Rudolph Stratz
Das Schiff ohne Steuer
Rudolph Stratz

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X.

»Papa – ich glaube wirklich, du rauchst heimlich unter der Bettdecke!« sagte Ottonie Buschbeck entsetzt.

Der alte Buschbeck grämelte nur etwas vor sich hin. Er lag störrisch in den weißen Kissen. Er tut, als hörte er die Tochter nicht. Aber die holte entschlossen seinen Arm unter der Steppdecke hervor. Richtig: da glimmte zwischen den Spinnenfingern der behaarten, riesigen Rechten ein Havannastummel. Sie schlug die Hände zusammen ...

»Wo dir der Arzt doch so das Rauchen verboten hat!« ...

August Buschbecks kleine, schlaue Augen zeigten infolge seines Nervenleidens einen tränenden Glanz, als sei er ein Opfer schlechter Menschen und läge deswegen, ein einsamer, hilfloser, alter Herr, nun schon seit zwei Wochen krank im Bett. Sein wahres Wesen barg sich unter seinem milchbetropften, von Zigarrenasche bestreuten, zerzausten, grauen Vollbart. Da preßten zwei mächtige Kiefer die vom Rauchen gelben Zähne zusammen, und die Mundwinkel verzogen sich in der breiten brutalen Gemütlichkeit eines Mannes, dem die ganze Welt den Buckel hinaufsteigen konnte und, wenn es ihr Spaß machte, auf der anderen Seite wieder herunter. Ihm was verbieten – lächerlich! Der Arzt war ein Esel ...

»Papa – du wirst noch einmal das Bett anzünden.«

Der Alte haschte zäh nach der erloschenen Zigarre: »Gib her! Ich rauche wenigstens kalt! Das hat der Sanitätsrat ...«

»Und so wie ich aus der Tür heraus bin, läßt du dir vom Diener wieder Streichhölzer geben! Johann, ich hätte Sie auch wirklich für vernünftiger gehalten!«

Der alte Johann, der mit seinem glattrasierten, ältlichen, geduldigen Gesicht etwas Kirchliches, etwas von einem Meßner an sich hatte, wirtschaftete schuldbewußt in der Ecke des Krankenzimmers, herum. Ottonie Buschbeck ging hinaus und sagte draußen zu ihrer Mutter: »Es ist gar nichts zu machen! Papa hat seine ganze Umgebung so an blinden Gehorsam gewöhnt. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, etwas nicht zu tun, wenn er's befiehlt!«

Die Geheime Kommerzienrätin Mathilde Buschbeck saß im gelben Salon, rundlich, behäbig, mit ihrem breiten, roten, freundlichen Gesicht, voll aufgegangen wie eine hundertblätterige Warmhausblume aus dem Treibgarten drüben. Vor ihr stand das Schälchen mit dem Nachmittagskaffee. Ihre Gesellschafterin, das kleine, spitze Fräulein Schneider, stichelte neben ihr, den Zwicker vor den kurzsichtigen Augen, zwischen hundert Strähnchen verschiedenfarbiger Seide, an ihrer unvermeidlichen Stickerei.

»Ich wollt es der gnädigen Frau eigentlich gar nicht sagen: Vorhin hat der Herr Geheimrat nicht einmal mehr den Doktor vorgelassen ...«

Die alte Dame rang verzweifelt die fetten, kleinen, überreich beringten Hände. »Die Wände könnte man mit dem Mann einrennen, wenn er seinen Dickkopf aufsetzt ... Ach ... geben Sie mir doch einmal den Rahm herüber, liebe Schneider ... danke!«

»Er hat ins Vorzimmer bestellen lassen, er brauche keine Ärzte! Er fühle sich sehr wohl im Bett!«

»Ottonie! Was denkt sich nur Papa bei dem blinden Trotz?«

»... daß er dabei Zeit gewinnt und sowohl das Syndikat wie die Arbeiter ärgert!« sagte Ottonie Buschbeck. »Das nennt Papa zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen! Er ist in rosigster Laune!«

»Aber die anderen nicht!«

»Die Herren vom Syndikat sind in Verzweiflung. Nun ist glücklich in letzter Stunde der große, allgemeine Streik durch gegenseitiges Entgegenkommen vermieden. Beide Teile einig. Nur natürlich Papa nicht! Der macht nicht mit! Der sagt einfach: Nein!«

»Ach ... es ist schrecklich!« Die Geheime Kommerzienrätin fegte bekümmert die Kuchenbrösel zusammen.

»Papa gibt keinen Zoll nach! Was ist die Folge? Überall wird gearbeitet, und nur bei uns hier in Lütthahn wird gestreikt!«

»Die Morgenschicht soll doch noch verfahren worden sein?« erkundigte sich Fräulein Schneider.

»Ja, noch zum Teil, vom alten christlichen Verband. Aber jetzt ist alles daheimgeblieben. Die Hütte und die Stahlwerke liegen schon seit gestern still ...«

»Ach ... die bösen Menschen ...«

»Mama, sei doch nicht kindisch! Der Siebener-Ausschuß hat heute morgen in der ›Freien Stimme‹ offiziell den Streik in Lütthahn proklamiert, und der Redakteur, der Robert Nimis, hat in einem Artikel geschrieben, nun hätte August der Starke glücklich alles gegen sich! Die Unternehmer und die Arbeiter! Diese Gasbeleuchtung würde dem alten Einsiedlerkrebs oben in Lütthahn allmählich aufgehen ...«

»Und Papa?«

»Papa kommt seine Krankheit sehr gelegen! Er liegt ganz selbstzufrieden in der Klappe und zieht die Ohren an und blinzelt eigensinnig über die Bettdecke und antwortet auf alle Vernunftgründe nur: Nee – ich mag nicht!«

»Es ist eine harte Zeit ...«

»... ich mag nicht, und wenn dieser rote Nimis sich schwarz ärgert ...«

,... ach – wäre lieber sein Vetter da, der Herr Leo Nimis!« sagte Fräulein Schneider mit ihrem piepsigen Stimmchen, das zu ihrem Kanarienvogelgesicht paßte, und hob prüfend ein Flöckchen himmelblauer Seide gegen das Licht. »Der wüßte gewiß Rat!«

Ottonie Buschbeck erwiderte nichts! Sie trat auf die Gartenterrasse hinaus, die an den Salon anstieß. Die helle Sonne des Hochsommernachmittags umfloß ihre hohe, schlanke, noch schlichter als sonst in ein dem Fabrikrauch ähnliches Nonnengrau gekleidete Gestalt. Unter den dichten, schwarzen Wimpern suchten ihre tiefliegenden, blaubrennenden Augen unten in der grauen, mit Schornsteinen und Fabrikdächern besäten Ebene die Zeichen der lautlosen, seit diesem Morgen tobenden Schlacht zwischen August Buschbeck und seinem tausendköpfigen, berußten Heer. Diese Schlacht schwieg, so wie sie unsichtbar war. Ihr Merkmal war eben das Nichts. Das Fehlen der Gewohnheiten. Überall im Rund rauchten die Schornsteine. Nur in Lütthahn drang kein funkenstiebender, schwarzgeballter Atem aus den Schloten, überall lebte das Summen und Brummen, das Hämmern und Schrillen von Maschinenwucht und Menschenfaust. Totenstille herrschte nur, soweit August Buschbecks Riesenhand schaltete.

Im Salon stand, als sie durch das Zimmer ging, der Privatsekretär Dr. Rödicke und sagte eifrig zu den beiden Damen: »Ganz recht, Fräulein Schneider! Ich wüßte auch niemand, der die Geschichte noch ins Gleis bringen könnte, als Herrn Leo Nimis! Denn der ist – wenigstens soweit meine Kenntnis der Dinge reicht – der einzige Mensch auf der Welt, der mit dem alten Herrn fertig wird!«

»Ach – das sagt ja jeder!« versetzte kummervoll, Fäden sortierend, Fräulein Schneider.

»Er soll in diesen Tagen aus Petersburg zurück und augenblicklich in Berlin sein! Wenn man irgendwie Einfluß auf ihn hätte, müßte man ihn beschwören, sich sofort auf die Bahn zu setzen und hierherzukommen! Jeder Tag hier kostet ja hunderttausende ...«

»... Hunderttausende ... Hast du gehört, Ottonie?«

»Ach – wenn es nur das wäre!« Ottonie Buschbeck warf verächtlich den blassen, schwarzen Kopf in den Nacken. »Aber Seelen kostet es wieder ... Zutrauen ... Menschentum ... Arbeitsfreude ... Es wird wieder Gift gesät ... Nur um der Stärkere zu sein ...«

»Ja, so ist Papa!«

Der alte Herr lag, als seine Tochter wieder bei ihm eintrat, höchst behaglich im Bett, den kalten Stummel schief im Mund, von einer bösartigen, stillen Kampflust erheitert und belebt. Sie setzte sich sanft zu ihm.

»Papa ... draußen ist's schrecklich!«

»Na – wieso denn, mein Kind?«

»Überall ist Leben. Nur in Lütthahn regt sich nichts. Es ist wie am Sonntag. Nein, wie auf dem Kirchhof. Alles tot und still!«

»Ich kann nicht selber die Kessel heizen! Der Doktor hat mir's verboten!«

»Aber nachgeben kannst du!«

Diese Vorstellung belustigte den Kranken. Er lachte, als hätte seine Tochter einen guten Witz gemacht.

»Papa, die andern alle, außer dir, haben sich geeinigt...«

»Die andern alle haben lange Ohren! Bestell ihnen das von einem einfachen, alten Mann hier oben ...«

»Da kannst du doch auch vernünftig sein!«

»Dumm, Kindchen ... dumm!«

»Das ist nicht dumm, wenn man sich auch mal in die Seele der andern hineinversetzt!«

»Nee – ich mag nich!«

August Buschbeck sagte das seelenruhig. Es ging eine gewisse Menschenfreundlichkeit von ihm aus. Er hatte gar nichts gegen seine Mitmenschen. Er nahm sie nur nicht ernst. Seine Frau war hereingetreten. Hinter ihr Dr. Rödicke. Der Vulkan im Bett fing an zu grollen.

»Na – was steht ihr denn da wie die nassen Hühner? Ist ein Unglück passiert?«

»Herr Geheimrat, der Streik ist ein Unglück!«

»Für die andern!« sang der Alte im Bett vor sich hin. »Für die andern! Für die andern!«

»Herr Geheimrat, die Leute drüben haben Geld! Sind stramm organisiert! Feste geführt ...«

»Wenn es Ihnen dort so gefällt, dann packen Sie doch gefälligst Ihre sieben Zwetschgen und gehen Sie dorthin!« donnerte es aus den Kissen. »Ich halte Sie nicht. Einen Sekretär finde ich alle Tage!«

»... der es mit Ihnen aushält?«

»Kleinigkeit! Ich bin 'ne Seele von 'nem Menschen, wenn man mich nur nicht fortwährend ärgert! Aber Sie reizen mich ja seit Jahren bis aufs Blut, Rödicke!«

Zu August Buschbecks maßlosem Erstaunen nahm der Privatsekretär die schon hundertmal herausgebrüllte Kündigung diesmal plötzlich ernst. Er versetzte entschlossen: »Gut! Dann suchen Sie sich einen anderen Prügelknaben, Herr Geheimrat! Sowie Sie meinen Nachfolger gefunden haben, bitte ich um meinen Abschied!«

Der Alte riß die wässerigen und weinerlichen Augen auf. »Sie wollen Ihre sichere Lebensstellung bei mir aufgeben?«

»So berühmt ist es mit der Sicherheit gar nicht mehr...«

August Buschbeck saß sprachlos im Bett aufrecht wie ein grimmiger, hagerer Zaunstecken.

»Ich gehe lieber, solange es Zeit ist! Denn die Geschichte hier in Lütthahn geht bergab!«

Der Kranke kicherte vor Zorn.

»Sie kommen in die Jahre, Herr Geheimrat! Es ist längst zuviel für Sie! Sie haben die Sache hier groß gemacht. Sie machen sie jetzt wieder klein!«

»Da hörst du's mal, Mann!«

»Endlich sagt dir jemand die Wahrheit, Papa!«

»Unsere Fabrikate sind noch gut. Unsere Fabrikationsmethoden fangen an, bedenklich rückständig zu werden! Aber Sie dulden ja keinen Widerspruch!«

»Ich?« sprach August Buschbeck wie ein Säulenheiliger und schlug die tränenden Augen zum Himmel.

»... während wir jetzt hier seit heute früh dank unserer Kraftmeierei stilliegen, grast uns die Konkurrenz die fettesten Plätze ab ...«

»Wo nur der Rödicke den Mut hernimmt?« sprach der alte Gewaltmensch erstaunt zu seinen Damen.

»Sie haben eine Kunst, Herr Geheimrat, mit Menschen umzugehen, als ob es keine wären! Dadurch kommen die Lütthahner Werke langsam, aber sicher auf den Hund! Erlauben Sie, daß ich Ihnen das in Gegenwart Ihres Herrn Sohnes sage, der da eben eintritt ...«

»Ja. Papa! Ich möchte die Gelegenheit auch einmal benutzen, um als dein Filius und Erbe Verwahrung einzulegen ... Schließlich geht die Bescherung auf meine Kappe ...«

»Eine Narrenkappe!« schrie der alte Herr und maß den streng nach Londoner Schnitt gekleideten, etwas übernächtigen, jungen Klubmann mit einem vernichtenden Blick. Hinter Max Buschbeck stand, wallonisch gebräunt, mit schwarzem Schnurrbart, südlichen Augen und dunklem Haarkranz um die tonsurähnliche Glatze sein Schwager, Graf Mettenberg, und ergänzte: »Ich schließe mich Max' Worten im Namen deiner beiden Enkelchen an, Schwiegerpapa, deren Zukunft sichergestellt bleiben muß! Wir leben in Abdinghof nicht von der Luft!«

»Nee – weiß Gott!« bekräftigte der alte Herr im Bett. Er wußte nur eins vor Wut zu tun. Er brannte sich rachsüchtig mit einem unter die Kissen geschmuggelten Schwefelhölzchen den kalten Havannastummel an und paffte herausfordernd den Seinen ins Gesicht. Nun sollte ihn mal einer hindern! Seine Frau schluchzte: »Vorhin kam ein Drohbrief mit der Post, August! Die gräßlichen Menschen wollen eine Lunte unter unserem Hause anzünden und wünschen dir glückliche Reise ins Jenseits!«

»Danke!«

Der Alte legte sich behaglich in den Kissen zurecht. Ottonie beugte sich über ihn.

»Papa ... Die Drohbriefe sind ja dummes Zeug ... Die Leute sind ja ganz vernünftig und diszipliniert! Komm Ihnen doch ein bißchen entgegen! Gib ihnen wenigstens den kleinen Finger!«

»Nee – ich mag nicht!« sagte August Buschbeck breit und trocken.

»Herr Geheimrat, der Herr Oberbürgermeister!«

»Tag, lieber Grübler! Na – immer wohl und munter? Was macht die Gattin, die teure? Kinderchen alle gut bei Wege?«

Der Oberbürgermeister der benachbarten Industriestadt schüttelte energisch den bebrillten Verwaltungskopf.

»Verehrter Geheimrat! So geht die Geschichte wirklich nicht weiter! Überall im Revier ist die Lohnbewegung ausgeglichen. Nur Lütthahn bleibt natürlich wieder der alte Brandherd und setzt uns womöglich die ganze Gegend noch nachträglich wieder in Flammen. Wir in der Stadt sind dann mit der leidtragende Teil. Es ist meine Pflicht, im Namen der Stadt gegen Ihre Halsstarrigkeit zu protestieren. Das ist auch die Meinung des Herrn Landrats hier!«

»Schließlich gibt's noch Unruhen wie vor ein paar Jahren«, sagte der Landrat Dr. von dem Steineck. »Dann kann ich die Bescherung wieder ausbaden. Läßt man die Karre laufen, ist man ein Schlappier. Greift man durch, so war man wieder zu schneidig! Herr Geheimrat – Sie müssen jetzt ein wenig Nachgiebigkeit zeigen!«

»Nee – ich mag nicht!«

»Ein Segen, daß wir den Bergrat mitgenommen haben! Reden Sie ihm mal zu!«

»Na, Killing, alter Schwede!« sprach August Buschbeck leutselig. »Jungchen – was ziehst denn du für einen Flunsch?«

»August ... wir sind doch alte Schulkameraden ... Nun sei mal vernünftig! Willst du denn, daß dir die Gruben ersaufen?«

»Pumpen! ... Immer nur feste pumpen!«

»August ... Wir reden dir doch schon zu wie 'ner kranken Kuh ... Gib nach ...«

»Nee – ich mag nicht!«

Die Herren schauten sich ratlos an und schüttelten die überarbeiteten Köpfe. Das Zimmer füllte sich. Es kamen immer mehr Geschäftsfreunde. August Buschbeck spürte, nachdem er sich in den Besitz einer Zigarre gesetzt, neuen Kampfmut. Er spähte kriegerisch durch die Rauchschleier, die seine verwilderten Haar- und Bartsträhnen und seinen viereckig-knochigen, mit graubebuschter Brust unter dem offenen Hemd aufgerichteten Oberkörper umwallten, nach der Tür und nagelte dort mit einem Zornblick die beiden, auf den Fußspitzen eingetretenen Großindustriellen fest: »Nun schickt mir der Teufel auch noch das Syndikat!«

»Wie geht es Ihnen, Herr Geheimrat?«

»Wenn ihr mich armen, alten Mann endlich in Ruhe laßt, vorzüglich!«

»Herr Geheimrat, wir können's nicht! Die Lage spitzt sich reißend zu! Eben hatten wir den neuen Tarif glücklich unter Dach, und nun kommen Sie uns so! Es geht nur noch um Stunden, so flackert von hier aus, dank Ihnen, auch bei uns der Streit überall auf!«

»Recht so!« sagte August Buschbeck befriedigt. »Setzt der Gesellschaft nur gehörig den Daumen aufs Auge!«

»Nein, das wollen wir nicht. Wir wollen in Ruhe arbeiten! Sie sind doch auch Mitglied des Syndikats. Es handelt sich in Lütthahn nur um rein lokale Differenzen. Sie müssen Rücksicht auf uns nehmen! Das ist doch auch Ihre Überzeugung, Herr Kühn!«

Der energische, jugendliche Generaldirektor bejahte entschieden. August Buschbeck saß und sah sich den alten guten, silberhaarigen Kommerzienrat Schwendemann teilnehmend an wie einen unschädlichen Geisteskranken ... Rücksicht auf die Konkurrenz ... Der Gedanke war gut ...

»Sie müssen mal was für Ihre Gesundheit tun, Schwendemann!«

»Es ist die höchste Zeit, daß Sie jetzt mit Ihren Leuten verhandeln. Herr Geheimratl«

»Nee – ich mag nicht!«

August Buschbeck legte sich lang hin und schloß die weinerlichen, kleinen Augen, Es war ein Zeichen, daß die Audienzen für heute zu Ende seien und er jetzt Ruhe haben wollte.

»Wenn der Herr Geheimrat für alle diese Herren daheim ist wird er wohl auch für den Landtagsabgeordneten zu sprechen sein!«

Der Freiherr Maria Josef von Nievenich schob den Diener Johann zur Seite und trat vor das Bett. Ihm folgte auf dem Fuß sein dicker Freund, der Domherr von Nippers, gleich ihm Besorgnis auf dem klugen, menschenkundigen, bebrillten Gesicht.

»Die Lage ist ernst, Herr Geheimrat!« sagte er. Der Alte in den Kissen zeigte dem Weltpriester mit einem hinterlistigen Lächeln die schadhaften gelben Schneidezähne.

»Tja, – Was halten Sie wohl von der Küvelierung, Hochwürden? Sind Sie mehr für englische oder für deutsche Tubbings?«

»Ich verstehe nichts vom Bergbau!«

»... und ich dachte, Sie wollten mich hier über meine Geschäfte belehren, Hochwürden!« sagte der alte Herr in friedlichem Erstaunen und schob eine Magenpille zwischen die gewalttätig geformten Kiefer.

»Nicht über die Maschinen, sondern über die Menschen! Wenn Sie auch Freigeist sind, Herr Geheimrat, ein guter Teil der Menschen, die unten im Bergwerk für Sie arbeiten, glaubt noch an Gott!«

»Sie machen uns die besten Elemente kopfscheu!« drängte Baron Nievenich. »Sie sprengen sie uns noch ab, ins feindliche Lager!«

»Zeigen Sie sich jetzt endlich zu Verhandlungen bereit!« bat der Domherr, der fremdartig wie ein Bote aus einer anderen Welt zwischen den Spitzen der preußischen Verwaltung und den Größen der rheinischen Industrie stand.

»Nee – ich mag nicht! ... Nun kommt auch noch der Scholz! ... Lassen Sie mich in Ruhe! ... Ich will nichts mehr hören!«

August Buschbeck hielt sich hartnäckig mit den langen Fingern die Ohren zu. In die schrie der kleine, vor Aufregung kurzatmige Direktor Scholz von den Lütthahnwerken, so laut er konnte, hinein: »Herr Geheimrat, ich spreche im Namen Ihrer ganzen Direktion ...«

»Ich habe die Direktion nicht gefragt!«

»Nach unserer Meinung ...«

»Die veröffentlichen Sie gefälligst in Ihren nachgelassenen Papieren ...«

»Die Sache ist auf dem Siedepunkt! Wir müssen uns jetzt in zwölfter Stunde mit den Leuten an einen Tisch setzen!«

»Nee – ich mag nicht!«

»Hoffnungslos!« sagte Dr. Rödicke ziemlich laut. Der alte Herr vernahm es nicht, weil er sich immer noch die Gehörgänge mit dem Zeigefinger verbarrikadierte. Dabei lächelte er friedlich wie ein Säugling in der Wiege. Die Versammlung um sein Krankenlager machte ihm nicht mehr Eindruck wie ein Schwarm Spatzen.

»Es gibt nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der gegen Papa aufkommt!« Buschbeck der Jüngere drehte, gelb vor Ärger, den schon leicht verlebten Aristokratenkopf zu seiner Schwester. »Warum zitierst du Herrn Leo Nimis nicht herbei, wo ihr doch so dicke Freunde seid?«

Der Privatsekretär Dr. Rödicke stand daneben.

»Wissen Sie das Neueste, was ich eben von Hochwürden höre?« sagte er aufgeregt mit einem Augenwink nach dem Domherrn von Nippers, dessen Verbindungen durch alle Stände und Volksschichten am Rhein reichten.

»Nein!«

»Herr Leo Nimis ist ja schon im Lande!«

»Spaß?«

»Er wurde heute auf dem Bahnhof drüben gesehen!«

»Nanu!«

»Zusammen mit seinem roten Vetter Robert von der ›Freien Stimme‹.«

»Vielversprechender Anfang – was Ottonie?«

»Ich weiß doch natürlich längst, daß Herr Nimis seit gestern abend da ist!«

»... und erzählst davon kein Wort!«

»Er wollte es nicht.«

»... und läßt ihn da unten herumgeistern, statt daß er Hals über Kopf hier zu uns kommt?«

»Ich habe ihn selbst noch gar nicht gesprochen. Er hat mir nur geschrieben, wenn er erst hier oben wäre, dann legte alles auf ihn Beschlag. Er müsse erst mit den Leuten unten reden und wissen, was sie wollten! Dann könne er erst mit der weißen Parlamentärflagge den Berg hinauf! Und dann wirke sie immer noch auf Papa wie das rote Tuch auf den Stier, und es gäbe noch ein gutes Stück Arbeit!« –

Die krumme, schmutzige, bei Tag und Nacht lärmende Bahnhofstraße des Industriestädtchens drüben war voll von kleinen Ramschbasaren, Kneipen, Anzahlungsgeschäften, Zigarettenläden. Ihr holpriges Pflaster zitterte unter dem Rasseln und Bimmeln der Pferdebahn und hallte wider von dem Gellen der Gassenbuben, dem Bellen der Köter, dem Pfeifen der nahen Lokomotiven. In dieser verrauchten und verruhten Straße, in einem dieser niedrigen häßlichen Häuser saß Leo Nimis auf dem Plüschkanapee in der Wohnstube neben seinem Vetter Robert. Den Sofaschoner hinter seinem Haupt hatte Frau Binchen Nimis, die geborene Thilo, selbst gehäkelt. Das entsprungene Pfarrerskind aus dem Odenwald wirtschaftete in dem Zimmer umher, rückte die unordentlich herumstehenden, imitiert altdeutschen Stühle zurecht, die wie das Vertiko und der mit Wolltroddeln behangene Luthersessel und alles andere aus dem Zentralkredithaus von Cohn & Kompagnie nebenan stammten und noch lange nicht ganz abgezahlt waren. Dann öffnete sie die Fenster, um den beißenden kalten Tabakrauch hinaus- und den Straßenlärm hereinzulassen.

»Wenn der Siebener-Ausschuß e paar Stunde hier beisamme gehockt hat, schaut die Stub aus, als seie die Türke drin zu Gascht gewese«, sagte sie weinerlich und fegte die Zigarrenasche zusammen. »Ich weiß nit, warum ihr Männer als grad hier dischkutiere müßt!«

»Weil die Wänd anderswo Ohre habe. Fraache!«

Dies Haus hatte nichts Besonderes. Es war ebenso vernachlässigt und unansehnlich wie seine Nachbarn im Werkeltagskleid rechts und links. Aber wenn der Landrat Dr. von dem Steineck vorbeifuhr, maß er es jedesmal mit einem vernichtenden Blick. Dies Haus war die Quelle aller Übel. »Druckerei der ›Freien Stimme‹ stand auf dem Messingschild des Eingangs, dessen Flur in den Hof führte. In dem Schaufenster daneben lagen Schriften, die noch vor einem Jahr den Staatsanwalt neugierig gemacht und die Gendarmerie im Laufschritt herbeigelockt hätten. Im ersten Stock war die Redaktion. Sie bestand eigentlich nur aus Robert Nimis' Schreibtisch, der, über und über mit Papieren und Drucksachen überhäuft, am Fenster der guten Stube stand. Denn außer ihr besah das Ehepaar nur noch Kammer und Küche.

Das Binche Nimis putzte und wischte immer noch an ihrem Nestchen herum. Dessen eine grellgeblümte Tapetenwand war ihr zu eigen. Da prangten säuberlich unter Glas und Rahmen die Photographien der Verwandten, bärtige und bartlose Predigerköpfe vom Lande mit ihren Frauen in dem guten Schwarzseidenen, und Kinder wie die Orgelpfeifen. Der Rest der Wände gehörte ihrem Mann und der Partei. Haar- und bartumflossen schaute da Karl Marx' mächtiges Haupt herab und der schwarzwollige Schädel Lassalles mit der hohen Stirn und den beredten Lippen, August Bebels gesträubte Kampfmähne und lodernde Augen. Wilhelm Liebknechts nüchtern forschender Denkerkopf und Friedlich Engels' derbes Antlitz im vollen Bart. Darunter hingen eingerahmt ein Vierteldutzend Verfügungen aus der Zeit des Ausnahmezustands wonach dem am 5. August 1860 in Darmstadt geborenen Redakteur Robert Nimis als einer Person, von welcher eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu besorgen sei, der Aufenthalt in dem vorerwähnten Bezirk von einer Königlichen Regierung, Abteilung des Innern, versagt worden war.

Der Robert Nimis selber sah jetzt bürgerlicher und friedfertiger aus, seitdem das Binche aus dem Odenwald ihrem Mann die rote Krawatte sorgfältig knüpfte und das Strubbelhaar scheitelte. Der Rock sah fleckenlos auf den stämmigen Schultern, es gab keine Hosenfransen mehr über ungeputzten Schuhen. Aber sonst war der verwegene kleine Mann noch der Alte. Während seine Frau sich in die Küche zurückzog, musterte er seinen Vetter Leo und sagte trocken: »Wie der Borsch dahockt! Großkariert, frisch rasiert, gewasche und gebügelt! Dich könnt man für an zahmen Engländer halte, Leo, wie sie besser oben am Rhein herumlaufe. Du hast auch schon so wasserblaue Augen, als hätt dir eines Glaskugeln in den Kopf gesetzt! O yes – der Mann is doch nit aus seiner Ruh zu bringen!«

»Warum denn auch? Es ist ja alles mit deinem Siebener-Ausschuß besprochen! Wenn sich das ganze Syndikat mit euch geeinigt hat, dann muß es der alte Buschbeck auch! Jetzt warte nur, bis ich oben mit ihm verhandelt hab!«

»Vierundzwanzig Stunden bleiben wir bei unserm Wort! Das hab ich dir in die Hand zugesagt ...«

»Es wird schon früher so weit sein, daß ihr euch vertragt! Halte dich nur bereit zu kommen, sobald ich dich holen lasse! Zu jeder Stunde!«

»Unscheniert! Sorge du nur, daß das alte Laschter in Lütthahn nachgibt! Dees möcht ich wisse, wie du mit dem fertig wirst!«

»Ich werde mit allen Leuten fertig, Robert! Das ist weiter kein Kunststück!«

»Warum können's denn dann die andern nit?«

»Ich hab mit vielen Chinesen zu tun gehabt, Robert – solchen in Asien, die einen Zopf tragen und's wissen, und solchen anderswo, die keine Ahnung haben, daß ihnen ein Zopf hinten hängt, und ich muß schon sagen, die Mandarinen in Peking sind mir immer noch lieber als die in Berlin! Aber ihr hier, du und deine Leute, ihr seid um kein Haar besser wie so ein Geheimrat mit drei Pfauenfedern!«

»Ich bin froh, wenn ich so 'nen bösartigen Simpel gar nit erst seh!«

»Und der bekreuzigt sich wieder vor deinem roten Schlips!«

»... sell macht mir Bläsier ...«

»... und ihr betrachtet euch gegenseitig wie Hund und Katz!«

»Hund und Katz lebe noch friedlicher mitenanner wie ich und die Herre ...«

»Das wäre ganz schön, wenn wir Deutschen allein auf der Welt wären, Robert! Da könnten wir uns ja das Vergnügen machen und immer einer den andern in Verruf stecken, wie zu meiner Zeit die grünen Studenten auf der Universität! Aber wir haben Nachbarn! Höchst unangenehme Nachbarn! Ich komme eben aus Petersburg. Dort haben sich Rußland und Frankreich gegen uns verbrüdert!«

»Die Knute und der Geldsack haben sich verbrüdert! Das russische und das französische Volk weiß davon nix! Dem sind wir Deutschen auch Brüder! Das Volk kennt keine Grenzpfähle! Das gehört überall zusammen!«

»Glaube nur das nicht!«

»Das glaub ich nicht. Das weiß ich! Mir steht jeder, der arbeitet, gleich nah, ob er sich jetzt in Lütthahn oder im Pfefferland in die Händ spuckt!«

»Ja, er dir! Aber du ihm? Du als Deutscher? Du weißt nicht, wie groß der Haß gegen die Deutschen auf der Erde ist!«

»Die Redensarten kenn ich, Alterle! Da sollen bloß wieder bei uns mehr Regimenter aufgestellt werden und neue Kanonen gegossen, damit der alte Buschbeck wieder an Schmuh für seine Aktionäre macht! Erst muß abgerüstet werde und die Bruderhand nach Paris und Petersburg und London ...«

»... und von dort die geballte Faust! Robert, was weißt denn du, wie's in Wirklichkeit im Ausland aussieht?«

»Besser als du!«

»Du bist doch nie im Ausland gewesen!«

»Hab ich auch nit nötig! Das Volk versteht sich überall! Die schießen nicht auf ihre deutschen Mitmenschen! Die tun uns nix, wenn wir sie nicht immer reizen ...«

»Robert – du lebst in einer Traumwelt...«

»Und ihr in 'nem Metzgerladen! Als nur Blut und blanke Messer ...«

»Bismarck ist nicht mehr im Amt. Leider. Aber er warnt und warnt aus dem Sachsenwald!«

Der andere hob die Augen zur Stuckdecke und stieß einen Erlösungsseufzer aus.

»Gott sei Dank, daß mir den los sind!«

»Bismarck hat gewußt, was das heißt, daß wir mitten in Europa und mitten unter Feinden wohnen!«

»Uff – sag ich, und nochmal Uff!«

»Er hat uns gelehrt, daß wir vor allem stark sein müssen ...«

»Laß den alten Mann bawwele! Er beißt nit mehr! Uff!«

»Stark sein, heißt einig sein! Er hat Deutschland nach außen geeint. Jetzt müssen wir uns aber auch nach innen einigen! Wir haben zu viel Feinde!«

»Geh! 's is nit so arg!« Der Vetter zuckte die stämmigen Schultern.

»Robert ... Robert! Wir sind in Deutschland nicht unter uns Pfarrerstöchtern! Der Kosak und der Turko gucken über die Mauer, wie's bei uns zugeht! Brüderschaft haben sie eben schon miteinander getrunken...«

.,... und wir mit jedem ehrlichen Mann aus der Welt!«

»Ehrlich seid ihr – ehrlich meinst du's ... Dafür bist du ein Deutscher, Robert! ... Aber vergiß nicht: Bismarck hat einmal von dem blinden Hödur gesprochen, der den deutschen Frühling brach. Der blinde Hödur – das ist die alte deutsche Zwietracht...«

»Jetzt laß mich endlich aus mit deinem Bismarck! Ich bin froh, wenn ich den Namen nicht mehr hör!«

»Haß gibt's gegen jeden auf der Welt, der, wie wir, neu anfängt und es zu etwas bringt! Das gilt für jeden von uns! Auch für dich! In jedem steckt ein Stück Deutschland!«

»Wann ein Haß da war, dann verdanken wir ihn bloß dem Bismarck! Erzähl du dem alten Buschbeck vom Bismarck und nit mir. Ich hab Deutschland auch gern – trotz allem – aber so einer verekelt's einem ja! Der alte Sünder hat den Bismarck lebensgroß über seinem Schreibtisch hängen! Sell is sein Schutzheiliger! Die beide passe zusamme!«

Leo Nimis seufzte. Er zuckte die Achseln und stand auf. »Manchmal ist's kein Vergnügen, Auslanddeutscher zu sein und von außen in die große deutsche Kinderstube hineinzuschauen!« sagte er.

»Was heißt das?«

»Nichts. Ich geh also jetzt in Gottes Namen zu dem alten Buschbeck!«

Leu Nimis schritt zu Fuß die Chaussee nach Lütthahn dahin. Der Sommerwind umspielte ihn schwül, als wehte er aus den Schmelzöfen umher. Rußflocken trieben in seinem Rauch. Die Sonne schien heiß, aber bleich durch den Dunst der Fabriken. Die Schlote qualmten, und es war ihm in seinen Gedanken, als ballten sich die Schwaden wieder zu den weißen Pulverwolken auf der blauen Ostsee, und über ihnen flatterten verbündet Andreaskreuz und Trikolore. Und als höbe sich drüben, nahe der Nordsee, aus dem Sachsenwald ein sorgender Riesenschatten und spähe wachsam und warnend nach den Grenzen des Reichs, nach der Wacht an Rhein und Weichsel. Und hier innen im Reich sangen unterdes Räder und Riemen das Lied vom Bruderkrieg, vom Krieg zwischen Arbeit und Besitz.

Dann wurde es seltsam still. Keine Esse sprühte mehr. Kein Schwungrad kreiste. Kein glühender Stahl streckte sich unter dem tanzenden Hammer. Die Fabriksäle lagen ausgestorben. Gruppen von Feiernden standen müßig auf der Straße, als sei es Sonntag. Man war in August Buschbecks Reich. Seit heute früh ein Schlachtfeld ohne Kanonendonner.

Aus dem Feldherrnhügel oben leuchtete aus Parkgrün das weiße Wohnhaus vor dem Feuergold der schon sinkenden Sonne. Das sonst verschlossene kleine Gittertor unten war heute offen, aus dem der nächste Fußweg in Windungen zur Höhe führte. Leo Nimis klinkte es auf und trat ein.

Er ging langsam. Der Pfad schlängelte sich unter seinem festen, gleichmäßigen Schritt. Zuweilen weitete er sich zu einem Aussichtsplatz. Dann sah Leo Nimis, je weiter er aufwärts stieg, die Welt unten immer tiefer zu seinen Füßen. Die Niederungen. Die Nebel. Die namenlosen Massen der Menschen. Und er oben einsam im Licht.

Bisher hatte der Berghang schon im Abendschatten gedämmert. Jetzt, bei einer Biegung, flammte plötzlich vor Leo Nimis der in einem Feuermeer drüben über dem Rhein sinkende Sonnenball, begrüßte ihn auf der Höhe, warf einen Herrschermantel von abendlichem Purpur um seine Schultern, krönte sein bloßes Haupt mit einem Reif von goldigem Abendlicht. Leo Nimis wandte es geblendet rückwärts. Da sah er, daß sein Schatten riesengroß geworden war. Mit dem Vielfachen seiner eigenen Körperlänge fiel dieser Schatten über den Grund und Boden des Herrenhauses von Lütthahn und reichte hinter ihm hinab in das Tal.

Er schritt weiter. Er mußte die Lider auf den Sand des Weges senken, um nicht geblendet zu werden. Da waren ein paar Stufen. Als er sie emporstieg, sah er vor sich den schlanken, hohen Schattenriß einer Frauengestalt, die da vor der Sonne stand, und schaute auf.

Ottonie Buschbeck reichte ihm die Hand. Sie war in einfachem Kleid, das schwarze Haar schlicht über dem blassen, regelmäßigen Gesicht gescheitelt, ohne Hut, so wie sie aus dem Hause gekommen.

»Ich hab Sie von oben gesehen!« sagte sie. »Da bin ich Ihnen ein Eckchen entgegengegangen ...«

Und dann: »Kommen Sie! Wir wollen uns einen Augenblick setzen! Papa kann noch ein paar Minuten warten ...«

Von der Ruhebank aus sah das Land unten aus wie der Inhalt einer Spielzeugschachtel, den August Buschbecks behaarte Bergmannsfaust launisch ausgestellt hatte – da die Schlote und Dächer einer Hütte – da ein Haufen schwarzer Halden – da Reihen von Häuschen. Es war totenstill unten. Nur ein paar Hunde kläfften.

»Wie geht es ihrem Vater?«

»Er tobt vom Bett aus wie sonst im Bureau! Er wird nie anders werden!«

Und nach einer Pause: »Aber es muß anders werden! Es geht so nicht weiter. Das sieht jeder außer ihm ein!« »Sind die Herren noch oben?«

»Sie sind alle weg. Nur mein Schwager Mettenberg ist geblieben. Und mein Bruder Max. Dr. Rödicke hat auch gekündigt! Papa deckt wirklich eigenhändig am Ende seines Lebens sein eigenes Dach ab!«

Ein Schweigen. Ottonie Buschbeck seufzte und fuhr sich mit der Hand über die tiefliegenden, dunkelblauen Augen. »Ach – lassen wir's! Erzählen Sie mir lieber, wie es Ihnen geht!«

»Ich habe Ihnen alles geschrieben«, sagte Leo Nimis und malte mit seinem Stock einen Drudenfuß in den Kies vor ihr. »Und Sie mir auch. Seit einem Jahre. Wir haben uns alles gesagt.«

»Wirklich alles?«

»Ja.«

Dann setzte er hinzu: »Sie ... an die Sie eben denken, und von der ich Ihnen schrieb – die hat schon vor mir Petersburg verlassen ...«

Ottonie Buschbeck antwortete nichts.

»Die ist schon seit Anfang dieser Woche mit ihrem Mann auf hoher See. Sie haben gleich nach ihrer Ankunft in Berlin einen Gesandtenposten ganz da draußen irgendwo am Ende der Welt erhalten. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Da bleiben sie nun Jahr und Tag.«

»Einmal kommen sie auch zurück.«

»Die Welt ist klein. Aber so groß, daß man sich aus dem Weg gehen kann, ist sie doch.«

»Wenn man will ...«

»Das wollen wir. Die, von der wir reden, und ich.«

»Haben Sie darüber miteinander gesprochen?«

»Sie hat mich schon verstanden. Vollkommen. Wir haben voneinander Abschied genommen für dies Leben...«

Leo Nimis zog mit der Spitze seines Bambusrohres, eines Mandarinengeschenks aus Hongkong, die letzte Ecke des Drudenfußes im Sand und schloß, lauter als bisher: »Das ist aus! Das liegt hinter mir. Für immer. Mehr kann ich nicht sagen!«

Unten im Tal graute schon die Dämmerung. Die ersten Lichter leuchteten traulich auf. Tröstend. Grüßten von Herd und Heim. Da saßen Menschen beisammen. Spielten Kinder ...

»Manchmal denke ich, ich habe meine Mutter viel zu früh verloren«, sagte Leo Nimis. »Ich habe jetzt oft solche Sehnsucht nach ihr. Ich wäre dann vielleicht ein bißchen anders geworden. Nicht bloß ein Mensch, den man da und dorthin schickt, um Maschinen aufzustellen und Grünhörner übers Ohr zu hauen. Ich hab ja auch niemals recht eine Schwester gehabt ... Sie meinen, ich hab eine? Die Hansi – die rechne ich nicht! Das ist eine leichte Fliege! Sie war es immer und ist es jetzt in Wien als Frau Fronhofer erst recht ...«

»Mit Männern kann man über vieles nicht reden«, hub er wieder an. »Das ist, wie wenn man mit sich selbst redet! Darüber kann man nur mit Frauen reden. Dann begreift man sich selber. Ohne das bleibt einem immer mehr im Leben unverständlich, je älter man wird. Man weiß gar nicht, wozu man eigentlich da ist ... Was das alles für einen Sinn hat ...«

»Den Sinn müssen wir selber ins Leben hineinlegen. Da geht es mir wie Ihnen. Daß ich das nicht kann, darunter leide ich, seitdem ich ein denkender Mensch geworden bin. Mir sind ja die Hände gebunden. Ich darf ja nicht, wie ich will!«

»Und was wollen Sie?«

»Anderen helfen. Das ist der ganze Sinn des Lebens, lieber Freund!«

Immer dunkler wurde die Welt zu ihren Füßen. Ottonie Buschbeck sagte: »Es gibt so viel zu helfen da unten! Glauben Sie mir. Viel mehr, als ihr ahnt! Nicht nur die einfache Not. Da gibt es Mittel genug. Da bucht auch Papa, die Zigarre im Mund, bei der Bilanz irgendeine Riesensumme für Wohlfahrtzwecke als Beweis, daß er mit seinem lebenden Material ebenso sorgsam umgeht wie mit seinem toten. Aber was da unten ist, das will in die Höhe. Das will herauf zu uns. Das hat ein Recht darauf ...«

»Das streckt die Hände aus!« fuhr sie leidenschaftlich fort. »Und wir sollten die Hände ausstrecken und helfen. Wir sollten sie emporziehen. Wir sollten Menschen untereinander sein. Wir sollten eine große Treppe schlagen von hier durch den Park herunter zu den Leuten unten. Die Treppe tut so not! So furchtbar not! Wir betrachten uns ja selbstverständlich von Kindesbeinen an als Feinde – die da und wir ...«

»Und wir haben zusammen Feinde genug. Draußen in der Welt!«

»Ist das nicht eine Aufgabe, bei der es einem heiß ums Herz wird? Bitte, lächeln Sie nur jetzt nicht...«

»Wahrhaftig nicht!«

»Ich kenne dies entsetzliche Lächeln Papas und all der klugen Leute, mit dem sie ein verdrehtes Frauenzimmer wie mich abtun. Da sitzt man dann, mit den Händen im Schoß, und könnte so viel tun ... Möchte so viel tun ... verzehrt sich ... wird verbittert und ungerecht gegen alle Welt ... möchte weinen ...«

Sie preßte die Lippen zu einem wehen Zug zusammen. Ratlosigkeit lag darin. Schwäche. Sehnsucht. Sie schien ihm viel weicher als sonst in ihrer herben und in sich geschlossenen Ruhe.

Nun sah sie ganz still. Mit einer sanft im Dämmern verschmimmenden Linie des leicht gebeugten Nackens. Er hörte ihr schweres, unruhiges Atmen. Er sagte: »Ihnen glaube ich es: Irgendwie muß der Mensch über sich hinaus!«

»Das soll er! Das ist meine heilige Überzeugung!«

»Ich verstehe diese Aufgabe noch nicht. Ich habe bisher immer an mich gedacht, weil ich fand, daß die andern nicht an mich dachten und der Mensch doch schließlich leben will ...«

»Sie sind besser, als Sie denken!«

»Ich weiß selber nicht, wer ich bin. Ich bin mir selber fremd. Ich bin ein anständiger Mensch. Ich unterschlage nichts. Ich verheimliche nichts. Ich habe Ihnen alles, wie es mit mir ist, seit Jahren immer gebeichtet und geschrieben. Schon in der ersten Stunde, wo wir uns überhaupt in unserem Leben sahen, habe ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet fast hier auf derselben Stelle, auf dem Spaziergang nach Tisch, vor vier Jahren ...«

»Ich weiß.«

»Seitdem habe ich Schweres durchgemacht. Das kennt keiner außer Ihnen. Mein eigner Vater nicht. Niemand.«

»Bei mir ist's gut aufgehoben.«

»Diese vier Jahre haben mich scheinbar, nach außen, in die Höhe gebracht. Es gibt dumme Leute genug in der Alten und der Neuen Welt, die mich beneiden – und in Wirklichkeit bin ich nur ziellos im Kreise herumgegangen und stehe da, wo ich war, nur um viel Bitteres reicher ...«

»Schauen Sie vorwärts und nicht rückwärts!«

»Ja. das will ich. Das muß ich! Herrgott: ich kann doch viel, wenn ich will!«

»Das heißt, wenn Sie mir helfen!« setzte er nach einem Schweigen hinzu.

»Ich will's ...«

Über ihnen leuchtete oben der weiße Schimmer des Hauses Lütthahn. Nur ein paar Fenster des mächtigen niederen Baues waren hell. Er schien dadurch, daß seine Umrisse sich unbestimmt in die Sommernacht verloren, noch riesiger. Ein Ritterschloß der Zeit voll Rauch und Ruß auf hoher Warte und unter ihm sein Reich.

»Ich brauche Lütthahn nicht!« sagte Leo Nimis. »Meinen Platz im äußeren Leben finde ich überall und fülle ihn aus. Die Leute freilich würden's glauben!«

»Lassen Sie doch die Leute!«

»Nein. Ich brauche Sie. Ich bin einsam. Ich hab eine Narbe. Ich hab eine Sehnsucht. Ich sehne mich und suche nach einem Menschen ...«

Er brach ab. Dann fragte er: »Gibt's solch einen Menschen?«

Sie neigte leise, zärtlich lächelnd, das Haupt. Sie wandte sich ihm zu und strich ihm milde mit der Hand über sein blondes, dichtgewelltes Haar und fühlte plötzlich dies Haar und dies Haupt an ihrer Schulter ruhen, stumm, mit geschlossenen Lidern, vor der Welt geborgen.

Es war nur eine ganz kurze Zeit. Dann hob er den Kopf und faßte mit einem starken Griff ihre Hände: »Wollen Sie es mit mir versuchen?«

»Ja.«

Oben auf der Terrasse des Hauses Lütthahn zitterte, wie ein Glühwürmchen in der Nacht, das Windlicht in der Hand des Dieners.

»Johann – haben Sie nichts von dem gnädigen Fräulein gesehen?«

»Nein gnädige Frau.«

»Ottonie!...« rief die Geheimrätin Buschbeck laut in die Nacht. »Ot–to–nie!«

»Fräulein Busch–beck!« piepste hinter ihr getreulich das Fräulein Schneider.

»Wo steckt sie denn nur?« fragte Max, der Sohn des Hauses, barhaupt, im Abendanzug, die Zigarette in der Hand.

Graf Mettenberg sagte: »Ich weiß positiv, daß sie vor einer Stunde ohne Hut und Handschuh in den Park hinuntergestiefelt ist...«

»Gott weiß, was das verrückte Huhn wieder vorhat!«

»Max – du sollst nicht so von deiner Schwester sprechen!«

»Da kommt doch so was den Berg hinauf ...« Der fromme Graf beugte den schönen, brünetten Kahlkopf und spähte.

»Wo denn? Du Dunkelmann schaust wie ein Kater am besten im Finstern. Ich kann nichts erkennen!«

»Wenn einer von uns beiden ein Nachtgeschöpf ist, dann bist du's, Max! Du findest doch nicht vor Sonnenaufgang vom Spieltisch nach Hause!«

»Ach Kinder... häkelt euch nicht!« meinte die Geheimrätin weinerlich. »Sagt lieber, ob das da unten die Ottonie ist ...«

»Nein, gnädige Frau. Ganz gewiß nicht! Das sind zwei Gestalten. Arm in Arm!«

»Warum lacht ihr denn, Lothar und Max?«

»Über Fräulein Schneiders Unschuld, Mama!«

»Jetzt sieht man sie ganz deutlich ... Sie bleiben stehen ... ach Gott, sie küssen sich ...«

Das spitze kleine Fräulein Schneider wimmerte verschämt auf und drehte sich um. Max Buschbeck lachte und meinte befriedigt: »Na, Gott sei Dank! Erkennst du jetzt deine Tochter, Mama, und Herrn Nimis an ihrer grünen Seite?«

»Endlich, Kinder!« Die Geheimrätin faltete dankbar die fetten kleinen Hände. Fräulein Schneider fing an, vor Rührung zu weinen.

»Zeit war's!« sagte Graf Mettenberg auf Abdinghof mit der Ruhe des großen Herrn, der nach langem Suchen einen passenden Verwalter gefunden hat, und die gleiche kühle Befriedigung spiegelte sich auf Max Buschbecks blasiertem Gesicht.

»Ein Segen, daß ich diese ewigen geschäftlichen Sorgen los werde!« sagte er. »Papa gehört wirklich unter Kuratel!«

Der alte Buschbeck lag stocksteif und still in seinem Bett. Hartnäckig wie ein Stück Holz. Er hatte sich nach der Wand gedreht und gab kein Lebenszeichen von sich. Wer den eigensinnigen Greis nicht kannte, hätte glauben können, er sei tot, wenn nicht zuweilen der Rauch einer heimlichen Havanna verräterisch unter der Steppdecke hervorgequollen wäre.

Der Diener Johann und ebenso Dr. Rödicke standen vor der stummen Mumie in den Kissen. Der Privatsetretär prüfte seinen Brotherrn mit dem Leidensblick vieler Jahre.

»Es ist gar nicht der Trotz bei dem Herrn Geheimrat, gnädige Frau!« sagte er.

»Ja, was denn? August – du bist doch ein schrecklicher alter Mann! Was hast du denn?«

»Es ist nur die Angst, gnädige Frau! Der Herr Geheimrat fürchtet sich!«

»Mein Mann? Da könnte doch der Böse selber kommen und bekäme nur Grobheiten an die Hörner!«

»Er fürchtet sich vor Herrn Nimis. Er hat seine Stimme gehört. Da hat er sich lieber ganz still in den Federn verkrochen! Herr Nimis: Es hilft nichts! Sie müssen trotzdem Ihr Glück versuchen!«

»Gewiß!« sagte Leo Nimis mit großer Gemütsruhe.

Als er mit der weltabgewandten Gestalt im Bett allein war, von der man nur die knochigen, verhüllten Umrisse und ein paar verwilderte graue Nackensträhne sah, rückte er sich einen Stuhl heran, setzte sich und begann laut und gemütlich: »Guten Abend, Herr Geheimrat! Ich bin da! Nicht der rote Nimis, sondern sein harmloser Vetter! Wissen Sie, ich bewundere Sie wieder einmal, Herr Geheimrat! Immer der Alte! Immer die Ohren steif ...«

Es war, als spitzte der Gewaltmensch drüben mißtrauisch die Ohren unter der Decke, die er darüber gezogen. Aber er rührte sich nicht.

»Von Ihnen kann der abgebrühteste Maschinenkonstrukteur noch was zu dem alten Satz hinzulernen ›die größte Wirkung mit dem kleinsten Mittel!‹ Sie liegen hier friedlich im Bett und pflegen sich und ärgern dabei alle anderen Leute grün und blau...«

Ein befriedigtes Kichern in den Kissen.

»Sie denken sich: ›Mögen die auf mich schimpfen, bis sie schwarz werden!‹ Sie haben ja so recht, nicht nachzugeben!«

Unter der Bettdecke begann es zu paffen. Rauchwirbel stiegen an verschiedenen Stellen hervor, wie aus den Kraterspalten vor dem nahen Ausbruch eines feuerspeienden Berges.

»Sie haben's, weiß Gott, nicht nötig, sich vor einem Kerlchen wie dem Robert Nimis zu ducken!«

»Nee – wahrhaftig nicht!« schrie der Geheimrat. Auf einmal saß er aufrecht im Bett, das Hemd vorn an der graugelockten Brust offen, die Haare wirr um die großen Ohren, die Zigarre schief in dem schütteren, aschebestäubten Bart.

»Und noch weniger brauchen Sie sich von der kümmerlichen Konkurrenz und dem Syndikat etwas vorschreiben zu lassen!«

»Erzählen Sie das nur dem Schwendemann drüben!« Der Alte rieb sich befriedigt die riesenhaften, wie für eine Bergmannsschaufel geschaffenen Hände. »Und diesem Herrn Kühn! Hihi! ... Kühn heißt er, und ein Hase ist er!«

»Sie sagen sich: Ich halt's aus! Die andern auf die Dauer nicht!«

»Hören Sie mal, Nimis: Sie sind ein merkwürdig vernünftiger Mensch!«

»Was kann Ihnen denn passieren – nicht wahr? Sie lassen die andern schuften und lachen sich ins Fäustchen! Wenn überall sonst die Hochöfen angeblasen sind und in Lütthahn das Gras auf den Fabrikhöfen wächst – Sie brauchen kein Geld zu verdienen wie die anderen Herren. Sie haben genug.«

»Herr ... Ich will verdienen!«

August Buschbecks nervös tränende Augen begannen langsam an dem Ernst des Besuchers zu zweifeln. Der überhörte die Antwort und fuhr fort: »Was macht sich ein Mann wie Sie aus geschäftlichem Schaden? Sie sind der Klügere. Sie haben dann einmal volle Geschäftsstille und Ruhe und Gelegenheit, einmal gründlich Ihrer Gesundheit zu leben! Zu tun ist ja in der langen Zeit, die der Streit bei Ihnen dauern wird, beim besten Willen nichts. Aufträge können Sie in der Zeit nicht hereinnehmen. Na – da schicken Sie eben Ihre alten Geschäftsfreunde zur Konkurrenz. Die will doch auch mal groß Geld machen! Kann man den Leutchen nicht verargen! Hab ich recht oder nicht?«

»Der Teufel hol die Kerle!«

»Außerdem ist's ja auch noch ein Segen, wenn den verwöhnten Aktionären einmal der Brotkorb höher gehängt wird! Die denken ja, es geht immer so weiter mit den Riesendividenden! Nun mal Schluß mit den sieben fetten Jahren! Nette Generalversammlungen wird's geben! Aber Sie sind nicht der Mann, der sich von ein paar Berliner Rechtsanwälten dumm kommen läßt ...«

»Sagen Sie mal ...«

»Sie sagen sich: Andere Leute wollen auch leben! Der Konkurrent ist auch ein Mensch! Die große rumänische Bestellung, die in der Luft liegt, schlucken während des Streiks hier in Lütthahn die Herren Schwendemann und Kühn mit Wonne. Die machen sich daran gesund! Na – gesegnete Mahlzeit! Es sind ja auch strebsame Herren! Es ist ihnen wirklich zu gönnen ...«

August Buschbeck äugte wütend nach dem Stuhl. Der ganze alte Mann zitterte wie ein Dampfkessel, dem die Nadel des Manometers auf neunundneunzig zuckt.

»Den andern mag es ja spanisch vorkommen, Herr Geheimrat, daß Sie die Riesenaufträge verschenken und nicht einmal Dank dafür kriegen! Aber ich durchschaue Ihre Taktik. Ich komme mit Ihnen aus den Belastungspunkt des Ganzen! Und da stimme ich Ihnen unbedingt bei: Älter werden wir alle! Und Sie in Ihren Jahren ganz besonders ...«

Es sah aus, als ob der Geheimrat vor hilflosem Zorn weinte, wenn es auch nur sein altes Augenübel war. Er saß aufrecht und spielte tobsüchtig mit den langen Spinnenfingern auf der befleckten Bettdecke Klavier.

»...aber man gesteht es ungern ein! Sehen Sie: da stehe ich wieder mit gefalteten Händen vor Ihrer geschäftlichen Überlegenheit. Herr Geheimrat! Ein Mann wie Sie will sich natürlich nicht aus heiler Haut vor aller Welt aufs Altenteil letzen! Er will einen guten Abgang haben! Er paßt seine Zeit ab. Er macht das ganz allmählich und unauffällig: da kommt der Streik wie gerufen. Der kann ja Monate dauern!«

»Ja!« donnerte der Kranke.

»... und daß Sie hinterher in Ihrem Alter und mit Ihrer geschwächten Gesundheit den Vorsprung der Konkurrenz nicht mehr einholen können und wollen, das rechnet sich ja ein Waisenknabe an den Fingern aus. Das begreift auch jeder. Sie machen Ihren Rückzug vor der Konkurrenz wieder so wundervoll, daß man rein baff ist!«

»Ich soll mich zurückziehen? ... Ich?«

»Sie geben sich ganz diskret geschlagen! Ihr Arbeitsfeld verringert sich von selbst. Ihre Arbeitslast wird immer leichter. Sie haben immer mehr ein verdientes, seelenruhiges Alter vor sich, je kleiner die Lütthahner Werke von Jahr zu Jahr durch die Entwickelung der Dinge werden. Da fällt einem mit einem ausgeblasenen Hochofen ein Stein von der Seele!«

»Hilfe!« schrie August Buschbeck. »Hilfe!«

»Aber Herr Geheimrat!«

»Räuber! Mörder!«

»Wo denn?«

»Auf dem Stuhl, auf dem Sie sitzen und sich über mich armen, alten Mann lustig machen ... Sie gottloser Kerl ... Sie ... Sie ... Nee ... für Ihren Typ gibt's ja gar keine Nummer ...«

»Darf man rauchen, Herr Geheimrat?«

»Sie tun's ja doch...«, sagte der Alte, noch atemlos.

Leo Nimis zündete sich seine kurze, englische Shagpfeife an. Er schaute plötzlich durch die blauen Wölkchen den Greis fest an.

»Na ... Herr Geheimrat ... Wie wär's? Wenn wir beide zusammen, Sie und ich, Ihre Konkurrenz niederboxten? Nach allen Regeln der Kunst. Neuestes amerikanisches Verfahren. Patentierte Methoden, so daß den Herren Schwendemann und Genossen in acht Tagen die Funken vor den Augen tanzen!«

August Buschbeck saß steif wie ein Wegweiser im Bett. Er war ganz Ohr.

»Denken Sie, wenn wir zwei hier der langstieligen Gesellschaft die Zähne zeigen! Sie dürfen nur nicht so zimperlich sein wie bisher, Herr Geheimrat! Mit Ihrer ewigen Rücksichtnahme auf alle Welt ist's vorbei! Treten wir schon in Gottes Namen den Leuten feste auf die Hühneraugen! Schreien tun sie doch!«

Der Patient wiegte andächtig den Graukopf in sinnender Begeisterung.

»... Reinreden lassen wir uns von keinem! Die Mehrheit der Aktien haben Sie! Generaldirektor werde ich! Die Generalversammlung hat nicht zu mucken. Mit Ihrer bisherigen Leisetreterei muß es da ein Ende haben, Herr Geheimrat!«

Ein befriedigtes Kichern drüben.

» Go on! Das steckt hier ja noch alles in den Kinderschuhen: Reklame. Propaganda, Organisation. In Amerika, und hier in Mannheim und Stuttgart auch, machen sie jetzt Versuche mit neumodischen Kraftwagen, die von selber laufen. Mit so einer Straßenlokomotive sausen wir an den Postkutschen vorbei und schmeißen, was nicht ausweicht, in den Graben!«

Ein mildes Leuchten verklärte still August Buschbecks Gesicht. Er hatte feuchte Geisteraugen der Ergriffenheit.

»Warum das Drängeln um das bißchen Geschäft im Inland allein? Wir krempeln die Ärmel auf und gehen hinaus in die Welt!«

Leo Nimis sprang in seiner blonden Länge empor. Er stieß den Stuhl hinter sich, daß er torkelte. Seine Augen lachten, der Mund blieb angelsächsisch kühl. Es wetterleuchtete um ihn von Wagelust und Willen.

»Ich bringe Ihnen den Weltmarkt, Herr Geheimrat! Ich bringe Ihnen China! Ich bringe Ihnen das nordamerikanische Geschäft! Ich bringe Ihnen Argentinien! Ich kenne jede Schiffslinie und jeden Hafen und jede Firma auf der Erde, mit der mir Geschäfte machen können! In fünf Jahren kennen sie uns überall! Dafür steh ich Ihnen! Da weiß jeder, wer August Buschbeck in Lütthahn ist! Nur keine falsche Scheu! Wozu hat uns der liebe Gott die Ellbogen gegeben?«

»Ja, wozu?« rief der alte Herr in weinerlicher Begeisterung.

»Wir sind durch Schutzzölle gedeckt. Die Engländer nicht. Da müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht auch an die große Futterkrippe rankämen! Wenn sie einen von früher kennen, wie mich, gönnen sie einem da auch 'nen Platz! Ich bin rund um den Äquator als ein smarter Kerl bekannt. Ich führe die Lütthahnwerke auf der Welt ein!«

»Wollen Sie mir nicht die Hand geben?« sprach August Buschbeck schüchtern, und nachdem er sie ergriffen und leidvoll gestreichelt, legte er sich aufatmend zurück und versetzte im Selbstgespräch, mit einem Blick zu seinem Schöpfer oben: »Ich habe nicht gedacht, daß ich noch einmal im Leben einen so vernünftigen Menschen treffen würde!«

Leo Nimis setzte sich wieder, rittlings, die Pfeife im Mund, die Hände in den Taschen.

»Aber eine Bedingung ist unerläßlich, Herr Geheimrat!«

»Reden Sie, Kind!«

»Kein General kann in die Schlacht gehen, wenn er seine Regimenter nicht durch dick und dünn hinter sich hat! Sie müssen sich jetzt vor allem mit Ihren Arbeitern vertragen!«

Der Alte schnitt eine verzweifelte Grimasse und stöhnte aus tiefster Brust.

»Und zwar heute nacht noch! Sonst nehm ich meinen Hut und gehe!«

»Dann gehen Sie!«

»Schön!«

Leo Nimis stand auf und schritt, auf seine Uhr sehend, eilig wie ein Mann, der sich schon verspätet hat, nach der Tür. Ein Wehklagen hinter ihm: »Nimis! Sie bluffen!«

»I wo!«

»Nimis! Rennen Sie doch nicht so!«

Leo Nimis hielt die Klinke in der Hand. Er stand da, in eisiger Entschlossenheit. Der alte Herr im Bett fröstelte.

»Nimis ... Seien Sie doch nicht gleich so ...«

»Was wünschen Sie noch, Herr Geheimrat Buschdeck?«

»Ich? Ich bin ja kaltgestellt. Ich bin ja abgesetzt. Ich liege ja hier beim Alteisen. Mein Sohn: Was wollen denn die Leute da unten von mir?«

»Sie kennen ja die Forderungen. Die Forderungen sind so weit ganz vernünftig. Sie können sie ruhig unterschreiben. Sie werden sie unterschreiben. Sie müssen sie unterschreiben. Sonst lasse ich hier alles stehen und liegen. Ich brauche niemand nachzulaufen!«

»Ich den Leuten auch nicht!«

»Verlangt auch kein Mensch! Mein Vetter Robert kommt in einer halben Stunde zu Ihnen, um den Präliminarfrieden abzuschließen.«

Der Alte schaute wieder rachsüchtig auf und duckte sich.

»Er wartet nur auf meinen Wink. Ich habe mir erlaubt. Ihre angespannte Equipage im Hof warten zu lassen. Soll sie ihn holen?«

»Wozu fragen Sie mich noch, mein Lieber? Ich bin ja nur noch eine Vogelscheuche. Es geschieht hier im Hause ja doch, was Sie wollen!«

Leo Nimis ging hinaus, gab einen kurzen Befehl und setzte sich, zurückkehrend, wieder an das Bett.

»Sie sind ein großer Mann, Herr Geheimrat! Sie sind Ihrer Zeit weit voraus! Nur nimmt jetzt die Zeit eben von Ihnen ihren Zoll. Warum soll man's nicht eingestehen. Es ist doch keine Schande, in den Sechzigern zu sein. Allein können Sie's nicht mehr machen ...«

»Nee – nee ... weiß ich ...«

»... und selbst, wenn Sie's noch ein paar Jahre trieben, ständen dann die Lütthahnwerke, das Werk Ihres Lebens, erst recht verwaist da. Und Ihre Lütthahnwerke lieben Sie doch mehr als sich selber. Sie wollen sie doch in guten Händen wissen ...«

»Ach ja ...«, sprach August Buschbeck leise und zärtlich.

»Also um mich kommen Sie da nicht herum. Darauf müssen Sie sich gefaßt machen.«

Ein schiefer Blick von unten prüfte ihn aus dem Bett. Ein Hüsteln vor der Entscheidung.

»Na ... und Ihre Bedingungen?«

»Meine Bedingungen sind sehr hoch, Herr Geheimrat!«

»Lassen Sie hören! Lassen Sie hören!«

»... und ein bequemer Mitarbeiter bin ich auch nicht. Das sage ich Ihnen gleich. Ich denke nicht daran, bei Ihnen ein solcher Schlangenmensch zu werden wie etwa Ihr Dr. Rödicke ...«

»Pah ... Der Rödicke und Sie ...«

»Dr. Rödicke hat Ihnen gekündigt. Jeder wird Ihnen kündigen. Keiner hält es mit Ihnen auf die Dauer aus, der nicht muß. Sie brauchen einen lebenslänglichen Mitarbeiter, der nicht wieder weg kann, nachdem er einmal ja gesagt hat, und Sie natürlich vor allem auch ...«

»Vorwärts!« drängte der Alte beinahe geschäftsmäßig.

»... und darum schickte ich voraus, daß die Voraussetzung meiner Mitarbeit über jedes gewohnte Maß hinausgeht! Herr Geheimrat: Ich habe mich vorhin mit Ihrem Fräulein Tochter verlobt und bitte um Ihren Segen ...«

Die Equipage, die die drei Männer in dunklen Sonntagsanzügen aus der Stadt geholt hatte, rollte wieder dorthin zurück. Robert Nimis, der Volksmann, saß darin und die beiden Vorsitzenden des Siebener Ausschusses, Mappen auf den Knien und in den Mappen den Frieden von Lütthahn. Alles war in Ordnung. Von morgen ab rauchten wieder die Schlote und glühte der Stahl.

Robert Nimis reichte noch im Wegfahren seinem Vetter Leo die Hand aus dem Kutschenschlag.

»Also diesmal hast du die Ruh ins Land gebracht, Leoche! Jetzt halt dich norr tapfer widder den starten August! Halt dich auf unserer Seit! Geschenkt wird dir von uns nix! Wir verlangen von dir unser Recht ...«

Leo Nimis trat in den großen Saal zu seiner Braut, Dort stand Graf Mettenberg, sein künftiger Gegenschwager.

»Für diese Leute, wie der, der eben wegfuhr, bist du sehr warm eingetreten!« versetzte er. »Aber für unsere christlichen Bergarbeiter verlange ich im Namen der Kirche künftig dieselbe Rücksicht von dir!«

»... aber ohne, daß die Autorität des preußischen Staates darunter leidet!« ergänzte der in später Abendstunde noch einmal vorgefahrene Landrat Dr. von dem Steineck. »Nur nicht die Zügel schleifen lassen! Darum möchte ich im Staatsinteresse dringendst bitten, Herr Nimis!«

»Na – und schließlich sind wir doch auch noch da!« meinte lässig aus dem Hintergrund Max Buschbeck, der Sohn und Erbe von Lütthahn. »Das Werk gehört doch vor allem uns! Der Familie. Zum Glück ist das Eigentum noch gesetzlich geschützt!«

Aus seinen Worten klang der Geist des kranken Selbstherrschers von Lütthahn nebenan: »Ich liege und besitze!«, wie aus der Warnung des Vetters Robert bei der Abfahrt der Massenschritt der Arbeiterbataillone: »Alle Räder stehen still!« und aus der Mahnung des Grafen Mettenberg: »Alle Wege führen nach Rom!« und aus dem strengen Wink des Landrats von dem Steineck: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!«

Die feindlichen Geister, die, überall wach geworden, sich um Deutschlands Seele stritten: Besitz und Arbeit und Staat und Kirche, standen in dieser Abendstunde in Lütthahn von allen Seiten um Leo Nimis und drängten und drohten und forderten jeder von ihm seinen Teil für die Zukunft. Und es war ihm, als zittere unter seinen Füßen ein unaufhörliches schweres Erdbeben durch Deutschlands Boden und vergrolle in seinen letzten Ausläufern hier oben in dem weißen Haus. Fremde Stimmen flüsterten ihm rechts und links ins Ohr: »Geh mit mir!« Unsichtbare Hände zupften ihn rechts und links am Ärmel: »Nein: Komm hierher!«, Arme suchten ihn von hinten zu schieben: »Vorwärts: Dahin mußt du!« Vorn winkte ein Zeigefinger: »Nicht doch! Hier ist Deutschlands Weg!« Um ihn tanzte der Hexenreigen ewigen blinden deutschen Widerspruchs zu sich selber, und fern, ganz fern vernahm er den Kanonendonner von Kronstadt und das Grollen der feindlichen Außenwelt, und es war ihm, als sei er inmitten einer hadernden Schiffsmannschaft bei windgeschwellten Segeln zwischen Klippen auf stürmendem Meer, und jeder stritt mit dem andern, wohin die Fahrt eigentlich gehen sollte.

Er stand mit Ottonie, sie umfangen haltend, auf der Terrasse vor dem Hause. Die Sommernacht war dunkel und warm. Die Sterne leuchteten klarer als sonst, da der Fabrikrauch aus der Tiefe sie nicht trübte.

»Man kann nicht mehr tun, als arbeiten, wie man's versteht!« sagte er. »Arbeiten will ich und den andern ein gutes Beispiel geben! Ich komme aus dem Ausland. Ich weiß daß Uneinigkeit auf die Dauer unser Tod ist! Wir beide wenigstens wollen einig sein und einig durch das Leben gehen ... Du und ich ...«


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