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15.

Waldemar Kerkhuß stand, die Kugelflinte in der Faust, in kurzer Pelzjoppe und Wasserstiefeln, so wie er sonst das Elchwild in den Sümpfen Esthlands jagte, an der im weißen Schnee schwarzrot gefrorenen Blutlache vor der Kerreküllschen Oberförsterei. Eine Handvoll bewaffnete Männer um ihn, Beamte, Halbdeutsche, ein paar esthnische Besitzer. Vor ihm, auf der aus den Angeln geschmetterten Tür streckte sich die Leiche des Oberförsters, eines großen, kräftigen Mannes, das Schußloch gleich einem blaugeschwollenen Hornissenstich mitten in der Stirne, zwischen beiden Augen. Die Treppe war mit den Federflocken zerschnittener Betten überschneit, in dem wie von einem Erdbeben durcheinandergeschüttelten Wohnzimmer klaffte das Roßhaar in den zerschnittenen Kanapees. Ein totes Schwein lag in Frack und Zylinder unter der Steppdecke im Bett des Schlafgemachs, die zusammengerollten Teppiche, das Innere des Klaviers, die Kochtöpfe, alles starrte von Menschenkot. Aber kein Mensch war da außer dem alten Hauskerl, der sich zähneklappernd in der Ecke duckte.

»Wann geschah es?«

»Heute nacht um vier, Baron-Herr! Da klingelte es. Der Herr öffnet das Haustor. Es fällt ein Schuß. Er stürzt tot hintenüber. Die Räuber drangen ein. Sie plünderten alles!«

»Wo sind die Hausbewohner?«

»Sie haben alles mit sich weggeschleppt. Sie sind gegen Wergel gezogen. Man sieht den Rauch über dem Walde!«

Durch die Weite klangen von fern, gleich dumpfen Axtschlägen im Forst, unregelmäßige Schüsse.

»Das ist der Kuistefersche Baron! Er hat sich mit seinen Leuten verschanzt. Sie feuern aus dem Fenster!«

»Speerreuter hat keine Familie. Er kann sein Leben teuer verkaufen!« sagte Waldemar Kerkhuß und verstummte. Im Pfeifen des Windes durch die kalte, klare Winterluft wehten über die Wälder her ununterbrochene, eilige Glockenschläge.

»St. Jochens läutet seit heute früh um Hilfe! Pastor Magnus hat sich mit vielen Deutschen in der Kirche eingeschlossen!«

»Es brennt, Baron Kerkhuß! Es brennt drüben in der Alt-Sötthaster Gegend! Dicke schwarze Wolken steigen.«

»Wann kommen die Deutschen, Baron-Herr? Barmherziger Gott – wann kommen die Deutschen?!«

»Sie werden noch kommen!« sagte Waldemar Kerkhuß zwischen den Zähnen. »Fürchtet euch nicht! Sie werden schon noch kommen!«

»Wenn es zu spät ist ...«

Ein Schlitten jagte heran. Drei Gäule galoppierten in Rauch gehüllt nebeneinander unter dem klingelnden Krummholz. Der Arrendator von Riese stand aufrecht im Innern, rechts und links spähend, die Flinte schußbereit in der Hand. Sein Gesicht war verstört.

»Jräßliches jeschah drüben in Feltenhusen. Sie drangen in die Stadt. Sie haben den alten Pastor und seine Frau, den Apotheker, den Lehrer auf das fürchterlichste ermordet! Alles, was Deutsch spricht, davonjeschleppt – Gott weiß wohin!«

Waldemar Kerkhuß trat, die entsicherte Büchse auf dem rechten Unterarm, entschlossen in den tiefen Schnee.

»Kommen Sie mit hinüber nach Kerreküll, Riese! Wir müssen versuchen, die Meinigen und was sich sonst in das Schloß jeflüchtet hat, in Sicherheit zu bringen. Längs des Glints ist der Weg noch frei...«

»Nach Reval? Dort haben sie alle Deutschen im Elevator am Hafen einjesperrt! Sie erwarten stündlich den Tod!«

»In die Wälder kann man nicht fliehen wie bei dem jroßen Aufstand vor zwölf Jahren! Damals war es Sommer! Jetzt aber erfriert man in der ersten Nacht!«

»Es jibt keine Rettung mehr für uns...«

»Wann kommen die deutschen Truppen...?«

»Sie werden kommen!« sagte Waldemar Kerkhuß wieder. »Ich weiß es: sie sind unterwegs. Sie werden plötzlich da sein, ehe wir...«

Zwischen den hohen Fichtenstämmen vor ihnen lief in der Ferne ein Mann. Er lief, was er konnte, und sah sich dabei nach hinten um. Von dort krachten Schüsse. Der Mann überschlug sich, wälzte sich am Boden hin und her, lag still...

»Da sind die Mörder!«

Auf der langen, schnurgeraden Waldschneise tauchten ein Dutzend wilder Gestalten auf. Abgerissene Kerle, die kostbaren Biberpelze geplünderter Herrenhäuser über Bauernkittel und rotem Hemd, reiche Astrachanmützen auf den rohen Köpfen, die noch rauchenden Dreiliniengewehre in der Hand. Als sie die Überzahl der Deutschen vor sich sahen, verschwanden sie nach kurzem Besinnen seitwärts über die Haide. Zwei, drei junge Frauenzimmer mit kurzgeschnittenem Haar kletterten mit ihnen flüchtend über die Steinmauer des Viehzauns am Weg.

»Das sind die russischen Volksschullehrerinnen!« sagte der Arrendator von Riese. »Überall sind diese Weiber dabei! Es sind die schlimmsten von allen!«

Sie näherten sich dem stillen Mann auf dem unter den Fichtenzweigen nur schwach beschneiten Moosboden. Der Gutspächter kniete neben ihm nieder und schüttelte den Kopf:

»Tot! So machten es die Schurken auch bei mir in Kuil. Sie führten meinen deutschen Gärtner und den deutschen Schweizer in den Wald, ließen sie dort laufen und schossen sie dann von hinten wie die Hasen nieder!«

Waldemar Kerkhuß hatte dem Toten das Blut aus dem Antlitz gewischt.

»Es ist mein Oberinspektor Bülger aus Arromar!« sagte er. »Er hielt es halb mit den Russen! Russenhand jab ihm den Tod wie meinem Vetter Herzerode! Wehe jedem, der zwischen die Mühlsteine dieser Weltenwende jerät! Wir müssen ihn aufnehmen und hinüber nach Kerreküll tragen!«

Noch stand der ragende, mittelalterliche Schloßklotz der Kerreküllschen Barone unberührt hinter seinem von der Brücke überspannten Wassergürtel von tiefen Gräben. Aber dies Wasser war jetzt gefroren. Überall konnte man sich von draußen auf das Eis hinablassen und auf der anderen Seite zu den Fenstern des Erdgeschosses hinaufklettern.

Vor der Brücke hielten Schlitten. Silberzeug wurde aufgeladen. Schinken – Zuckerhüte. Säcke mit Mehl. Die alte Baronin und die anderen Damen saßen, bis zur Unkenntlichkeit in Pelze vermummt und in Decken gewickelt, ohne sich zu rühren, kaum mehr zu atmen wagend. Robin und Axel Kerkhuß, die jüngeren Brüder des Schloßherrn, leiteten die Abfahrt der Schlittenreihe.

»Könnt ihr denn durch?«

»Durch Gottes Jnade – ja! Es ist ein stiller Tag und draußen nur lose Eisschollen auf der See!«

»Dein Rat, Waldemar, ist der beste!« sagte Robin, der ehemalige Petersburger Gardekavallerist. »Wir schieben Boote über das Eis am Strand, so weit es geht, und rudern dann durch das offene Wasser hinüber ...«

Und Dr. Frälsemann, der Arzt des Kirchspiels, der sich und seine Familie auch hierher gerettet hatte, ergänzte, nach Norden blickend, wo sich düster die Kirchenruine von St. Annen, möwenumschwärmt, an der baltischen Küste erhob:

»Drüben auf Steenholm sind wir vorläufig in Sicherheit! So bald kommen sie noch nicht auf die Insel hinüber!«

»Aber wenn sie kommen ...«

»Dann sind wir dort erst recht verloren ...«

»Die Deutschen ... Vater unser im Himmel ... schick' uns die Deutschen!«

»Haben die Deutschen uns denn janz verjessen ...«

»Die Deutschen kommen!« sagte Waldemar Kerkhuß abermals. »Ich habe es jehört! Das Jerücht fliegt ihnen voraus, obwohl sie selber fliegen! Sie jagen auf Schlitten die Poststraßen entlang, janze Regimenter! Sie machen hundert Werst im Tag und mehr! Der Kaiser schickt uns seine eigene Jarde du Corps! Seid nur getrost!«

Aber seine Miene blieb düster und gespannt, während er den Abzug der Flüchtlinge leitete. Er schaute zuweilen an dem massigen Eckturm von Kerreküll empor, als wollte er sich das Bild des Hauses seiner Väter noch einmal einprägen, ehe es vielleicht in den nächsten Stunden schon zu kahlen Mauern, ausgebrannten Fensterhöhlen und verkohltem Gebälk wurde, und sah dann wieder auf die Uhr und horchte. Noch war nichts zu hören, als ferne ab und zu das Sturmläuten von St. Jochens. Ein bitterer Rauchgeruch war von irgendwoher in der Luft. Es mußten schon esthnische Gesinde in der Nähe brennen. Er beschleunigte die Abfahrt. Ein Schlitten nach dem anderen glitt davon zum nahen Strand, wo, zwischen den übereinandergetürmten Eisschollen, die Fischer von Steenholm, kleine, stämmige Männer von schwedischem Blut, mit ihrem deutschen Pastor warteten, um die Sachen und die alte Baronin über das krachende, oft schuhhoch vom Meerwasser überschwemmte Eis hinweg zu den Booten draußen zu tragen. Schließlich stand der letzte Schlitten bereit. Robin Kerkhuß kniete mit dem Gesicht nach hinten und mit der Pistole in der Hand den Rückzug deckend auf dem Bärenfell des Sitzes und sagte ungeduldig:

»Nun was denn, Waldemar? ... Möchtest du hier warten, bis uns das Jesindel im Jenick sitzt? Beliebe einzusteijen!«

»Ich bleibe hier!«

»Wie das?«

Waldemar Kerkhuß drehte sich beinahe erzürnt um.

»Habe ich denn nur für euch zu sorjen? Ihr seid nun bald jeborgen. Jetzt muß ich noch andere Jeschöpfe Gottes in Sicherheit bringen!«

Als das letzte Prusten und Schnauben der davonjagenden Schlittenpferde verklungen war und Schloß Kerreküll in starrer, feierlicher Öde und Stille, eine verlassene deutsche Insel, mit seinen Ahnenbildern und Kunstschätzen, Bücherschränken und dem mächtigen Stammbaum in der Halle, der Mordbrenner harrend dalag, rief Waldemar Kerkhuß unten im Hof vor den offenen und leeren Pferdeställen mit lauter Stimme: »Mitsa!« Sofort kam die kleine, langschweifige Rappstute, die da immer frei herumlief, gehorsam wie ein Hund herangetrappelt und sah ihn zutraulich mit ihren glänzenden Augen an. Er legte dem freien, nicht durch ewiges Stalldunkel verängstigten Tier den Sattel auf und ritt davon, nach seiner Weise: nur den linken Fuß im Bügel, das steife rechte Bein frei herabhängend. Er konnte so nur Galopp reiten, aber um so rascher ging es durch den hereinbrechenden Winterabend auf der verschneiten Waldstraße vorwärts, in langen Sprüngen, kein Mensch in Sicht, nur einmal ein umgestürzter, von Plünderern durchwühlter Schlitten mit deutschem Hausrat am Weg. Dann bog er seitwärts, im Schritt den morastigen Pfad entlang, sich unter den weißbelasteten, tief herniederhängenden Fichtenzweigen im Sattel duckend, bis zu dem weltverlorenen Haus Nois im esthnischen Moor.

Der uralte, windschiefe, niedere deutsche Herrensitz der vier armen Fräulein von Saxeson lag noch unberührt wie im Frieden. Aber im Heranreiten unterschied Waldemar Kerkhuß' Auge doch im dämmernden Schnee Fußspuren, die ihm nicht gefielen. Es waren nur einzelne. Aber sie liefen im Bogen, durch Erlenbusch und Binsenbruch rings um das Haus, so als hätten die ersten spähenden hungerigen Wölfe in Menschengestalt es umschlichen. Er warf absteigend seiner Mitsa den eigenen Mantel über den Rücken, ließ sie frei stehen und klopfte an das Tor.

»Karin!«

»Oh – Waldemar! Bist du jekommen!«

Karin von Saxeson sperrte auf. Ihr frischer, vollwangiger blonder Kopf erschien ihm, in Nacht und Wintergrimm und Brand und Mord umher, wie ein Gruß und Sinnbild unzerstörbaren deutschen Wesens in diesem Lande. Ihre trotz der Sommersprossen klaren, blauäugigen Züge waren kaum blasser als sonst.

»Karin: wo sind die Schwestern?«

»Drüben in Laart!«

»Da ist doch keine Hilfe!«

»Der alte Awesand hat seine Familie und seinen janzen Hausstand und alle Herrnhuter aus den Jesinden um sich jeschart. Sie sitzen beisammen und singen jeistliche Lieder und beten ...«

»Warum bist du nicht mit?«

»Es war doch nur für fünf im Schlitten Platz: die Schwestern und die Muhme und die Dadja, die alte Amme!«

»Und was machst du noch in Nois? Ich hörte schon in Kerreküll, daß du allein noch hier wärest ...«

»Ich krame nur eben noch ein bißchen auf, bis der Schlitten wiederkommt. Dann fahre ich auch hinterher. Ich finde mich in der Dunkelheit sicherer hin!«

Waldemar Kerkhuß setzte sich und sah Karin von Saxeson eine Weile zu, wie sie, am Boden kniend, im letzten, düster durch die kleinen Fenster grauenden Abendlicht eine geöffnete Diele wieder zuhämmerte, die die letzten bescheidenen Schätze des aussterbenden Geschlechtes barg, und ihre Ritzen mit vorsorglich zusammengefegtem Staub ausfüllte.

»Du hast viel mehr Mut, als dir gut ist, Karin!«

Sie hob den von wirren, blonden Strähnen umspielten, nicht mehr ganz jungen, aber frischen und gesunden Kopf. Sie verstand ihn nicht recht.

»Der silberne Schwedenbecher, Waldemar! Ein Jeschenk der Stockholmer Stände aus dem sechzehnten Jahrhundert! Es wäre doch schade!«

»Um uns beide wäre es noch mehr schade! ... Zieh' deinen Pelz an und komm sofort mit!«

»Zu den Awesandschen?«

»Laß du die Awesandschen beten! Ich bin mehr dafür, sich zu wehren! Ich habe einen Fischer an die Ruine von St. Annen bestellt. Er hat den Aussatz, aber er ist sonst noch ein fixer Kerl! Er bringt uns zur Not auch noch nachts hinüber nach Steenholm. Mache dich fertig! Ich spanne inzwischen Mitsa vor einen Schlitten ... Was ist denn das?«

Es dröhnte auf dem Backsteinpflaster des niederen, halbdunklen Raums, der in dem alten esthländischen Landhaus zugleich Küche, Halle und Wohnzimmer war. Ein großer, schwarzer Schatten hob sich im Zwielicht von der Tür ab. Mitsa war hereingekommen. Mit gespitzten Ohren, das Weiße in den Augen zeigend, stand sie leise zitternd da, als wollte sie ihren Herrn warnen. Waldemar Kerkhuß sprang auf, stürzte, das steife Bein nach sich ziehend, zum Tor und schloß es ab.

»Es sind Kerle draußen!« sagte er halblaut. »Da ... da stehn sie im Schnee und wissen nicht recht Bescheid, ob noch jemand im Hause ist oder nicht. Ich werde es ihnen zeigen!«

Er streifte die umgehängte Büchse von der Schulter, zielte und feuerte durch das Fenster einen Schuß. Der Raum füllte sich mit Pulverqualm, der träge durch den nach unten offenen, über dem Herdfeuer gewölbten Kamin abzog.

»Es sind nur drei. Jetroffen habe ich sie nicht. Aber sie haben jenug. Sie ziehn sich nach dem Walde.«

In der schwarzen Fichtennacht drüben zuckte ein roter Blitz. Man hörte das Singen der Kugel nicht, nur nach einer Sekunde den kurzen Knall. Dann war alles still. Auch Mitsa hatte sich beruhigt. Sie legte sich, gesattelt wie sie war, friedlich auf den Ziegelboden nieder und streckte alle viere von sich.

»Wir sind jetzt hier einjesperrt!« sagte Waldemar Kerkhuß, eine neue Patrone in den Lauf schiebend.

»Können wir nicht hinten, durch das Stalltor, fort?«

»Es ist zu jefährlich jetzt in der Dunkelheit! Es sind ja nur ein paar Kerle draußen! Wahrscheinlich Leute von euch. Aber wir sehen sie nicht, und sie hören uns, wenn wir das Tor aufmachen, und schießen in die Richtung, von der das Jeräusch kommt!«

»Da müssen wir hier sitzen ...«

»... bis es hell wird! Zum Jlück liegt euer Haus im freien Moor. Man schaut weithin. Wenn wir die Waldecke drüben im Auge behalten, jaloppieren wir im Schlitten unjefährdet heraus!«

Seine Sorge, was dann werden sollte, verschwieg er. Denn er merkte: sie war nun doch sehr bleich geworden.

»Du weißt nicht, was in diesen Tagen schon alles jeschah! Sonst wärst du nicht hier zurückjeblieben!« sagte er, legte das linke Bein über das rechte Knie, die Büchse schußfertig darauf und drehte sich eine Zigarette. »Ich werde diese Nacht nun hier sitzen wie ein Posten vor Jewehr, damit dir nichts passiert!«

»Soll ich Tee kochen?«

»Ja. Jib Tee!«

Das Herdfeuer flackerte. Es war das einzige Licht in dem einsamen Hause Nois. Es warf seinen zitternden Schein über die beiden wachenden Menschen und das unruhig am Boden schlafende Pferd, das mit der Wärme seines großen Körpers den Raum heizte. Man hörte, außer seinem träumenden Schnauben, keinen Laut. Bleiern schwer, undurchdringlich schwarz, unheimlich schweigend brütete draußen die Winternacht ...

»So wie diese Nacht ist jetzt unser Leben, Karin!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Wir hatten es uns anders jedacht. Wir waren Kinder des Jlücks. Ein bevorzugtes menschliches Jeschlecht. So wuchsen wir auf. Jetzt ist auf einmal alles unjewiß. Voll Jefahr und Not. Gottes Wege wurden dunkel. Für alle Menschen. Der Weltunterjang ist um uns ...«

Karin von Saxeson erwiderte nichts. Sie saß dicht neben ihm und hörte ihm zu.

»Es ist wie in unseren weißen Nächten, Karin, wenn man Sonnenunterjang und Sonnenaufjang zugleich am Himmel sieht. Wenn die Sonne blutigrot im Westen unterjeht, jeht sie klar im Osten wieder auf. Wenn die Welt unterjeht, wird sie zujleich auch wieder neu erstehn!«

Sie ging zu dem Kessel über dem Feuer, holte neues Teewasser und goß auf. Waldemar Kerkhuß horchte, ob sich draußen etwas rege. Dann fuhr er fort:

»In diese Welt müssen wir den Weg jewinnen, wenn, uns Gott das Leben läßt! Da, wo wir hier sitzen, Karin, da haben vor siebenhundert Jahren schon meine Vorfahren mit den Heiden jefochten und deutsche Art in neuen Boden jepflanzt. Sieben Jahrhunderte deutsches Wesen bringen wir den Deutschen, wenn uns die Deutschen noch in letzter Stunde retten. Wir haben nichts zu verjessen. Unsere Verjangenheit ist unser Ehrenschild und ebenso der Ehrenschild derer, die kein Wappen im Lande haben. Die andern Balten sind ja viel zahlreicher als wir von der Ritterschaft ... Hörtest du nichts?«

»Nein doch, Waldemar! Das sind nur die Ratten im Stall ...«

»Zu versessen haben wir nichts, aber hinzuzulernen, Karin! Wir müssen lernen, den Weg zu jehn, der aus dem Weltuntergang in die neue Welt führt! ... Dieser Krieg hat es mich neu jelehrt. Ich habe diesen Krieg von Anbejinn an in allen seinen Weiten und Tiefen, hüben und drüben, bei Freund und Feind, in mir im Jeiste und außer mir in der Wirklichkeit jeschaut. Wenige haben den Krieg in diesen vier Jahren so durchjelebt wie ich. Nun führt er mich zu dem zurück, wovon ich ausjing und was ich immer war: zu der Jesinnung, die ich schon von Kindesbeinen an in mir fühlte, an die Orte hier zurück, wo ich schon als Kind spielte, zu dir zurück, die wir uns schon als Kinder kannten ... Weißt du noch, wie ich dir hier hinter dem Hause in der Fliederlaube das Küssen beijebracht habe?«

»Ach – damals war ich Fünfzehn und du ein dummer Junge in Gymnasiastenuniform!« sagte Karin.

»Nun – ich küßte dich auch, wenn ich als Dorpater Student heimkam!«

»Aber ja ... wir waren doch Vetter und Base! Sojar der Alte Awesandsche fand nichts daran!«

Karin von Saxeson stand hastig auf und ging wieder zu dem Wasserkessel. Die Flackerglut übergoß von unten her ihr gebeugtes Gesicht, dessen blasse Wangen plötzlich rot geworden waren.

Waldemar Kerkhuß sah ihr schweigend zu, trat dann zu ihr, schlang seinen Arm um sie und küßte sie lange und innig. Dann sagte er:

»Warum haben wir uns nicht schon längst geheiratet, Karin?«

Sie antwortete nicht und schaute nicht auf. Sie stand, an seine Brust gelehnt, mit geschlossenen Augen.

Er fuhr fort:

»Es liegt an mir! Du warst jeduldig und jut. Aber ich suchte draußen, was nur die Heimat jibt! Du bist mir die Heimat. Wenn ich an sie denke, seh' ich dich. In dir schütze ich sie in dieser Stunde ... halt ... Wer arbeitet da draußen an dem Tor?«

Er rief es auf esthnisch. Ein dumpfes Scharren und Feilen klang durch das dicke Holz. Dann eine tiefe, drohende Männerstimme:

»Macht auf ...«

»Und ihr draußen ... habt ihr schon lange genug gelebt, Brüder, daß ihr hier hereinwollt?«

Ein rohes Lachen aus der Nacht.

»Wer ist wohl zur Hilfe bei euch im Hause, ihr Sachsen? Der Teufel?«

»So was der Art!«

»Wer ist's?«

»Der Kerreküllsche Baron erwartet euch!«

Waldemar Kerkhuß rief es mit Donnerstimme. Seine blauen Augen flammten. Er hielt die Büchse in der Hand bereit. Er wiederholte, da es außen plötzlich still wurde:

»Habt ihr's gehört: der Kerreküllsche Baron ist hier drinnen!«

Aber es kam keine Antwort. Der unheimliche Name hatte seine Wirkung getan. Man ahnte in dem tiefen Schweigen der Nacht draußen das abergläubische Davonschleichen der Esthen. Waldemar Kerkhuß lachte grimmig, warf den Kopf nach hinten, daß die blonde Mähne flog, und sagte zu Karin, die in stummer Angst vor dem Herd auf die Knie gesunken war:

»Zum Jlück jlauben die Kerle hier im janzen Lande, ich sei mit dem Teufel im Bund, weil ich den Russen immer wieder entjing! Ich denke, sie kommen diese Nacht nicht wieder, bis es hell wird!«

Zögernd, schwer, in einer drückenden Totenstille, als hielte die ganze Welt gleich einem lauernden Menschen den Atem an, dämmerte der Wintermorgen über der Haide von Nois. Das ferne Läuten von St. Jochens war schon seit dem Abend verstummt, seit vielen Stunden hatte der Wind nicht mehr den dumpfen Schall von Schüssen über den Wald getragen. Waldemar Kerkhuß spähte über dessen kahles Geäst nach der Richtung, in der Kerreküll lag. Da ballte sich keine schwarze Rauchwolke am Himmel. Das Schloß stand noch. Auch sonst war ringsum von Bränden nichts zu sehen.

Er hatte Mitsa vor einen niederen Reiseschlitten gespannt, Karin in den hineingesetzt und geleitete das fromme Tier am Zügel, das Gewehr in der anderen Hand, vorsichtig durch das geöffnete Hoftor ins Freie und schaute dort scharf, mit geübtem Jägerauge, in die weite, wüste Leere.

»Wir müssen immer im offenen Felde bleiben!« sagte er. »Der Jaul läuft jeschwind wie ein Hase. Die Kerle sind alle zu Fuß. Sehen wir welche, so können wir immer noch einen Haken um sie schlagen. Der Schnee trägt uns überall. Schließlich kommt man doch nach Steenholm!«

Kein verräterisches Glöckchenklingen verkündete das lautlose Gleiten des leichten Gefährts über die weiße Fläche. Waldemar Kerkhuß hatte das Schellengeläut vom Geschirr der Rappstute abgenommen. Sie war gewohnt, an der Deichsel zu traben. Sie warf die Vorderbeine mit einem Schwung aus den Schultern, der edles Orloffblut in ihren Adern verriet. Schnee und Zaun, Hecken und winterlich offene Viehgatter zogen vorbei. Dann kam das letzte Waldstück, hart an der Landstraße.

Mißtrauisch es musternd, fuhr Waldemar Kerkhuß daran vorbei. Es drohte hier keine Gefahr. Man hätte zwischen den einzelnen hohen Bäumen jeden Menschen sehen müssen. Trotzdem schnellte er plötzlich auf und gebot der Russenstute mit einem »Stoy!« Halt. Es war doch ein Mensch da, nur nicht auf der Erde, sondern zwischen Himmel und Erde. Er schaukelte, das gedunsene Antlitz unter den weißblonden Haarsträhnen bläulich gefärbt, in einem sonderbaren, pedantisch abgemessenen Bogen, so wie der Wind ihn trieb, in der freien Luft im Kreise. Der Ast, an dem der Strick hing, knarrte dazu im Takt, indem er sich an der Nachbarfichte scheuerte.

Karin hatte den Kopf gegen die Knie gebeugt und hielt die Hände vor die Augen. Sie hörte die erfreute Stimme ihres Gefährten:

»Hier hat jemand anjefangen, Ordnung zu schaffen! Ausjezeichnet! Das jibt mir jeradezu eine neue Hoffnung, Karin!«

Er erteilte dem Gaul mit einem Zungenschlag die Erlaubnis zum Weiterlaufen. Kaum war der Schlitten auf der Landstraße, so flogen plötzlich die Kufen wie auf einem glatten Spiegel dahin.

»Karin ... großer Gott ... siehst du das: kein Schnee auf dem Weg! Die janze Bahn zusammenjefahren und vereist! Es müssen Hunderte von Menschen heute nacht hier durchjekommen sein!«

»In welcher Richtung?«

»Da sieht man ja die Eindrücke von Eisstollen an den Hufen! Alles nach Reval zu! Im Jalopp! Man merkt es an den Zwischenräumen der Spuren im Schnee ...«

»Waldemar! ... Sind das ...?«

»Sage noch nicht, daß es die Deutschen sind! Berufe es nicht! Nur hinterher! Aber mit Vorsicht ... Vorsicht ... Aber was denn: wir brauchen ja keine Vorsicht mehr!«

Er wies in sausender Fahrt, nut einem grimmig lachenden Aufblitzen der blauen Augen, nach den Bäumen rechts und links. Zwei Gestalten zeichneten sich da, langgestreckt und dunkel, von der klaren Winterluft ab. Sie hingen ganz still. In dieser Buschecke war kein Wind.

»Wahrscheinlich die Kerle, die uns heute nacht bejrüßen wollten! Sie liefen den Deutschen jerade in die Fäuste! Die Deutschen müssen dasein, Karin ... die Deutschen ... Karin: jetzt falte die Hände und bete ein Vaterunser! Wir sind jerettet! Wir sind schon janz dicht hinter den Deutschen ...«

»Woher weißt du ...?«

Die Stimmen flogen im Dahinschießen des Schlittens atemlos ineinander. Waldemar Kerkhuß lachte fröhlich wie ein Junge. Es rauchte etwas schattenhaft vorbeigleitend am Boden.

»Die kleinsten Zeichen zeigen die jrößten Wunder an! Der Pferdemist da ist noch janz heiß. Sie können kaum eine Werst vor uns sein! Da ...«

»Da vor dem Krug sind jraue Jestalten ...«

»Es lehnt da eine Reihe Zweiräder am Haus!«

»Sie halten! Sie durchsuchen das Jebäude ...«

»Dahinten laufen Kerle heraus ...«

»Sie bleiben stehn und heben die Hände hoch!«

»Abjefaßt! Fort mit ihnen! ... Vorwärts, ehe sie weiterfahren! Na lievo, Mitsa!«

Der Schlitten schwenkte in ungestümer Wendung am Kreuzweg links, jagte an dem feldgrauen Radfahrertrupp vorbei, stand still. Waldemar Kerkhuß schwang sich heraus. Karin von Saxeson war sitzengeblieben. Sie sah, daß er auf einen vor dem Krug stehenden Offizier zutrat. Die beiden schüttelten sich herzlich die Hand und sprachen miteinander.

Dann kam er zurück. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Er hob die Arme, seine Augen waren feucht, seine Züge leuchteten.

»Sie sind da, Karin! Sie sind da! Überall! Sie kommen von Hapsal! Sie kommen von Pernau! Sie kommen von Weißenstein. Sie kommen vom Peipussee herauf. Sie kommen auf allen Wegen!«

»Meine Schwestern ...«

»Alle Awesandschen sind schon in Sicherheit! Die Meinen in Steenholm auch! St. Jochens ist besetzt! Kuistefer! Alt-Sötthast! ... Kerreküll steht! Der Schrecken hat ein Ende! Du weißt jar nicht, Karin, wie nahe wir zwischen Tod und Leben waren!«

Die feldgraue Radfahrerreihe brach auf und drang nach Osten. Der Schlitten der beiden folgte. Die graue, mit weißem Treibeis bedeckte Ostsee dehnte sich als endloser Spiegel in der Ferne. Schon stand der auf einsamem Klippenvorsprung ragende Leuchtturm von Pakerort in ihrem Rücken und schimmerten fern die verfallenen Festungswälle und niederen Holzhäuser an den breiten Straßen des Städtchens Baltischport. Die tiefe Bucht von Laulasma lag hinter ihnen, drüben gegen das Meer hin die weite Parklandschaft des Russenschlosses Fall. Da war schon an der Eisenbahnstation von Kegel neues Feldgrau, ratternde Kraftwagen, Maschinengewehre, Flieger, ein genommener feindlicher Eisenbahnzug. Kaum mehr zwanzig Werst bis Reval! ... Mitsa ... Du mußt es machen ... Du mußt ...

Die treue Stute dampfte und war kein Rappe mehr, sondern ein Schimmel von Schweiß. Aber da stieg, ehe noch die Sonne sank, feierlich mit Türmen und Zinnen das deutsche Mittelalter aus dem Weiß des Landes und dem Grau der See. Der Lange Hermann, der Kiek in de Kök, die Ticke Margarete, der ragende Turm von St. Olai grüßten. Im Kranze ihrer mächtigen Mauern, vom hohen Domberg die Ostsee überschirmend, stand die graue Hansestadt am Meer. Und in ihrem Grau leuchteten fremdartige Farbenflecke, wie man sie hier, auf deutschen Wesens äußerster Wacht und Wehr gen Osten, noch nicht gesehen, von Revals Bürgerhäusern und Adelssitzen.

»Sieh das Schwarz-Weiß-Notl«

»Die deutschen Fahnen!«

»Reval ist jerettet!« sagte Waldemar Kerkhuß, den Schlitten hemmend«

»Willkommen, Waldemar!« Sein Vetter Engelbert von Stier trat aus einer Gruppe von Totenkopf-Husaren zu ihm, den er zuletzt in Berlin, bei dessen Heimkehr aus Rumänien, gesehen hatte. »Hast du schon gehört: Es jeht zu Ende!«

»Der Friede ...?«

»Der Friede ist so jut wie unterzeichnet. Es fällt seit jestern kein Schuß mehr zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Auf tausend Kilometer Länge liegen alle Heere still!«

»Wer schloß den Frieden?«

»Nun, Deutschland und ...«

»Und?«

»... ja ... und die Unterwelt, mit der wir uns hier herumschlagen.«

Waldemar Kerkhuß blieb stumm. Am ihn und die anderen herum war plötzlich alles leer. Die feldgrauen Radfahrerreihen waren schon weit voraus. Der Abendnebel, der aus dem Schnee stieg, hatte sie verschluckt, so daß man von den Befreiern nichts mehr sah. Ein eisiger Hauch wehte von der vereisten Ostsee herüber. Der Winterhimmel verfinsterte sich in zunehmender Dämmerung. Gegen Osten hin war es schon ganz dunkel. Die Nacht kam.


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