfällig ... das verstehen Sie nicht!«

»... und diesen Mann, der uns vom Zaren bis Haiti die Welt im Zaum hielt, den laßt ihr seit anderthalb Jahren tatenlos dasitzen!«

»Wir machen's schon selber! Beruhigen Sie sich nur!«

»Aber wie? Ja, wenn noch in seinem Kurse weitergesteuert würde! Aber Deutschland wird mehr und mehr ein Schiff ohne Steuer – so wie ihr es lenkt ...«

»Donnerwetter! Nun wird's mir aber zu toll!«

»Seit einem Jahr spürt man in den Fingerspitzen, daß die Welt anders wird! Sie wird unruhig! Sie schaut uns in die Karten und merkt, daß wir ungeschickt bluffen ...«

»Mathilde, brauche ich mir das eigentlich alles sagen zu lassen?«

»Es gilt nicht Ihnen, Herr Geheimrat, sondern dem Geist, den Sie vertreten!«

»Ich habe mich lediglich, ganz gleichgültig – denn es interessiert mich an sich blutwenig – als höflicher Mensch gesprächsweise danach erkundigt, welche Geschäfte Sie machen!«

»Und ich benutze die Gelegenheit und erwidere Ihnen: ›Sehr gute, trotz unserer Regierung!‹ Das sagt alles!«

»Herr! Ich verbitte mir!«

»Alfons!«

»Mische du dich da nicht hinein, Klothilde!«

»Verzeihen Sie die etwas lebhafte Auseinandersetzung in Ihrer Gegenwart, gnädige Frau! Ich empfehle mich, Herr Geheimrat!«

»Morjen!«

Während Leo Nimis die Tür schloß, hörte er noch, wie drinnen Herr von Spängler entrüstet sagte: »Angenehme Landsleute im Ausland. Klothilde – was? Na, also dieser Herr ist für alle Zeiten für uns erledigt! Den sehn wir nicht wieder!«

Geistesabwesend ging Leo Nimis in sein Zimmer, kleidete sich um. Sah auf die Uhr. Es war hohe Zeit, zu Gospodin Koschko in die Offizarskaja zu fahren.

Jeden Tag gob es jetzt irgendwo ein Abschiedsessen in einem Finanzpalast an der Newa, einen Abschiedsbesuch in einer der reichen Datschen am Baltenstrand und auf der finnischen Seite. Die breite russische Gastfreundschaft ließ einen Geschäftsfreund wie Leo Nimis, der nach mehr als einjährigem Aufenthalt die slawische Erde verließ, nicht mit leerem Magen und, wenn möglich, auch nicht mit freiem Kopf davonziehen.

Gospodin Koschko war nur ein kleinerer Makler bei den großen Geschäften und so ganz zuletzt als Gastgeber an die Reihe gekommen. Aber er ließ sich nicht lumpen. Er war selbst bei Jelissejeff auf dem Nemskiprospekt gewesen und hatte das Nötige für die Sakuska eingekauft. Er stand vor dem Vorschmacktisch und beschwor den Ehrengast: »Nur ein Gläschen Wässerchen! Nur ein Gäbelchen Sigi!« Dieser Imbiß war in der Ecke aufgebaut. In der Mitte des Raums stand keine lange gemeisame Tafel, sondern vier Tische für die vier Nationen. die Russen, die Deutschen, die Engländer, die Polen. So konnten sich alle in ihrer Sprache unterhalten. Der kleine, dicke Hausherr, der sich in jeder dieser Zungen verständlich machen konnte, überdröhnte mit einem Mönchsbaß das Ganze. Er war ein Petersburger, ein moderner Mensch. Seine junge Frau aber, die Tochter eines altrussischen Großkaufmanns an der steinernen Brücke in Moskau, sprach kein Wort außer Russisch. Sie war zart und klein, mit einem tiefschwarzen Pensionatsscheitel über dem weißen Milchgesichtchen. Sie saß schüchtern da und schaute nur ängstlich, ob einer ihrer Gäste etwa nicht aß. Dann sprang sie jäh auf, riß dem Diener die Platte aus den Händen, bot sie selber an, legte eigenhändig Konfekt auf den Teller, faltete die Kinderhände, flehte verzweifelt: »Belieben Sie, Gospodin Sokolowski! ... Verachten Sie mein Haus nicht, Mister Greenfield! Erbarmen Sie sich, Gospodin Nimis!« Ebenso eifrig schenkte ihr Mann ein: »Nur noch einen Schluck. Mister Murray! Sie dürsten, Gospodin Wassawski! Nehmen Sie sich an Brjulow und Prjanischnikoff drüben ein Beispiel! ... Herr Bauchert, Sie wollen ein Deutscher sein und sitzen vor leerem Glas?«

Es wurde geeister Champagner getrunken. Er schlug bei der Sommerschwüle ins Blut. Herr Baucherts dickes, schlaues Cynikerantlitz glühte vergnüglich inmitten dieser russischen Umwelt, der er, der Reichsdeutsche, sich seit Jahrzehnten angepaßt hatte. Ihm, Karl Bauchert, machte kein Russe und Hebräer, kein Perser und Tatar mehr etwas vor. In dem griechischen Börsentempel drüben in Wassili-Ostrow kannte ihn jeder. Ebenso im »Handwerkerverein«, in der »Palme« und im Wohltätigkeitsverein. Dort hatte er in aller Stille eine offene Hand und tat viel Gutes. Aber es war ein Glück, daß die Hausfrau am Nebentisch die Witze nicht verstand, die er zum besten gab. Darin war er groß, besonders wenn ihm, wie heut, der Sekt bedenklich in dem Graukopf perlte. Jetzt hob er den Kelch mit raschem Entschluß. Er mußte eine Rede halten.

Der alte Bauchert war Junggeselle. Äußerst Junggeselle. Eine gemütliche Haut. Er legte seine Worte nicht auf die Goldwage, wenn er schmunzelnd, die Hände in den Taschen, das Wort ergriff. Ein Abschiedswort an Herrn Leo Nimis! Ein vernünftiger Mensch. Auch nicht verheiratet! Das einzig Wahre! Nur leider ekelhaft solide! Nicht hinauszubringen auf »die Inseln«, nach »Arkadia« und »Olympia«, wo er, Karl Bauchert, Stammgast war. Na – stille Wasser sind tief ... Aber in Geschäften ein Gemütsmensch! ... Der haut uns alle zusammen hier übers Ohr, so treuherzig er dasitzt! Von dem kann 'n Greis noch was lernen ...

Herr Bauchert hatte eine merkwürdige Übung darin, in drei bis vier Sprachen beinah zugleich zu reden, die wiederum alle mehr oder minder von den Zuhörern verstanden wurden, so daß jeder ihm folgen konnte. Er schloß, geheimnisvoll mit den dicken Augenlidern zwinkernd. Nun kam der Haupttreffer: »Wir werden oft an Sie denken, Herr Nimis! Wir werden Sie uns warm halten! Wir werden uns als Ihre alten, treuen Geschäftsfreunde in Erinnerung bringen, wenn Sie erst nächstens der ganz große Mann geworden sind ...«

»Was heißt das?« erkundigte sich neugierig Herr Kogan, ein Hebräer, der aber in Petersburg wohnen durfte, weil er in die erste Gilde zahlte, bei seinem Kompagnon Gorwitz.

»Denn es wird eine Zeit kommen, wo Kommerzbank und Crédit Lyonnais, Wolga-Kama und Wawelberg das Handzeichen des Herrn Nimis girieren, und wenn's 'ne Million ist. Noch hat er nichts, meine Herren, aber er wird noch einmal zum Frankfurter Rothschild ›Du‹ sagen ...«

»Kein Mensch versteht diese Andeutungen, Herr Bauchert!« versetzte Leo Nimis kühl. »Ich selbst am wenigsten!«

»Kleiner Schäker!« Der dicke Bauchert verdrehte sektselig die Augen. »Wer steckt in dem Konzern, den Sie vertreten? August Buschbeck! Hut ab! August Buschbeck selber! Die Lütthahner Werke!«

»Nun brechen Sie bitte ab!« Leo Nimis' Züge wurden sehr bestimmt. Aber der Alte ließ sich nicht beirren.

»Wer an der Spitze dieses Unternehmens steht, der ist ein König, meine Herren, der ungekrönte Kohlenkönig von Lütthahn! – Stolz gesagt! ... Was?«

»Ja. Aber nun Schluß!« drängte auch der Hausherr, dem die Sache unangenehm zu werden anfing. Alle Gäste tauschten schon vielsagende Blicke. Gospodin Prjanischnikoff erläuterte der kleinen, brünetten Anna Nikolajewna, die kein Sterbenswörtchen verstanden hatte, in halblautem Russisch etwas und schielte dabei nach Leo Nimis hinüber.

»Meine Herren ... Ich will nicht indiskret sein ...«

»Sie sind es schon, Herr Bauchert!«

»... aber ein paarmal, wenn ich zu Herrn Nimis aufs Kontor kam, lag da ein Brief an ihn mit dem Poststempel Lütthahn. Und die Handschrift ... Pscht ... sagen Sie's nicht weiter ... ganz unter uns: war die einer Dame ...«

»Still, Bauchert!«

»Einer jungen Dame! Meine Herren, August Buschbeck hat ...«

Gospodin Koschko nahm dem Alten das Glas aus der Hand. Mr. Greenfield drückte ihn an den Schultern auf den Stuhl nieder.

»Er hat zwei Töchter!« schrie der alte Bauchert weinerlich.

Herr Kogan preßte ihm eine Serviette vor den Mund.

»Er hat zwei Töchter!« wehklagte der Festredner weiter. »So laßt mich doch zu Ende sprechen!«

»Ruhe!«

Herrn Bauchert standen die Tränen im Auge. Er rang bekümmert mit den anderen um Luft und Wort.

»Er hat zwei Töchter! Die eine ist Gräfin. Aber die andere ...«

»Legen Sie ihn nebenan aufs Sofa! Ein Schläfchen, Gospodin Bauchert!«

Der Alte wurde wie ein verwundeter Krieger, die Arme auf die Schultern zweier Herren gelegt, mit einknickenden Knien, abgeführt. Er schluchzte noch während der Beförderung über seine abgebrochene Rede. Die Champagnerbläschen hatten sich in bohnengroße Tränen verwandelt, die ihm in den struppigen Graubart kollerten.

»Ich hab doch die Adresse gesehen! Eine steile, englische Damenhandschrift! Ich hab mich bei dem kleinen Mewes erkundigt, wie er hier war: der ganze Rhein spricht schon davon! Sie heißt Ottonie ...«

»Pascholl!«

»Der Champagner war zu kalt!«

»Entschuldigen Sie nur, Herr Nimis!« bat der Hausherr mit gerungenen Händen.

»O bitte!« sagte Leo Nimis. Er war sitzengeblieben. Er hatte keinen Augenblick seine Ruhe verloren. Jetzt, wo nicht mehr der Sekt aus dem allen Bauchert plauderte, war plötzlich Stille um ihn. Es war nicht nur das Schweigen der Verlegenheit. Es war vielmehr noch deutliche Ehrfurcht vor dem kommenden Mann ...

Er blieb mit Absicht, bis die letzten Gäste in russisch später Nachtstunde in die windigen Wägelchen stiegen, die unten hielten. Er selber winkte den Iswoschtschiks ab. Er ging zu Fuß. Über die Moikabrücke und weiter zum Englischen Ufer an der Newa.

Das waren Petersburgs weiße Nächte. Kein Mond am Himmel und doch die Nacht taghell in der toten Stadt, von einem unbestimmten, bleichen, schattenlosen Schein, von dem man nicht wußte, woher er kam. In fahlem Silberglanz lag schweigend der mächtige Spiegel des Stroms. Stundenweit standen an seinem Ufer als stumme, bläulichweiße Märchenschlösser die Paläste. Die Luft war erfüllt von einem kranken, wesenlosen, durchsichtigen Dämmern, dessen Grau nicht Tag und nicht Nacht war.

Leo Nimis schritt durch die breiten, verzauberten Straßen. Zuweilen raste ein Gefährt mit ein paar bleichen, sich auf dem schmalen Sitz brüderlich umschlungen haltenden Nachtschwärmern vorbei. Dann hörte er wieder nur den gespenstigen Widerhall seiner eigenen Tritte. In ihren umgedrehten Schafpelzen zusammengekrümmt saßen und nickten die Dworniks vor ihren Häusern. Als auswattierte, unförmliche Bündel schnarchten die Kutscher auf ihren Böcken. An der Wand lehnte ein Stadtsoldat und schlief stehend, mit offenem Mund. Ein Rest Bettler lag wie ein Haufen Toter mit feierlich strengen, bärtigen Gesichtern an der Lermontoffbüste, in Gebüsch des Alexandergartens. Leo Nimis stieg über sie hinweg. Er kam sich seltsam vor, wie der einzige wachende Mensch in diesem Dornröschenschlummer. In seinem Zimmer setzte er sich an das offene Fenster und nahm einen Brief zur Hand, den er aus seiner Brusttasche geholt. Die Zeilen zeigten Ottonie Buschbecks starke, in ihren großen, steilen Zügen persönlich ausgeprägte Handschrift. Er konnte sie mühelos, ohne Licht anzuzünden, lesen. So grell war die nordische Nacht.

»Ich kann nun einmal Lieben von Leiden nicht trennen, lieber Freund. In den Briefen, die wir uns aus meiner Lütthahner Einsamkeit und Ihrem Petersburger Weltgetümmel schrieben, bin ich immer bei meinem armen Ich geblieben: Ich muß lindern, wo ich lieben kann. Trösten. Helfen. Heilen. Ich habe das Gefühl, daß fortwährend Unrecht auf der Welt geschieht, Unrecht an jedem, wer es auch sei, und daß man das Unrecht am andern wieder gutmachen muß, wo man kann.

Weil mir unser Volk hier leid tut, habe ich es lieb. Es sind so viele. Man ertrinkt im Meer. Man müßte die Menschheit in einem Menschen begreifen, den man liebt, und durch den man liebt.

Ich habe eine dunkle Seele, Ich kann darum auch bei andern bis auf den Seelengrund tauchen, weil ich mich vor den Tiefen nicht fürchte. Nein, ich suche sie. Wäre ich ein Mann, wäre ich am liebsten Arzt geworden. Was leidet, zieht mich an. Mir scheint es mein Beruf, Wunden in Narben zu verwandeln. Auch Wunden des Herzens. Die Ärzte sollen ja jetzt auch Wunden am Herzen nähen können. Das Herz ist gar nicht so leicht zu Tode getroffen. Es hält viel aus und heilt unter der rechten Hand

Ach ja, lieber Freund, das Lachen fällt mir schwer. Wer froh ist, braucht mich nicht. Meine Stunde kommt, wenn es dunkel wird. Die Stunde kommt einmal im Leben für jeden Menschen. Für Sie war sie schon lang da, ohne daß es ein Mensch wußte. Nur mir haben Sie alles, wie einer Schwester, gesagt.

Ich weiß alles. Wenn wir uns wiedersehen, brauchen Sie mir nichts mehr darüber zu sagen. Nur das eine, daß es vorbei ist. Daß es aussichtslos ist. Daß Sie es in sich überwunden haben. Daß es nun ganz hinter Ihnen liegt.

Ein so prachtvolles, tatenfrohes, begebnisreiches Leben wie das Ihre darf nicht zu lange an einer Fügung des Schicksals kranken. Sie sind den andern Menschen zu viel schuldig, die nicht so unbeirrt ihren Weg gehen wie Sie. Ich weiß, was es heißt, an der Seele kranken. Ich sehne mich aus meinen Zweifeln und meiner Zerrissenheit und meinem Suchen und meinen Selbstvorwürfen nach Klarheit, Ruhe, Kraft. Nach dem hellen Tag.

In meinem goldenen Käfig hier ist ewiges Dämmern. Wir treiben's wie immer. Die Tage gehen herum. Mein Vater arbeitet, flammt und tobt wie ein überheizter Dampfkessel. Mama legt Patiencen, das Tinettchen stickt in Abdinghof Meßgewänder und malt Alliancewappen für die Kapellenfenster farbig auf Glas. Mein Bruder Max taucht zuweilen in Erbschaftsauseinandersetzungen hier auf. Sein neuer Rennstall kostet viel Geld.

Und niemand hier, der die Lage von oben überschaut! Alle sind sie blind! Keiner, der vermitteln kann, weil er zu verstehen vermag – der sich in die Seele des einen wie des andern hineindenken kann, weil er selber sich aus eigener Kraft heraufgearbeitet hat, aus dem Gehorchen heraus das Befehlen gelernt hat, Herr und Werkmann zugleich ist.

Einer, der noch jung ist, noch nicht durch Haß und Mißtrauen und ewige Kämpfe verbittert. Zu dem sie Zutrauen haben, wenn sie ihn sehen.

Sie schreiben in Ihrem letzten Brief, daß Sie Rußland nun verlassen. Wenn Sie erst in Deutschland sind, führen Ihre Geschäfte mit meinem Vater Sie jedenfalls auch einmal hierher. Inzwischen drückt Ihnen die Hand Ihre Freundin
Ottonie Buschbeck.«

Leo Nimis stand langsam auf, steckte den Brief ein, ging zu dem Schreibtisch, setzte sich, suchte ein Telegrammformular.

»Bin Anfang nächster Woche in Lütthahn.«

Er unterzeichnete, schrieb die Adresse Ottonie Buschbecks, trocknete das Blatt, nahm es in die Hand, stieg die Treppen hinab.

Unten im Flur lagen wie Scharlachflecken ein paar Hausknechte in feuerroten Hemden, die Hosen in hohen Schaftstiefeln, und schliefen ohne Bett als echte Russen irgendwo auf dem Boden, wo es eben Gott beliebte. Sie rochen scharf nach Herdrauch, Tran und Papyros. In seinem Verschlag daneben schnarchte der jüdische Nachtkommissionär. Leo Nimis weckte ihn und gab ihm die Depesche. »Besorgt das morgen früh, sobald das Postamt offen ist,« sagte er, »und bringt mir den Schein!«


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