Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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III.

Am Niederrhein strömte der Regen vom bleifarbigen Herbsthimmel. Die beiden Schienenpaare der Bahnlinie bauchten sich zu zwanzig, dreißig Strängen. Kohlenzüge dampften auf ihnen und wieder Kohlenzüge. Ein Rattenkönig von Lokomotiven fauchte auf der Drehscheibe neben der Einfahrt. Der Bahnhof, in dem der Berliner Schnellzug hielt, schien der einer Großstadt und war doch nur ein Wasserkopf im Verhältnis zu dem schmutzigen, regennassen Fabrikstädtchen dahinter. Aber dieses Städtchen war selber nur die Kreuzspinne in einem weiten Netz von Industriefäden. Tief in das flache Land hinein, bis zum Himmelsrand, rauchten einzeln und in düsteren Büscheln die Schlote. Kaum stand der Zug, so füllte schon, von einem naßkalten Herbstwind herbeigetragen, ein unermüdliches, überall und nirgend aufsteigendes, nahes und fernes Summen und Brummen, Hämmern und unbestimmtes Heulen der Arbeit die trübe Luft.

Das alles farblos, bleich, unfroh, unwirklich. Leo Nimis kannte aus anderen Ländern den dumpfen und stumpfen Alltag im Reich der Kohle und des Eisens. Er ging mit der Flut der aussteigenden Reisenden den Bahnsteig entlang. Es waren fast nur Herren, alte und junge, mit Mappen unter dem Arm und eiligen Geschäftsgesichtern.

Am Ausgang schimmerten die Helme eines Schutzmannsaufgebots, ein Zeichen, daß irgend etwas im Lande nicht ganz in Ordnung war. Hütelüften um sie. Fragen der Ankommenden an die sie Erwartenden: »Wie steht's in Lütthahn?«

»Vorläufig arbeiten sie noch!«

»Der alte Buschbeck soll sich zum Donnerwetter mit seinen Leuten vertragen! Wir andern tun's doch auch!«

»Halt! Wo will der Herr hin?«

Leo Nimis blieb aus den Anruf des Schutzmanns stehen und erkundigte sich nach der Hütte ehemals A. Buschbeck A.G.

»Knapp 'ne Viertelstunde mit dem Wagen. Jetzt, wo die Straße leer ist. Mittags vom Schichtwechsel ab, könnte sein, daß polizeilich gesperrt wird!«

»Warum sind denn die Leute hier so aufgeregt?«

»Der Haupthetzer, ein gewisser Robert Nimis, ist ausgewiesen! Er soll heute abend die Stadt verlassen. Bei seiner Abreise wird's schon unruhig zugehen!«

Und trotz der unsicheren Lage ringsum im Schwirren der Gespräche das Geschäft.

»Der Bergrat kommt heute mittag zurück!«

»Das ist Sache vom Syndikus! Da hab ich ...«

»Junge Aktien?«

»Gehen Sie mir nur mit dem Kunden vom Leib! Oberfaul!«

»Natürlich! Natürlich! Nur immer das Mädchen für alles!«

»Warum nehmen Sie auch sieben Aufsichtsratsposten an, Herr Kommerzienrat!«

»Wenn das Kartell die Halbfabrikate ...«

»Stahlknüppel nach Amerika!«

»Krause ... Mensch ... Sie sind wohl schwach auf der Brust? Der alte Buschbeck schmiert sich Kinder wie Sie zum Frühstück aufs Butterbrot!«

Leo Nimis fuhr in der klapperigen Droschke die lange, lärmende Bahnhofstraße hinab, durch die schmutzige Einförmigkeit der Fabrikstadtgassen. Farbloses, verwaschenes Menschengewimmel, lieblose Lädchen, Gebirge von Musterkoffern vor schäbigen Hotels, geschmacklos prunkende öffentliche Gebäude im Rohziegelbau, dann unvermittelt, im Kern der Altstadt, ein Stück deutsche Vergangenheit, eine Reihe windschiefer Giebel, ein zopfiges Rathaus, ein Ahnen aus fernen Zeiten, daß hier, wo jetzt der seine Kohlenstaub alles füllte, dereinst der Schwanenritter auf den Fluten des Niederrheins zum Gotteskampf für Edo von Brabant gefahren – endlich die Stille der Villenvorstadt, in der die Fabrikleiter, die Vorsteher der Bankfilialen, die Ingenieure und Hüttenkundigen wohnten.

Es war schwer, zu sagen, wo die Stadt aufhörte. Man war auf der freien Chaussee. Aber eine Fabrik folgte der anderen, die düsteren Schlackenhalden türmten sich immer wieder neu, im Grund von Kieskratern spiegelte sich ölige, schwarze Flut. Da häufte sich verrostetes Alteisen. Morsche Bretterwände trieften im Regen, reihenweise standen, wie von schadenfroher Riesenhand mitten in die lebende Wüste hineingesetzt, die kleinen Häuschen.

Leo Nimis kannte dies Land ohne Freude und Farbe. Es mochte sich Borinage oder Donetzbassin nennen, die Dreikaiserreich-Ecke oder das Tal von Tydvil – das Bild war auf der ganzen Erde gleich, wo immer sich die unterirdischen Bänke schwarzer Diamanten gierig in das Grün der Erde und das Blau des Himmels hineinfraßen. Er sah nicht hin. Er dachte beharrlich an das Fräulein von Pritzig und an den vorgestrigen Abend und ihre altmärkische Welt, die von dem grauen Nebelheim des neunzehnten Jahrhunderts hier so entfernt schien, als läge sie im Mond.

Wie eine trügerische Luftspiegelung stieg plötzlich bei der Wegbiegung aus dem hoffnungslosen Grau ein üppiger Part mit Wiesenflächen, Baumgruppen und geschlängelten Kieswegen einen Hügel hinan. Ein mächtiges weißes Landhaus krönte ihn. In seinem Bau war ängstlich alles vermieden, was durch Türme und Zinnen an ein Schloß erinnern konnte. Der Wagen fuhr respektvoll unter vorbei, längs einer endlosen Reihe von Fabrikgebäuden. Durch die offenen Fenster sangen hundertfach die Räder, summten die Riemen. Funken tanzten in dem Halbdunkel innen, aufgerissene Schlünde glühten purpurn, weiße Augäpfel lachten sonderbar grimmig in schwarzberußten Gesichtern, Irrlichter hüpften im Sand des Bodens, Regenbogendämpfe wallten über weißbrodelndem Brei, Schwungräder kreisten, daß der warme Sturmwind wie ein Gruß vom Süden bis in den offenen Wagen wehte. Güterwaggons rollten über die Anschlußgleise. Es war eine lange Fahrt im Rauch und Ruß der Lütthahnschen Werke, bis die Droschke endlich vor dem vierstöckigen Verwaltungsgebäude hielt und Leo Niemis im Vorzimmer des Generaldirektors August Buschbeck stand.

Der große Warteraum war voll von Menschen, wie in der Sprechstunde eines berühmten Arztes, nur daß es lediglich Herren waren. Alle trugen Aktentaschen bei sich. Alle hatten bleiche Stubengesichter. Die jüngeren schauten mehr rechthaberisch aus, die älteren mehr grämlich, aber dumm keiner. Alle litten an verbissenem Willen. Ein Arbeitskrampf schien ihnen gemeinsam. Sie kannten sich alle untereinander, grüßten sich und verhandelten gedämpft in mißtrauisch voneinander abgetrennten Gruppen. Dr. Rödicke, August Buschbecks Privatsekretär und rechte Hand, ein junger Herr mit Kneifer und Spitzbart, ging unbeirrbar liebenswürdig zwischen ihnen hin und her, verschwand im Nebenzimmer, erschien wieder aus der dickgepolsterten Tür.

Hinter der Matratze grollte es. Eine zornige Stimme überschlug sich in weinerlicher Wut. Die Kundigen im Vorraum schauten sich vielsagend an und lachten.

»August spielt den wilden Mann!« sagte einer halblaut.

»Rödicke ... können Sie ihn nicht bändigen?«

»Der wird ja gemeingefährlich!«

»August ... August ... Du bist'n Gemütsmensch!«

»Sie kennen ihn doch, meine Herren!« beschwichtigte Dr. Rödicke und schlüpfte wieder in das Allerheiligste.

»Was? Unruhen? Den Stänker auf den Trab! Heute abend per Schub an die frische Luft! Wozu zahl ich denn Steuern? Wozu hab ich denn Gendarmen? Ich bin mit anderen Leuten fertig geworden als mit diesem verbummelten darmhessischen Studenten!«

Eine breite, graubehaarte Hand, von der man hätte glauben können, daß sie noch wie die Vorfahren, die Bergknappen, tief unten in der ewigen Nacht des Schachts das Gezähe wider den Kohlenflöz schwang, durchsägte mit einem riesigen Bismarck-Bleistift wie mit dem Zepter eines ungekrönten Kohlenkönigs die Luft. Durch die grimmige Bewegung zerrissen die bis zur Decke des mächtigen Raumes wallenden Zigarrenwolken. In dem Spalt erschien ein grauschopfiger, grämlicher Kopf zu Ende der Fünfzig. Die Nase trug kurz und breit mit geblähten Nüstern die goldene Brille. Darüber buckelten sich zwei Stirnhöcker. Die infolge einer Nervenreizung stets leicht tränenden Augen machten einen wehleidigen Eindruck. Ein schütterer, struppiger Graubart verdeckte die Wangen und die zähe Willenskraft der Kiefern.

»Wenn ihr euch in die Hosen macht – bei mir wird gearbeitet!« sagte August Buschbeck und verabschiedete im Sitzen einen vor Aufregung etwas bleichen Hüttenkollegen. Es war kein gemütliches Grinsen, mit dem er dabei die schadhaften, vom ewigen Rauchen gelben Zähne zeigte. Es war das Spiel des alten Katers mit den Mäusen. Das Behagen, daß der Gast drüben auf dem anderen Stuhl – und wer als Gast dasaß, war Gegner – dem alten Buschbeck nicht das Wasser reichte.

An der Wand über dem Schreibtisch hing ein Lenbach-Bild Bismarcks, wie des Schutzpatrons des Willens, des Kampfes und der Macht. Auf dem Tisch stand das Frühstück eines an chronischer Nikotinvergiftung Magenleidenden: ein Apfel und ein Glas Milch. August Buschbeck lächelte schadenfroh. Er hatte die glimmende Zigarre neben sich gelegt, schälte sich zwischen den langen, behaarten Spinnenfingern seinen Apfel, nahm abwechselnd einen Bissen davon, einen Schluck Milch, einen Zug aus der Havanna. Die weißen Tropfen perlten in seinen grauen Bart. Er legte ein Büchschen mit Magenpastillen vor sich hin, und während er eine Pille zwischen die zitronenfarbenen Zähne schob, schnaubte er den nächsten Besucher an.

»Lächerlich! Wenn meine Anträge von einer sogenannten Mehrheit abgelehnt werden ...«

»Unser Recht, Herr Generaldirektor!«

Der fremde, dicke Herr, der sich ächzend in den Sessel jenseit des Schreibtisches geworfen hatte, machte selber keinen kindlich unerfahrenen Eindruck. Aber vor dem breit drohenden Wetterleuchten auf dem rauchumsponnenen Graukopf drüben wurde er doch kleinlaut.

»... dann trete ich aus dem Kartell aus! Dann sprenge ich euch die ganze Pastete! Ohne mich heißt gegen mich! Meine Kanonen sind längst geladen!«

»Der alte Herr sollte sich nicht so aufregen«, sprach im Vorraum einer der Wartenden zu Dr. Rödicke. »Es schlägt ihm auf den Magen, und mit seinem Magen steht er ebenso auf Kriegsfuß wie mit der ganzen übrigen Welt!«

Der Privatsekretär hatte die lautlose und besänftigende Umsicht eines Krankenwärters, während er zu seinem Herrn und Meister hineinglitt. Den traf er plötzlich in umgänglicher Laune, wie oft nach vergrolltem Ungewitter, in behäbigem Aufschauen zu einem einfachen Mann, der vor ihm stand.

»Gadegast! Sie sind doch einer von den Vernünftigsten. Reden Sie mit den anderen Werkmeistern, daß sie mir auf die Leute einwirken! Die Leute sind zufrieden ...«

»Herr Generaldirektor ...«

»Die Leute sind zufrieden! Das weiß ich. Und was die Drohung mit dem Teilstreik der Kesselnieter betrifft, so lege ich daraufhin meinerseits den ganzen Betrieb still. Ich bin schon lange darauf gerüstet. Es liegt mir ohnedies viel zu viel Halbzeug auf Lager ... Mahlzeit!«

August Buschbeck wechselte die Kampffront. Er warf sich im Sessel herum gegen einen neuen Feind. Die Besucher wechselten. Aber die Wetterecke gegenüber teilte immer neu ihre elektrischen Schläge aus: »Auf gut deutsch, mein Bester: Wenn Sie mir mit dem Verfahren ins Gehege kommen, mach ich Sie tot!« Der Hausherr klopfte gemütlich die Asche von seiner Zigarre. »Einfach tot«, wiederholte er geschäftsmäßig, die Havanna wieder zwischen den großen, gelben Schneidezähnen. »Kommt mir auf Schleuderpreise gar nicht an, wenn mir jemand lästig wird! Dem schmeiß ich mit Vergnügen 'ne Million nach ins Grab!«

Der eintretende Diener zitterte, während er einen Stoß Depeschen auf den Tisch legte und auf den Fußspitzen wieder hinausschlich. August Buschbeck hatte jetzt etwas von breiter Gemütlichkeit. Er vertraute dem nächsten paffend durch den Rauch der Zigarre hindurch an: »Die Stadtverordneten sind Esel!«

»Herr Generaldirektor ...«

»Die Stadt hat mir entgegenzukommen!«

»Das tut sie ja fortgesetzt!«

»Kein Dittchen zahl ich für das Gelände für die neue Anlage. Das gibt mir die Stadt unentgeltlich!«

»Die Nebenbewohner beschweren sich über den künftigen Lärm!«

»Sollen sich Watte in die Ohren stopfen. Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Die Arbeit geht vor. Was? Der Magistrat? Wenn der Magistrat muckt, verleg ich meinen neuen Betrieb in die Rheinpfalz! Dann schluckt Bayern meine Steuern! Ist schon alles vorbereitet! Na, sehn Sie wohl!«

Der alte Herr summte bösartig schalkhaft, die Zigarre schräg im Bartgewirr. Es war ihm höchst gleichgültig, daß ihm jetzt ein großes Tier der Regierung gegenübersaß. Plötzlich flackerte wieder der Rotkoller.

»Ein für allemal: Ich verbitte es mir, daß mir die Regierung in die Töpfe guckt!«

»Aber gestatten Sie ...«

»Ich bin hier die Regierung! Kümmern Sie sich lieber um die unzufriedenen Elemente im Land! Es wird viel zu schlapp regiert! Ich besorge meine Angelegenheiten schon selber!«

Es roch nach Pech und Schwefel im Zimmer nach all den schlagenden Wettern dieses Tags. August Buschbeck war allein. Er schob Apfelschalen, Telegramme, Zigarrenstummel, Visitenkarten von sich und erhob sich, den zerknitterten dunklen Rock über und über mit Asche bestreut, dürr und hoch, mit viereckig breiten, knochig ausladenden Schultern, weitem, flachem Brusttasten, langen Armen – schweres, durch Geschlechter an zähe Arbeit gewohntes Bergmannsblut. Er wusch sich die Hände und trocknete sie ab.

»Niemand mehr draußen, Rödicke?«

»Der Amerikaner, Herr Nimis.«

»Den hab ich ganz vergessen!«

Der Alte wußte es ganz genau. Es war Berechnung. Sein Privatsekretär besaß die Gabe, sich rückwärts, behend und vorsichtig, wie ein Tierbändiger aus dem Löwenkäfig aus dem Zimmer in den Vorraum zurückzuziehen. Der war jetzt leer und doch die Luft noch voll von Prozessen, Patenten, Kalkulationen, Kontrakten und Konkurrenzklauseln. Der junge Mann, der allein noch da saß, sprang auf, trat bei dem Gewaltigen von Lütthahn ein, reichte ihm ohne weiteres die Hand und sagte freundlich: »Eben wollte ich gehen! Länger als eine Stunde warte ich grundsätzlich nicht. Die Zeit meiner Auftraggeber ist zu kostbar.«

August Buschbeck riß die Augen auf, die klein und wässerig waren und mehr schlau als gewalttätig wirkten. Er schaute dem andern beinahe wehmütig in das ruhige, schnurrbärtige Antlitz, so sehr war er verblüfft. Dann kam der Koller: »Glauben Sie, daß ich zu meinem Vergnügen hier sitze? Ein alter Esel von fast sechzig? Ich leb von Milch und Äpfeln! Ich kratze für die Aktionäre fünfundzwanzig Prozent Dividende heraus, und dann schreien sie noch in der Generalversammlung ...«

»Schon gut! Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Herr Generaldirektor.«

Entschuldigen? ... Er? ... August Buschbeck traute seinen Ohren nicht. So ein Mensch war ihm noch nicht vorgekommen! Seine Stimme überschnappte sich in hellem, wimmerndem Zorn. »Überhaupt ... Sie bringen mir schon einen netten Namen mit herein! ... Hier läuft ein verlotterter Student herum und hetzt mir die Leute auf! ... Der Kerl heißt auch Nimis. Robert Nimis. Genau wie Sie!«

»Es ist mein Vetter aus Darmstadt!«

»Kennen Sie ihn?«

»Wir haben vor fünf Jahren in Göttingen zusammen studiert. Da waren wir häufig zusammen!«

»... Angenehme Verwandtschaft ... gratuliere ...«

»Danke. Es war mir damals ganz interessant, seine Ansichten zu hören ...«

»... wie man den Arbeitern faustdicke Flöhe von Lügen ins Ohr setzt?«

»Lieber Gott! Ich bin in meiner Art auch ein Arbeiter, Herr Generaldirektor! Sie auch! Ich sehe da gar keinen großen Unterschied!«

»So?«

»Ich glaube nicht, daß es gut ist, daß ihr euch gegenseitig als Feinde betrachtet!«

»Ich habe hier zu befehlen«, sagte August Buschbeck.

»Ja. Es scheint!«

»... und was ich will, geschieht!«

Dr. Rödicke schaute besorgt durch den Türspalt und verschwand. Seinem Ohr war die Stille vor dem Sturm verdächtig, August Buschdeck wurde kampflustig: »... und für Ihre Weisheit dank ich! Wie kommen Sie mir überhaupt vor, Herr Nimis? Wissen Sie, wo Sie sind?«

»In einem Office mit unmodernen Geschäftsformen, Herr Generaldirektor!«

»Sie werden mich belehren, was Geschäfte sind! Wer sind Sie denn?«

»Sie wissen ja ganz genau, wen ich vertrete!«

Der feuerspeiende Berg drüben entlud sich. August Buschbeck schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die aufgehäuften Depeschen wie ein Taubenschwarm aufflatterten. Das Tintenfaß spritzte und bildete mit dem Rest aus dem Milchglas auf dem roten Maroquinleder der Schreibtischplatte die Reichsfarben.

Der alte Herr sprang auf und schrie in Fisteltönen von Wut: »Ich verbitte mir, daß man mir einen beliebigen grünen, jungen Mann herüberschickt! Dazu bin ich nicht da! Dann wird nichts aus dem Geschäft!«

»Gewiß nicht!« sagte Leo Nimis kaltblütig. Er hatte sich auch erhoben. »Ich werde umgehend hinüberkabeln, daß wir das Geschäft allein machen!«

»Was?«

»Ich hatte das von vornherein empfohlen! Wir werden doch das Geschäft nicht aus der Hand lassen! Wozu sollen wir andere beteiligen? Wir bauen Ihnen hier einfach die Konkurrenzfabrik vor die Nase. Geld haben wir wie Heu! Wir werden Ihnen schon warm machen, Herr Generaldirektor!«

August Buschbeck tat, als hörte er gar nicht zu. Er stand und war mit einer zärtlichen Sorgfalt, die man dem verbitterten alten Mann nicht zugetraut hätte, damit beschäftigt, das tiefe Galeriebraun des Lenbachschen Reichskanzlerbildes mit seinem schon bedenklich benutzten Sacktuch von Milchspritzern zu reinigen. Dann setzte er sich, als sei nichts geschehen, und winkte dem andern, nachdem sein gewohnter Einschüchterungsversuch, zu dem dessen Jugend ihn verleitet hatte, mißglückt war, freundlich zu, er möge doch wieder Platz nehmen.

Der Alte war auf einmal ganz jovial geworden. Er lehnte sich gemütlich dampfend zurück, drehte geschäftsmäßig die breiten, kurzknochigen Daumen, die in ihrer Form etwas Gewalttätiges hatten, und sagte: »Ich bin nämlich manchmal ein bißchen nervös!«

»Oh – das macht nichts!«

»Nun wollen wir uns mal mit dem Patent beschäftigen, Herr Nimis, und dann essen Sie oben bei mir 'nen Löffel Suppe!«

Das Landhaus auf dem Hügel wirkte von außen unauffällig bürgerlich in seinen einfachen, viereckigen, weißen Linien. Innen strotzte es wie ein Fürstensitz von Silber und Livreen, Gobelins und alten Persern. Billiger Basarkitsch von Marienbad und Schwalbach stand neckisch dazwischen. Durch die mächtigen Fenster des Speisesaals sah man weithin über das tote Grau der Ebene und den verrußten, bleifarbenen Himmel. August Buschbeck zählte, während er gallig schweigsam seine abgewogenen zwei Löffel rohes Schabefleisch verzehrte, im Geist die Schornsteine unten. Es waren viele, die nicht mehr rauchten. Streik ... Streik ...

»Ach, die gottlosen Menschen«, seufzte seine Frau. Das behaglich mütterliche, breite, rote Gesicht der kostbar gekleideten alten Dame war unter dem weißen Spitzenhäubchen freundlich bekümmert.

»Dein Vater war doch auch noch so ein gottloser Mensch, Mama! Und der von Papa auch!«

»Ottonie!«

Aber die älteste Tochter ließ nicht locker. »Wir stammen doch von Bergleuten und Bauern ab. Dein Vater, Mama, hat doch erst auf seinen Kartoffelfeldern Mutung eingelegt, und davon haben die Mirisch die vielen Kuxe und die Masse Geld!«

Ihrem Bruder Max, der die silberblaue Attila der Königshusaren trug und eben bei dem feudalen Regiment in Bonn eine Reserveleutnantsübung machte, glitt eine nervöse Abwehr über das sorglose Erbprinzentum der Züge.

»Behalte das doch wenigstens für dich, Ottonie, bis der Diener hinaus ist.«

»Glaubt ihr, der Johann wüßte das nicht? Das wissen sie alle. Macht nur Gesichter, als hattet ihr Zahnschmerzen. Deswegen ist's doch wahr.«

Leo Nimis sah verstohlen auf seine Nachbarin zur Linken. Ottonie Buschbeck lächelte, während sie ihre Suppe löffelte, sonderbar in sich hinein. Ihr Profil war für eine Zweiundzwanzigjährige in feiner Regelmäßigkeit streng. Sie sah dadurch älter aus. Man kannte ihr Antlitz erst, wenn es sich, wie jetzt, dem Beschauer voll zuwandte. Dann lebten darin unter dem schwarzen Scheitel und den schwarzen Brauen zwei dunkelblaue Augen. Diese Augen lagen tief und hatten eben dadurch ein seltsames, innerliches Feuer. Durch sie schienen die an sich ansprechenden, aber nicht schönen Züge vergeistigt. Dabei hatte sie eine ganz trockene Art zu reden, als sei alles, was sie sagte, selbstverständlich. Sie war groß und schlank, für ein junges Mädchen zu farbenscheu gekleidet. Ihre Mutter maß sie mit einem gewohnheitsmäßigen, strafend hoffnungslosen Blick. Dieser Familienauftritt schien nichts Neues.

»Dabei lachst du auch noch, Ottonie.«

»Ja, es ist doch auch wie für die ›Fliegenden Blätter‹. Wenn das Tinettche jetzt heiratet, wird sie hochgeboren. Der Max ist als Sommerleutnant hochwohlgeboren – ich bin gar nicht geboren, und dabei haben wir alle drei dieselben Großpapas, und die haben feste gearbeitet.«

»Es ist ein Kreuz mit dem Kind.«

»Was soll denn Herr Nimis von dir denken.«

»Ach, er kommt aus Amerika. Da sind die Leute vernünftiger.«

»Dabei plappert sie auch noch Familiengeheimnisse aus ... Eigentlich ist's ja kein Geheimnis mehr, Herr Nimis. Unser Tinettche ist verlobt!«

Das Tinettche, die Neunzehnjährige, war kleiner als ihre Schwester Ottonie und schon beinahe zu mollig auseinandergegangen. Rundlich und rosig und niedlich. Ein Stupsnäschen. Frische Backen. Neckische Guckäugelchen in dem vollen Kindergesicht.

»Mein Glückwunsch, gnädiges Fräulein. Und Ihnen, Herr Graf.«

Graf Mettenberg, der Deutsch-Wallone mit der südlich gelben, aber warmen Gesichtsfarbe, den dunklen, welschen Mandelaugen und dem schwarzen Stutzerbärtchen, verbeugte sich höflich dankend. Er war mit einem Stich ins Pariserische etwas auffallend lebemännisch gekleidet. Eine schwarze Atlasbinde schlang sich dreimal um seinen hohen Stehkragen. Die Orchidee im Knopfloch saß unter der Rockklappe in einem Wassergläschen, das sie frisch erhielt. Der Nagel am kleinen Finger erinnerte in seiner mattpolierten Länge an die Steinzeit. Fräulein Ottonie forschte mit unterdrückter Bosheit: »Waren Sie auch heute in der Messe, Mettenberg?«

Der Graf bejahte ernsthaft die selbstverständliche Frage. Ein feiner Weihrauchdunst umwitterte ihn, ein Hauch jener alten Geschlechter in Westfalen und am Niederrhein, die im Heiligen Römischen Reich einst den Kursitzen von Köln, Trier und Mainz ihre kriegerischen Kirchenfürsten gegeben und die Domkapitel mit ihren jüngeren Söhnen bevölkert hatten. Jetzt noch rang hier überall die alte Welt, in der man aus dem Erz Kirchenglocken goß, mit der neuen, die es bei Krupp in Kanonen und Lokomotiven verwandelte. Der Hochofen glühte neben dem seit den Maigesetzen gesperrten Männerkloster, die Dampfpfeife des Hüttenwerks heulte in dem englischen Gruß, Fabrikmädchen und Nonne saßen nebeneinander in der Pferdebahn.

Es war Kampfstimmung am Tisch. Sie ging von Fräulein Ottonie Buschbecks seltsamen, tiefbrennenden blauen Augen aus. Leo Nimis wollte als Weltmann ablenken. Er wandte sich an den Sohn des Hauses.

»Wie geht es Ihnen? Wir haben uns seit Göttingen nicht gesehen.«

»Danke. Es macht sich. Ich habe den Assessor glücklich hinter mir. Ich arbeite jetzt auf den Landrat los!«

»Sie auch, Graf Mettenberg?«

»Nein. Ich bin in der geistlichen Abteilung des Kultusministeriums in Berlin.«

Es klang höflich, aber gemessen. Die beiden Korpsbrüder hatten es dem jungen Manne nicht vergessen, daß er es damals verschmäht, in ein Patentkorps wie die »Cimbria« einzuspringen. Der Wallone aus der rheinischen Römlingsfamilie fügte hinzu: »Man muß doch schließlich seiner preußischen Heimat dienen!«

Ottonie Buschbeck schlug die mageren, weißen, nervösen Hände im Schoß zusammen. »Preußische Heimat! Das ist gottvoll! Das müssen Sie noch einmal sagen!«

»Liegt unser Majorat nicht in Preußen?«

»... weil Ihr ältester Bruder sein Schloß nicht auf den Buckel nehmen und wegtragen kann! Aber wo ist Ihr zweiter Bruder? Kämmerling oder so was beim Cumberländer in Gmunden. Holländerin zur Frau. Gelbweiße Fahne auf der Villa.«

»Aber ...«

»Der dritte? Bitt schön: K. und K. Rittmeister bei den Mantecuccoli-Ulanen in Galizien! Polin zur Frau! Sie haben selbst erzählt, die Kinder balgten sich auf dem Teppich und wüßten nicht, ob sie österreichisch, sarmatisch oder reichsdeutsch seien!«

»Trotzdem ...«

»Der vierte Bruder Generalstabshauptmann in Dresden ... Der fünfte im Priesterseminar in Belgien.«

»Was hat denn das mit Preußen zu tun?«

»Ottonie! Jetzt sei mal endlich still!«

»Ich möchte wissen, was dich die Grafen Mettenberg angehen!«

»Ach, nicht 'nen Deut! Aber die Lüge ist was Schreckliches! Wenn wir den Mund aufmachen, beschwindeln wir uns oder andere!«

»Heute legst du's aber wirklich drauf an«, sagte die alte Dame hilflos und fast weinend.

»Der Streit regt sie so auf. Da ist sie noch verdrehter als sonst!«

»... und das will wahrhaftig was heißen«, half das Tinettchen dem Husaren.

»Zum Beispiel ... da das Rebhuhn!« Ottonie Buschdeck schob mit einer plötzlichen Leidenschaft ihren Teller von sich. »Wodurch verdien ich eigentlich 'n halbes Rebhuhn? Ich tu ja nichts! Ich darf ja nicht!«

»Gräßlich ist das Mädchen«, sagte ihr Bruder halblaut. Der alte Buschbeck verhielt sich zu Leo Nimis' Erstaunen still. Er schien es seiner Tochter gegenüber schon aufgegeben zu haben. Er stocherte sich grämlich in den gelben Zähnen, obwohl er so gut wie nichts gegessen hatte, und durchbohrte den eintretenden Diener mit dem tränenden Schimmer der Augäpfel. »Was stehen Sie denn da wie ein altes Weib, das Bauchgrimmen hat?«

»Herr Dr. Rödicke ist draußen!«

»Soll warten! Kann er sich selber sagen!«

»Herr Dr. Rödicke läßt bestellen, es würden für den Abend ernsthafte Unruhen befürchtet ...«

»Wo steckt denn jetzt der Kerl, der ausgewiesene Bummelstudent?«

»Schade, daß man ihn nicht kennenlernen kann«, sagte Ottonie.

»Er ist jetzt am Bahnhof im Gasthaus zum Hähnchen! Und da wollen sie von allen Seiten abends hinziehen und Krawall machen, wenn er abfährt!«

Die Nüstern des Alten blähten sich beinahe behaglich, Kampf und Lärm waren seine Lebenslust. Er stand in seiner dürren, knochigen Länge auf, wiegte sich breitbeinig und kriegslustig von einem Fuß auf den andern und biß sich schon wieder die Spitze einer neuen Havanna ab.

»Augustchen ... reg dich nur nicht auf, wenn die Menschen so böse sind!«

August Buschbeck lachte zu der ängstlichen Bitte seiner Frau.

»Verrückt sind sie! Wie immer! Ich werd sie schon kurieren! Zu was haben wir denn die Polizei?«

»Es ist eine Schande«, sagte Ottonie. Man antwortete ihr gar nicht mehr.

»Da muß durchgegriffen werden! Die Leute müssen mal ihren Herrgott kennenlernen!«

»Die Leute haben ganz recht!«

»Still!«

»Ottonie! Reize Papa nicht noch!«

»Ich würd so furchtbar gern hinuntergehn und ihnen sagen, daß sie recht haben!«

»Meine Älteste ist nämlich leider nicht ganz zurechnungsfähig«, sprach August Buschbeck zu dem Gast.

»Ich hab doch oft genug Hosen angezogen und bin in den Schacht eingefahren ...«

»... bis ich dir den Unfug verboten hab!«

»Wie ein Neger kam das Kind aus dem Bergwerk zurück. Man schämte sich vor den Leuten!«

»Würdet ihr den ganzen Tag da unten auf dem Rücken liegen und draufloshacken? Warum gehören denn die Flöze eigentlich uns? Wir haben doch nichts dazu getan. Wir haben einfach obendrauf gewohnt und keine Ahnung gehabt! Und plötzlich waren wir reich, und die andern hatten nichts!«

Jählings flog bei August Buschbeck die schlummernde Pulvermine auf. Das Zimmer zitterte von seiner hellen, weinerlichen, vom Rauchen belegten Stimme. »Klappe zu! Jetzt hat's geschnappt! Auf der Stelle! Ich verbitte mir, daß du hier deine ungewaschene Weisheit auskramst, du ... du ... du Kalb du ...«

»Augustchen ... Augustchen ...«

»Ach, kümmere dich um deine eigenen sieben Zwetschgen, Mama! Ich bin, weiß Gott, ein ruhiger Mensch! Aber das wird mir zu toll! Da ... sie lacht noch ...« August Buschbeck sagte es beinahe andächtig vor Wut. »Sie hat die Stirn und sitzt da und lacht ...«

»Ungeratenes Kind!«

Es war kein Lachen, aber ein Lächeln auf Ottonies Gesicht. Ein still in sich gekehrtes Lachen, das von innen kam und nach innen zurücklief. Sie hatte die Hände im Schoß zusammengelegt und die fanatischen blauen Augen niedergeschlagen und saß so gelassen, als ginge sie der Lärm umher nichts an.

»So was an Eigensinn lebt doch nicht wieder! So ein Familientanz belustigt sie noch. Es läuft wie Wasser von ihr ab! Na, warte!«

Ottonie Buschbeck schwieg und lächelte verstockt.

»Ottonie ... antworte doch wenigstens Papa!«

Sie schwieg und lächelte weiter.

»Herr Generaldirektor, der Herr Landrat möchte Sie sprechen!«

»Ich komme! Es ist heute ein bißchen unruhiger Tag, Herr Nimis! Wir sehen uns noch vor Ihrer Abfahrt. Vielleicht gehen Sie unterdes ein wenig im Park spazieren.«

»Sehr gern!«

Leo Nimis wollte die aus den Fugen gegangene Familie von seiner Anwesenheit befreien. Aber als er den Mantel umwarf und in den Herbstnachmittag hinaustrat, gesellte sich zu seinem Erstaunen Ottonie Buschbeck zu ihm in bloßem, schwarzem Kopf, ein Spazierstöckchen in der Hand, sehr gemütsruhig.

»Ist es Ihnen recht, daß ich Ihnen ein bißchen den Park zeige?«

»... wenn Ihnen meine Gesellschaft genügt, gnädiges Fräulein!«

»Sie kommen von weither! Da sind Sie doch wohl ein vernünftigerer Mensch als sonst hier ...«

Sie gingen zusammen den ebenen Rundweg oben auf dem Hügelrücken entlang. Ottonie Buschbeck schüttelte sich dabei, nicht wegen des Windes, in dem der puritanisch einfach geschnittene graue Rock um ihre schlanke, große Erscheinung flatterte, sondern in einer Abwehr von innen.

»Hier ... da könnte man ja ...«

Die Bäume des Parks standen grauumflossen in buntscheckigem Harlekingewand des Herbstes. Welke Blätter gaukelten in der zähen, bitter nach Nebel riechenden Luft und dämpften, am Buden verwesend, den Schritt. An einzelnen Stellen des Pfads waren Aussichtsbänke angebracht. Ottonie blieb stehen.

»Von hier aus kann man zuschauen, wie sie unten schuften ... Ach ... das ist alles so ...«

»Sie nehmen die Dinge wohl auch sehr schwer, gnädiges Fräulein!«

»Gott sei Dank bin ich kein Spatz. Bei den Bergleuten, von denen ich stamme, gab es immer so viel Spintisierer. Die Knappen waren doch früher so fromm. Zum Teil sind sie's noch. In meiner Familie hat's immer so viele Fälle von Mystik gegeben.«

Im Weiterschreiten setzte sie hinzu: »Die Leute konnten sich wahrscheinlich selber nicht klarmachen, was in ihnen war. Sie waren zu dumpf. Das vererbt sich. Es ist so viel gebunden in einem. Unerlöst ...«

Und dann, gequält: »Es ist doch auch eine Art Frömmigkeit. Praktische Frömmigkeit. Man möchte sich nützlich machen! Etwas tun! Rechtfertigen, daß man auf der Welt ist! Und du sitzt man nun ...«

Sie hatten auf einer Bank Platz genommen. Ottonie fuhr fort: »Da sitzt man, und da unten ringt's und tobt's. Äußerlich scheint es ja tot. Aber die Leute leben. Sie leben innerlich. Viel mehr, als Papa ahnt. Ich hab viel mit ihnen gesprochen. In letzter Zeit heimlich. Es ist mir ja verboten.«

Aus der weiten Ebene tönte ein dumpfes, beinahe feierliches Summen von Maschinen- und Menschenwerk. Die Schlote dünsteten in schweren, schwarz schwelenden Schwaden. Grellrote Funken tanzten als Feuergeister in dem düsteren Atem der Arbeit.

»Kommen Sie wir wollen weitergehen. Der Anblick macht mich immer so trübe. Diese Stimmung kennen Sie natürlich nicht.«

»Ach – ich bin selber so traurig!«

»Sie?« Das junge Mädchen sah ihn erstaunt aus ihren leidenschaftlichen, tiefliegenden blauen Augen an. Eine plötzliche Welle von Zutrauen flutete von ihr zu ihm. »Warum denn?«

»Ach – das hat nichts mit dem hier zu tun ...«

»Sie sind doch ein Mann. Sie haben's gut. Sie können sich regen. Sie reisen weiter und vergessen das Zeug hier! Deswegen kann man ja mit Ihnen darüber vernünftig reden.«

Aus der Offenherzigkeit gegen ihn, den Fremden, begriff er ihre Vereinsamung in ihrer Familie. Dabei kam er selber sich so unendlich einsam vor ... verlassen ... verraten ... Der Regen rieselte. Silberperlchen hefteten sich in Ottonie Buschbecks glänzenden Schwarzkopf. Sie beachtete es nicht. Es schien ihr eine Befriedigung, sich wenigstens im kleinen dem Wetter, den Winden, dem Ungemach darzubieten.

»Ich bin heute so merkwürdig aufgeregt«, sagte sie. »Man hat so Zeiten. Es steckt an. Das ganze Land ist aufgeregt. Die große Lüge wackelt wieder mal. Aber sie kommt schon wieder ins Geleise. Da bin ich unbesorgt, solange Papa lebt. Eine liebe Tochter – werden Sie denken. Ich mein es gar nicht so. Man ist, wie man ist. Man hat ja so viel in sich. Aber wo wird man's los?«

Er nickte. Wo wird man seine Liebe los? Im Nebel wölbte sich vor ihm ein bunter Schleierbogen von Heiligenschein. Das Fräulein von Pritzig stand in seinem Strahlenglanz, den braungoldenen Schimmer des Haares als Krone über dem schönen Haupt, mit weißem Gesicht und hellen Augen, lachend wie eine junge Königin ... die Märchenprinzessin verschwand ... Berlin lag fern ... Leo Nimis war's weh ums Herz. Er war froh, daß er nicht allein war, sondern ein anderer leidender Mensch neben ihm.

»Sie sind wohl schon überall auf der Welt gewesen, Herr Nimis?«

»Ich sah so ziemlich alle Länder der Erde«, sagte Leo Nimis.

»Wie alt sind Sie? Fünfundzwanzig? Gott – nur drei Jahre älter als ich. Das ist ein Leben!«

»Ach, gnädiges Fräulein – wenn Sie glauben, daß das das Leben ist, daß man von Yokohama nach San Franzisko fährt oder in Port Said während des Kohlens an Land geht. Das ist immer dieselbe Geschichte. Das wahre Glück – das steckt sicher wo anders ...«

Die blauen Flackeraugen drüben leuchteten aufmerksam in ihn hinein.

»Haben Sie die Erfahrung auch gemacht? Ich bin ja hier dumm und faul geblieben – sie wollen's ja ... dafür ist man ja die Tochter der großen Lutthahn-Werke – Aber an der Erkenntnis haben sie mich doch nicht hindern können: das Leben ist ein Suchen und Nichtfinden!«

»Ich habe nicht gesucht und doch gefunden ...«

»Dann seien Sie froh!«

»... und zur gleichen Stunde wieder verloren.«

»Wie kam denn das?«

Er wehrte bitter mit der Hand ab.

»Ach, fragen Sie mich nicht weiter! Es ist vorbei. Es muß auch so gehn.«

»Ist's lange her?«

»Vorgestern.«

»Sie Ärmster! Da blutet Ihnen das Herz ja noch ganz frisch.«

»Wer sagt Ihnen denn, wie so eine Wunde ...«

»Das merkt man doch! ... Wir wollen jetzt da durch das Wäldchen. Oder möchten Sie lieber schon umkehren?«

»Nein. Gewiß nicht.«

»Eben! Papa ist jetzt doch nicht für Sie zu haben! Der macht jetzt den Landrat scharf. Mama schläft. Tinettchen und der Mettenberg zählen nicht. Die sind verlobt. Mit dem Max haben Sie sich, glaub ich, auch nicht viel zu sagen.«

»Nein!«

»Da müssen Sie schon mit mir vorliebnehmen!«

»Gern.«

Der Pfad schlängelte sich eng durch Buschwerk. Das junge Mädchen riß im Vorausgehen ein Blatt ab und zog es nachdenklich durch die Zähne. Ihr ernstes, strenges, junges Gesicht hatte einen trotzigen Zug.

»Das ist's ja«, sagte sie unvermittelt, wie um sein Vertrauen zu erwidern. »Nirgend Hoffnung! Da steckt man nun im goldnen Käfig. Wenn sie wenigstens begriffen, was das heißt! Nein! Da heißt's immer: Dank dem lieben Gott, daß du's so gut hast! Den andern geht's viel schlimmer. Aber das quält mich ja eben bei Tag und Nacht!«

»Sie können ja nichts dafür!«

»Das Tinettche kann man mit ein Paar Ohrbommeln glücklich machen! Den Max mit dem Händedruck von einem Bonner Prinzen! Für mich ist in dem reichen Hause nichts. Nichts«, wiederholte sie fanatisch. »Nichts. Sagen Sie bloß nicht, daß ich heiraten soll! Das sagt jeder! Das ist das Platteste! Wen denn?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Eben«, versetzte sie beruhigt. »Bei uns werden in solchem Fall doch nur zwei Geldschränke getraut. Wie ich das Geld hasse! Ich möchte so gern den Leuten da unten helfen! Die wissen noch gar nicht, wie wenig Glück sie mit ihrem Schweiß den andern schaffen! Es ist verrückt. Ich weiß ...«

»Menschenliebe ist gewiß niemals verrückt.«

Ottonie Buschbeck senkte im Gehen grüblerisch, selbstquälerisch den Kopf.

»Das ist es auch nicht. Es steckt Selbstsucht darin. Es kommt aus einem selbst. Man denkt an sich, nicht an die andern. Es ist ein Wunsch, sich aufzuopfern. Man möchte sich weihen. Hingeben. Das klingt gleich so feierlich. Lächerlich. wenn man dabei hier im Park spazierengeht, in den keiner rein darf, um mal frische Luft zu schnappen und den Kohlenstaub aus der Lunge zu kriegen! Nachts werden große Hunde losgelassen. Nett, nicht? ... Aber irgendwo muß doch eine Ergänzung zu dem trostlosen Grau-in-Grau sein – es muß doch ein lichtes Gegenstück für die Menschen da sein. Das sucht man. Was denken Sie davon?«

»Ich habe noch wenig darüber nachgedacht.«

Sie nickte mit ihrem einsamen, in sich versunkenen Lächeln.

»Sie sind auch ein Volksfeind wie Papa? Halten Sie es mit denen oben oder mit denen unten?«

»Ich kann mir den Luxus einer Weltanschauung noch nicht erlauben. Ich bin jung. Aus gutem Bürgerhaus, aber ohne viel Mittel. Mein Vater hat als achtundvierziger Flüchtling in Amerika nicht gerade Seide gesponnen. Es langt eben für ihn, daß er seinen Lebensabend als Witwer friedlich in Darmstadt verbringen kann. Das Beste, was er mir mitgegeben hat. war eine ganz moderne Fachausbildung ...«

»Gott ja ... ich vergeß ja immer wieder, daß ich Sonntagskind mit einem goldenen Löffel im Mund geboren bin! Ich bin entsetzlich unreif und unerfahren. Ich weiß es wohl. Es hilft mir ja auch keiner. Im Gegenteil.«

»Nun schicken mich meine Auftraggeber da und dorthin in die Welt. Dummheiten darf ich nicht machen. Sonst kommt an meine Stelle ein anderer. Alles drüben geht auf jährliche Kündigung!«

»Freilich! Sie sind auch ein Sklave des Gelds. Ich hält es mir denken können. Ich auch, in anderer Art. Papa auch. Er merkt's bloß nicht. Wir alle. Ach, ihr Armen da unten! Wenn ihr wüßtet, wie man bei Buschbecks oben friert!«

Ottonie Buschbeck war stehengeblieben und hatte leidenschaftlich auf das dumpf brummende und rauchende, vielgeschäftige, von schwarzen Ameisen durchwimmelte Dächer- und Schornsteingewirr der Lütthahn-Hütte hinabgestarrt. Nun lachte sie auf einmal, ihr Kleid über den Regenpfützen des Weges raffend.

»Da gehen wir und schütten unser Herz aus. Das heißt: Sie ja nicht. Sie schweigen!«

»Was soll ich sagen? Ich war verliebt, und sie hat eben einen andern genommen, ohne überhaupt zu wissen, daß ich in sie verliebt war. Ich hatte es ihr auch gar nicht sogleich sagen können. Sie hat mich nicht einmal abgewiesen oder verraten. Sie kann gar nichts dafür. Es ist die simpelste Geschichte von der Welt!«

Ottonie Buschbeck nickte nur ernst, wie eine jüngere Schwester.

»Und nun bin ich so traurig«, sagte er bang und beklommen »So traurig. Ich weiß gar nicht, wozu ich auf der Welt bin. Es ist mir alles egal, so todunglücklich fühl ich mich. Wie mir heute vormittag Ihr Vater gleich in Hemdsärmeln kam, mußte ich alle Kräfte zusammennehmen, um mit ihm zu boxen, bis wir uns vertrugen. Ich war so zerstreut dabei. Die ganze Patentgeschichte war mir Wurst. Zum Glück hat er's nicht gemerkt ...«

»Das will was heißen!«

»Aber sagen Sie's ihm nicht wieder, höchstens morgen, wenn wir die Verträge heute unterzeichnet haben! Was liegt an den Verträgen? Jetzt weiß ich's: Das Leben ist ein trübes Ding.«

»Das ist's!«

»Aber es tut doch wohl, es jemand zu beichten. Sie sind so gut.«

»Wenn ich es nur sein dürfte. Kommen Sie! Geben Sie mir Ihre Hand!«

Er faßte sie. Es war ein warmes Aufblühen unter den schwarzen Wimpern. Ihr Gesicht erschien in dieser Sekunde innig, jugendlich schön.

»Ich danke Ihnen, Fräulein Buschbeck!«

»Nun haben wir uns unseren Kummer gestanden. Ganz gut. Und das Beste: Wir segeln in einer Stunde wieder auseinander wie zwei Schiffe auf dem Meer und sehen uns nach Gottes Ratschluß wahrscheinlich nicht wieder! Wenn man das weiß, redet es sich viel freier! Man weiß, daß man nicht am nächsten Tag dummes, gleichgültiges Zeug miteinander reden und sich die Erinnerung verderben muß. Ewig kann man sich ja doch nicht beichten. Lieber gleich Schluß. Nun kommen wir da nach dem Haus zurück!«

Aber im Emporsteigen warf sie noch einmal das nasse Schwarzhaupt in den Nacken. »Ich bin so unbefriedigt von diesem Kram! Ich hab eine Wut gegen alle satten Menschen! Selig sind die Bettler im Geiste! – sagt Jesus. So heißt es richtig in der Bergpredigt. Nicht: die geistig Armen! Das hat mir Maxens Hauslehrer schon mal beigebracht. Wir sollten alle betteln gehn! Aber wo bleibt der Geist! Hier ist nur der Geist des Hasses. Der schlägt von unten zu uns herauf, und Papa gibt ihn von oben zurück oder erzeugt ihn erst unten – ich weiß es nicht. Ich bin ja so dumm! Papa rühmt sich, daß er ein guter Hasser sei – so wie er ein starker Raucher ist. Da fährt eben der Landrat weg. Er sieht sehr nach Gendarmerie aus. Alle Leute, wenn sie von Papa kommen! Nun können Sie Papa sprechen. Der Wagen kommt bald zurück und bringt Sie dann an die Bahn. Sie reisen doch auch mit dem Kölner Abendschnellzug?«

»Ja. Ich habe meine Rückkehr nach Berlin vorläufig aufgegeben. Ich kann die Geschichten auch brieflich machen. Ich gehe lieber auf ein paar Tage zu meinem Vater nach Darmstadt!«

»Seien Sie zeitig auf dem Bahnhof, Herr Nimis. Es wird da ein großes Hallo geben, trotz Papa! Ich kenne die Luft hier ...«

In mancher Nacht an Bord auf seinen Seereisen hatte Leo Nimis das dunkle Meer im schweren Schwall der Wogen wider die unbestimmten Umrisse der Felsküste sich wälzend gesehen. Solch eine brausende Unruhe füllte jetzt um die Station herum die Finsternis. Nur daß der Wellenschlag aus Menschenköpfen bestand, farblosen Filzhüten, Umschlagtüchern von Frauen, weißdämmernden erhobenen Händen, Schutzmannshelmen. Es war unmöglich, die Menge zu übersehen, ob es viele Hunderte oder viele Tausende waren. Sie verschwamm nach allen Seiten uferlos in das Dunkel und wirkte eben dadurch wie eine dumpfe Naturgewalt. Ein Brausen ging von ihr aus wie Meeresbrandung an Klippen, schrille Pfiffe wie Möwenschrei, grelle Stimmen im Sturm: Heraus mit ihm! Dableiben! Hoch Nimis!

Es klang Leo Nimis seltsam, als er da seinen eigenen Namen hörte, der doch nicht ihm, sondern dem roten Vetter Robert galt. Vor dem Eingang zur Station drängte sich ein Bach nasser, aufgeregt schwankender Regenschirme nach vorn Die Schutzmannschaft hielt da eine Gasse für die Reisenden frei. Drinnen, vor dem Schalter, war noch Leere und Ordnung. Aber kaum hatte Leo Nimis seine Fahrkarte nach Darmstadt gelöst, so brauste es plötzlich draußen in der Nacht, schäumte wie durch ein geöffnetes Wehr durch die Türen, quoll durch die Fenster, füllte im Handumdrehen Halle und Wartesaal mit dem Lärm einer aufgelösten Volksversammlung: Hierbleiben! Rede halten! Hoch Nimis!

Hurra! Ein junger Mensch kletterte, von kräftigen Fäusten geschoben, katzenschnell auf einen Tisch, stand breitbeinig oben in einem Schleier von Gasflimmer und Staub, hob gebieterisch-beschwichtigend, mit der Sicherheit alter Gewöhnung, die Hand. Leo Nimis erkannte in ihm den einstigen Göttinger Studenten, den er zum erstenmal dort vor fünf Jahren auf der Landwehr bei der Mensur mit dem blonden Archäologen geschaut. Sein Vetter Robert war nicht mehr gewachsen. Er war klein und stämmig geblieben, mit einem verwegenen Kopf, mit ungepflegtem Schnurrbart, nachlässiger Kleidung – in seiner ganzen äußeren Erscheinung nur einer von den Hunderten um ihn.

Aber als er zu sprechen anfing, wuchs er bei den ersten durchdringend gellenden Sätzen über die Menge so empor, wie er über ihr auf dem Tisch stand. Seine Stimme war ganz hoch. Beinahe in Fisteltönen schnitt sie wie ein glühendes Messer durch den heiseren, jäh absterbenden Lärm, zitterte von gepreßter, fiebernder Dampfspannung, jagte die Worte atemlos über die Lippen, der geborene Redner, der keinen Augenblick stockte, sich nie versprach, keine Silbe wiederholte. Er schleuderte die Flammenbrände mit der kaltblütigen Sicherheit des erfahrenen Massen-Volksmannes in den Saal. Mußte nach jedem Satze warten und den Jubel sich austoben lassen. Leo Nimis unten nahm sich nicht Zeit, mit in der Masse zu stehen. Er war ein zu gewiegter Reisender. Er eilte, sich seinen Platz in dem draußen haltenden Schnellzug zu sichern.

Kaum hatte er den eingenommen, so überschwemmten die Menschenwellen auch schon den Bahnsteig. Eine Art Schildkröte aus Schutzmannshelmen bewegte sich vor ihr her. In ihrer Mitte schritt der Ausgewiesene, mit bloßem Kopf, lachend, den Hut in der Hand, sich umdrehend und rechts und links der Menge zuwinkend.

Die staute sich vor seinem Wagen. Die Pfeife des Zugführers schrillte. Ein Ruck der Räder. »Uff! Nun sind wir den Bruder glücklich los!« sagte, sich den Schweiß von der Stirn wischend, ein dicker Schutzmann zum andern unter Leo Nimis' offenem Fenster. Ein letzter Massenschrei. Der Zug rollte hinaus. Die Nacht nahm ihn auf. Sie war tiefschwarz. Die blutroten Flecken der Hochöfen flackerten in ihr aus unterirdisch glühenden Schlünden.


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