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14.

Noch zeigte, hoch über den silbernen Kuppeln, den grünen, weißbeschneiten Dächern, dem funkelnden Gold der Klöster Kiews, die heilige Lawra, die Höhenstadt über dem Tnjepr, die Kugelspuren des Bürgerkrieges. Der Klosterhof, in dem sonst im Hochsommer Zehntausende von Pilgern halbe Tage lang unbewegt, die Stirne im Staube und selbst Staubklumpen ähnlich, knieten, lag tot und leer. Aber drüben im hügeligen Häusermeer von Alt-Kiew flutete längst wieder die Naturkraft des russischen Lebens. Kiew war eine heilige und eine heitere Stadt, dampfend von der schweren Fülle der fruchtbaren, sie umlagernden schwarzen Erde. Die Menschen selber anders, schlanker, dunkler, der wärmenden Sonne näher als die flachsmähnigen, grobknochigen Russen des Nordens in ihren verschneiten Wäldern und windüberheulten, kargen Ebenen.

Auch Dr. Leonid von Kjaschko, der ukrainische Großgrundbesitzer und Zuckermillionär, hatte diesen bräunlichen und länglichen Gesichtsschnitt des Kleinrussen. Er saß in seiner Stadtwohnung an dem breiten Kreschtschatik Waldemar Kerkhuß gegenüber und sagte mit einem Lächeln, das seine weißen Zähne entblößte, zu seinem unauffällig westeuropäisch gekleideten Besucher:

»An Ihnen zeigt Gott den Umsturz aller Dinge! Noch im vorigen Sommer hätte ich den Chronisten Nestor und alle Heiligen um Hilfe rufen müssen, wenn Sie, ein von der Regierung steckbrieflich Verfolgter, an meine bescheidene Tür geklopft hätten! Nun aber hat die allgemeine Anordnung die allgemeine Freiheit gebracht. Seien Sie herzlich willkommen, Baron Kerkhuß!«

»Alles ist frei! Warum nicht auch ich? Niemand fragt nach mir! Ich brauche mich nicht mehr in den esthnischen Urwäldern zu verbergen! Ich kann in Rußland jehen und reisen, wohin ich will!«

Es war heller Januarnachmittag. Man war eben vom Frühstück aufgestanden. Die Dame des Hauses hatte die beiden Freunde allein gelassen und sich nach hinten in das Kinderzimmer begeben. Gospodin Kjaschko weilte, ein vom Glück verwöhnter Mann, in seinen reichen, von Wiener Raumkünstlern ausgestatteten Gemächern allein mit seinem Gast. Er besaß noch die beinah weibliche Weichheit und Biegsamkeit des Wesens. Aber er tändelte nicht mehr mit dem Leben wie früher. Auch auf der weißgoldenen Seidentapete seines Salons standen die Schicksalslettern dieser russischen Jahreswende ...

Aus Liebenswürdigkeit gegen seinen baltischen Besucher sprach er das ausgezeichnete Deutsch, das er sich auf deutschen Hochschulen erworben. Er durfte jetzt ruhig Deutsch reden. Man durfte jetzt in Rußland alles tun, so gut wie unten auf der Straße die deutschen Kriegsgefangenen frei in der Menge gingen und alle Kerker von Schlüsselburg bis zum Altai offenstanden.

»Nun, Baron Kerkhuß – und warum verließen Sie in diesen apokalyptischen Tagen Esthland und Ihre Güter?«

Waldemar Kerkhuß fuhr sich mit der Hand über die Stirn und strich die blonde Haarwelle zurück. Ehe er antworten konnte, fuhr der ukrainische Edelmann fort:

»Sie besitzen wieder Ihre Güter! Aber ich nehme an. Sie besitzen Sie so wenig wie wir alle! Sie wissen so wenig wie ich, wer in Ihren Wäldern das Holz wegfährt oder bei mir eigenmächtig mein Land bestellt. Warum schützen Sie nicht Ihr Eigentum daheim?«

»In Esthland können wir nichts schützen! Wir sind eine Handvoll Deutsche jejen eine undeutsche Welt!«

»Auch wir hier, der Adel und Großbesitz der Ukraine, sind gegen die anderen gering an Zahl ...«

»Wir alle in Rußland sind Schicksalsjenossen! Wir alle jehen dem Unterjang entjejen, wenn wir nicht endlich nach der einzijen, der jroßen Rettung jreifen!«

»Dem Frieden ...?«

»Dem Frieden mit Deutschland! Eurem Frieden mit Deutschland! Dem Frieden der russischen Jesellschaft! Kommt der Unterwelt zuvor, mit der Deutschland jetzt schon notgedrungen feilscht. Reicht ihr dem Deutschen die Hand! Rettet euch selber, indem ihr Rußland rettet und meine Heimat dazu! Das ist es, was ich jedem von euch in Rußland in die Ohren schreien möchte!«

»Was ist denn noch Rußland?« sagte Leonid Kjaschko in einer slawisch plötzlichen, jähen, tiefen Schwermut. »Ein großer Trümmerhaufen, aus dem jeder das Seine rettet. So auch wir hier in der Ukraine. Oft schon war in solchen Zeiten der Süden eines berstenden Reiches gegen den Norden! So versuchten in Amerika sich die Südstaaten vom Norden frei zu machen, so seinerzeit Süddeutschland! So wollen auch wir, der russische Süden, es wagen, unser Schicksal selbst in die Hand nehmen!«

»Tut es! Tut es!«

»Wir haben keine Lust, uns als Schiffbrüchige an einen Leichnam zu klammern und mit ihm zu versinken! Hinter Kursk ist Rußland ein Leichnam! Gut denn! Kiew ist nicht Moskau! Die Ukraine ist nicht Ingermanland. Die Ukraine hat den Polen zum Feind, nicht den Deutschen! Laßt die Deutschen kommen und uns schützen! Wir sind bereit zum Frieden!«

»Gott sei Dank!«

»Aber knüpft nicht Bedingungen daran, die wir nicht erfüllen können! Lenkt nicht nach Westen, was nach Süden will! Alles bei uns strebt hinunter nach dem Schwarzen Meer. Die Flüsse. Die Eisenbahnen. Das Geld. Die Seelen. Es ist der Lauf der Natur. Versucht nicht, der Natur euren Willen und der Ukraine eure Gesetze aufzudrängen. Legt uns nicht die Faust an die Kehle! Rußland wird sich einst wieder einigen! Ihr braucht es noch einmal!«

Frau von Kjaschko trat ein, mit ihren geputzten Kinderchen an der Hand, zum Besuch bei ihrer Schwester drüben in Lipki, dem reichen Lindenviertel, rosig, jung, elegant, eine blühende ukrainische Schönheit und selbst eine Gutsbesitzerstochter aus dem nahen, üppig fruchtbaren Charkower Gouvernement. Waldemar Kerkhuß küßte ihr die Hand und ging. Noch als die goldenen und silbernen Kuppeln des russischen Roms hinter ihm am Himmelsrand verschwanden, als hinter Schmerinka die waldigen Hügel in die endlosen Flächen der beßarabischen Steppen übergingen, tönte es ihm im Ohr nach: Greift uns nicht an die Kehle ...

Der Novembersturm brauste über die Pußten des Gouvernements Cherson, als könne er es nicht erwarten, das Schwarze Meer zu erreichen. Die schwarzen Ringellöckchen und Kaftane der zahllosen Hebräer flatterten in den einsam in der Steppe gelegenen Stationen, und in den Pogromstädtchen fern am Horizont flatterten blutrot die Fahnen. Rot war immer die Lieblingsfarbe des Russen gewesen, rot hieß in seiner Sprache so viel wie schön, ein rotes Hemd trug der Bauer, rot waren schon in den Tagen des Zaren die Blutlachen in den schmutzigen Gassen gewesen, wenn mit vorangetragenen Heiligenbildern, stiebenden Bettfedern, Brandqualm der Synagogenschulen, Branntweinpfützen und Leichen vor den gestürmten Kronsbuden und Trödelläden die Judenhetze tobte. Jetzt waren die Juden die Herren, waren die Führer des fiebernden Rußlands. Die Kinder des Ghettos berieten in der blaugoldenen Pracht des Andreas-Krönungssaals im Kreml unter dem Baldachinschatten des dreifachen Zarenthrons, ihre Ukase durchzuckten, wie einst die des Selbstherrschers aller Reußen vom roten Sammet des Prunksaals Peters des Großen im Petersburger Winterpalais mit der Schnelligkeit des elektrischen Funkens das Riesenreich von der sterbenden Front bis zur Grenze Asiens.

Das neue Zion herrschte, aus den Tiefen der Bedrückung, der Armut, der Unwissenheit und des Schmutzes emporgestiegen, auch am Strand des Schwarzen Meeres in Odessa, Zion und mit ihm die ganze russische Unterwelt, Männer, die vor kurzem noch nachts hungernd und frierend auf einem Haufen Bretter im Freien geschlafen oder in einer Dachstube von New York hustend bei Schwarzbrot und Tee mit dem Skorbut gekämpft hatten und deren gleichgültiges »Da« oder »Njet«, Ja oder Nein, am Fernsprecher jetzt über Leben und Tod entschied.

»Erbarmen Sie sich: was ist das für eine Welt?« rief Gospodin Gulewitsch, der Petersburger Finanzmann und Politiker, Waldemar Kerkhuß zu, den er auf dem Nikolajewski-Boulevard Odessas traf. Er sah nicht mehr so blühend und sinnlich aus wie früher. Seine einst glänzenden schwarzen Augen waren trübe. »Erbarmen Sie sich: ward Rußland wahnsinnig oder wir? Ich komme aus dem Stadthaus. Eine junge Jüdin regiert an Stelle des Polizeimeisters. Ein Barfüßer mit goldenem Zwicker auf der Nase stempelt meinen Paß. Belieben Sie die bewaffneten Gymnasiasten zu betrachten, die da vor uns aus den Fenstern des Gouverneurpalastes schauen! Vor vier Wochen hätte Seine Hohe Exzellenz die Kinder durch einige Kosaken gejagt! Die Schwarzarbeiter stiegen aus dem Hafen! Der Peressip und die Moldawanka entsenden Gestalten, die niemand sonst am hellen Tage sah! Alles bricht in Stücke ... alles in Rußland ...«

Er mußte schreien, so blies der Sturm vom Hafen unten her über den hochgelegenen Boulevard und das Denkmal des Herzogs von Richelieu in seiner Mitte. Eine rote Fahne warf ihre flatternden Falten um die eherne römische Toga des Gründers Odessas. Die Handelsstadt, in der einst der Rubel und der Weizen alles galt, war Rot in Rot. Rote Flaggen flogen jetzt, wo es keinen Weizen mehr gab und der Rubel zum Spott ward, von allen Häusern, von der Puschkinstraße am Bahnhof bis zum Strand. Sie leuchteten grell unten im Hafen. Sie wehten draußen von den Masten der Kriegsschiffe auf den sturmgepeitschten, donnernden Schaumkämmen des Schwarzen Meeres.

»Sie sagen, Baron Kerkhuß: Geht zu den Deutschen und bittet sie: Gebt Rußland den Frieden!« sprach er. schöpft der Petersburger Bankier. »Gut! Wir müssen! Aber fügt hinzu: Gebt Rußland einen Frieden, bei dem Rußland nicht erstickt! Wie kann ein Mensch leben und Verträge halten, dem man Mund und Nase zuhält? Weltvölker atmen durch das Weltmeer. Die Japaner aber sperren uns den Weg zum Stillen Ozean. Ihr haltet die Ostsee verschlossen. Vor das Schwarze Meer schoben die Türken den Riegel der Dardanellen! Wie können wir Großrussen noch Luft holen, wenn ihr uns mit der Ukraine die Brust eindrückt und uns die von euch besetzten esthnischen Inseln wie einen Knebel in die Kehle schiebt? Wodurch entstand dies Völkermorden? Weil man Serbien von der See fernhielt!«

»Nun – das sind allrussische Formeln, Gospodin Gulewitsch!«

»Die Ansichten der russischen Gesellschaft, gegen die ihr euch zum Kampf auf Tod und Leben mit allen Mächten unserer Unterwelt verbindet!«

»... weil die russische Gesellschaft sich mit dem Westen zum Kampf auf Tod und Leben gegen Deutschland verbündet hat und dabei verblieb!«

»Überall im Völkerleben ist die Schuld! Auch bei uns! Wahrlich! Aber nun ist es genug! Gott strafte uns alle!«

»Und was sollen Deutsche und Russen tun?«

»Sich tief voreinander verbeugen und sich stumm bekreuzen und mit Gott in Frieden auseinandergehen! Laßt Rußland den Russen! Deutschland den Deutschen! So werden wir uns dereinst wiederfinden!«

Matrosen mit roten Abzeichen zogen vorbei, aus dem Kriegshafen Sebastopol, wo auf den Trümmern des Malakoff-Hügels, vom Grabe des Admirals Kornilow und des Matrosen Koschka, der Helden des Krimkriegs, und vom Midshipman- und historischen Boulevard die rote Fahne im Sturme flog. Gospodin Gulewitsch sah düster den Seeleuten nach.

»Dreimal ging Rußlands Flotte zugrunde!« sagte er. »Gegen die Engländer in der Krim! Durch die Engländer bei Japan! Mit den Engländern jetzt! Herrgott – erleuchte deinen Knecht: wie soll man es auf dieser Erde mit England halten? Fordert nichts von uns, ihr Deutschen! Damit allein stärkt ihr uns gegen England!«

In der Odessaer Duma prüften Seeleute, die Zigarette im Munde, das Teeglas vor sich, Waldemar Kerkhuß' Papiere. Ein beifälliges: Karaschó!... Es ist gut! Er war unter der früheren Negierung steckbrieflich gesucht und verfolgt worden! Er war ein Towartsch, ein Kamerad! Ein Nicken: er konnte gehen, wohin er wollte...

Gen Osten – in die unermeßlichen, dämmernden Ebenen im Bogen des Don, da wo Rußland allmählich in Asien überging und jenseits des kaum über die Breite des Flusses erkennbaren Ufers der Wolga das Tatarenland und die Steppen der kleinen Kirgisenhorde begann.

Hier an der Schwelle des anderen Erdteils lebte die alte Romantik Rußlands. Hier war die Provinz des Donschen Heeres. Hier war das Land der freien Kosaken. Hier hatte es schon in ehemaligen Zeiten nicht Herr noch Knecht gegeben, sondern eine Gemeinschaft im Kriege tierisch roher und feiger, im Frieden unabhängiger und unbändiger Reiter. Die neue Zeit konnte ihnen nichts Neues bringen, und so war hier alles beim alten geblieben. Und was noch vom Alten übrig war, am Alten hing, auf die Wiederkehr des Alten hoffte, für das Alte noch kämpfen wollte, das hatte sich aus dem glühenden Krater Rußlands in das Steppenmeer zwischen Donez und Don geflüchtet.

Je tiefer Waldemar Kerkhuß in diese Vorwelt Asiens eindrang, desto seltener sahen seine Augen das neue Rot, bis es sich endlich ganz verlor. Es wäre auch schwer zu sagen gewesen, wo eine rote Fahne in dieser unendlichen Öde hätte flattern sollen, deren wandernde Sanddünen und weiße Krusienränder der Salzseen kein Baum und Strauch unterbrach. Es war schon zwischen Don und Wolga, im Grenzgebiet der Kosaken und Kalmücken, wo Waldemar Kerkhuß am Ufer des Steppenflusses Aksai in einer kleinen, jetzt zu einem Heerlager umgewandelten Ortschaft stand. Seltsam ragte der baufällige Buddhistentempel nahe der deutschen Herrnhuterkirche, kirgisische Salzgräber standen neben hierher verschlagenen amerikanischen Fliegern, ein langhaariger, verwilderter Kosakenpope neben dem aus Paris zum russischen Heere gesandten Generalstabskapitän, der schwäbischrussische Kolonist neben Petersburger Großfürsten und Gardeoffizieren in tatarischen Pelzen und hohen Lammfellmützen.

Unter diesen Anhängern des weißen Zaren und der altrussischen Ordnung der Dinge ragte ein finsterer General mit einem Bartschnitt, dessen Streifen an den Wangen noch an Alexander den Zweiten erinnerten. Er drückte schweigend Waldemar Kerkhuß die Hand und ging mit ihm in eines der Häuser.

Nachdem der kalte Teeaufguß mit heißem Wasser verdünnt war und die rasch gedrehten Papyrossen brannten, sagte General Paul von Oxberg mit einer Stimme, die so dunkel und düster war wie er selber, in baltischem Deutsch:

»Du hast es nur mir zu danken, mein Junge, daß man dich nicht unterwegs totjeschossen hat. Ich jab Befehl!«

»Danke, Onkel Pauluscha!«

»Was willst du hier, Waldemar? Hier ist das Ende der Welt! Hinter uns sind nur noch die Tatarenrepubliken und im Süden die Republiken des Kaukasus und die Arbeiterrepubliken von Baku!«

»Und was tust du hier, Onkel Pauluscha?«

»Ich diene dem Zaren!« sagte ruhig der baltische General.

»Der Zar ist jefangen!«

»Darum kämpfen wir hier jejen die, die ihn jefangennahmen! Wir bilden ein Heer! Wir werden vorrücken!«

»Und das ist deines Amtes?«

»Ich habe dem Zaren jeschworen!« versetzte der deutsche Edelmann in russischer Uniform. »An diesen Schwur halte ich mich! Mag auch alles zujrundejehen!«

»Auch unsere Heimat? Auch Esthland? Auch Livland? Der Schrecken ist bei uns im Land! Wir sind verloren, wenn nicht bald Rettung kommt!«

»Wer kann euch helfen?«

»Die Deutschen! Macht Frieden mit den Deutschen, damit sie ihn nicht mit unsern Todfeinden im Lande machen müssen! Der Frieden unter dem Schatten der russischen roten Fahne, den die Deutschen jetzt zu schließen im Bejriff sind, ist unser aller Unterjang. Darum durchirre ich janz Rußland! In letzter Stunde: Macht Frieden mit den Deutschen, damit sie uns helfen!«

Baron Oxberg schwieg mit hart gefurchten Brauen. Durch die finstere Entschlossenheit seiner gebräunten Züge las man den Gram über die Niederlagen, den zu Tode verletzten Stolz eines Mannes, der selbst von Geblüt kein Russe war, aber mit den Vollblutrussen den Wahn der mit Europa spielenden Urkraft Rußlands, den Wahn der unermeßlichen russischen Weiten, Menschen und Mittel, den Wahn einer alles vor sich niederrollenden russischen Schicksalsgewalt geteilt hatte. Unfaßbar waren die Vorbereitungen zu dem Kreuzzug gen Westen gewesen. Jahrzehnte hatten sie gedauert. Ketten von Festungen waren aus dem polnischen Sumpf gestiegen, Eisenbahnlinien entstanden, die nur den einen Zweck hatten, ein einziges Mal auf den Befehl des Zaren dereinst die bewaffnete Völkerwanderung zu befördern. Die Franzosen hatten ihre Milliarden geschickt, die Engländer ihre Ordner, die allrussische Seele war emporgeloht im Rausch einer geschichtlichen Sendung ... und nun ...

»Wir standen vor Krakau!« sagte der finstere General. »Der Deutsche trieb uns zurück! Wir stiegen schon von den Karpathen nach Ungarn hinab. Der Deutsche warf uns wieder in die jenseitige Tiefe! Uns fehlte auf dem Balkan nur Bulgarien im Ring der Völker. Der Deutsche rief es wider uns in Waffen! Konstantinopel, Rußlands Ziel seit Jahrhunderten, wäre unser jeworden! Der Deutsche verteidigte es! Wir hatten nur einen Streit mit Österreich. Der Deutsche kam und erklärte uns den Krieg! ... Soll Rußland schmählich jeschlagen aus diesem Krieg hervorjehen, Waldemar?«

Der General von Oxberg unterdrückte, was besonders schmerzlich in seiner Eigenliebe als Krieger des Zaren brannte: und geschlagen, geschlagen das nie dagewesene russische Völkeraufgebot nicht von dem ganzen deutschen Heer, sondern von den Bruchteilen, die gerade im Kampf gegen die übrige Menschheit verfügbar waren! Er fuhr grimmig fort:

»Noch ist der Krieg nicht zu Ende, Waldemar! Noch können wir russischen Soldaten den Krieg jewinnen, wenn wir am Krieg und unseren Verbündeten festhalten!«

Draußen galoppierte ein Kosak auf magerem Klepper vorüber, den struppigen Kopf des Gaules ohne Zügelführung steil nach dem grauen Winterhimmel gerichtet. Ein paar Kamele setzten im Gänsemarsch die schwieligen Ballen in die leichte Schneedecke des Bodens. Ein Tatar schlürfte, in seinen Kaftan gewickelt, den breitkrempigen, weißgrauen Filzhut in die Stirne gedrückt, nebenher und schwatzte, leidenschaftlich irgendeinen Handel beredend, mit einem Württemberger Kolonisten von der Wolga. Dann schlenderten ein Franzose und ein Yankee des Wegs. Sie sahen gelangweilt darein, und der amerikanische Flieger sagte verdrießlich:

»Gott segne den englischen Botschafter in Petrograd und alle, die Rußland unnütz diesen Boxerhieb in die Magengrube gaben! Ohne ihn säßen wir jetzt im Jachtklub oder bei Donon! Wer hieß die Engländer den Zaren, den verblendetsten Mann, der je England diente, gleich einem alten Seehundkoffer in die Rumpelkammer zu schieben?«

Der General von Oxberg hatte es drinnen im Zimmer nicht gehört. Er saß mit harten Mienen und schwieg und rauchte, in der Haltung eines Mannes, für den die kriegerische Ehre Rußlands die eigene war.

»Und unsere Ostseeprovinzen, Onkel Pauluscha?«

»Grüße sie von mir! Meine Jedanken sind immer dort!«

»Ich werde bald nur noch Trümmer von dir jrüßen können!«

»Janz Rußland liegt in Trümmern!«

»Und das ist dir lieber als ein Frieden mit den Deutschen!«

»Alles ist mir lieber als die Unterschrift unter unsere Niederlage, während unsere Verbündeten noch kämpfen! Wir haben ihnen Treue jelobt jemäß dem Befehl des Kriegsherrn! Das halte ich! Ich bin ein Edelmann und ein Jeneral des Zaren!«

»Dann sind wir zu Ende!« sagte Waldemar Kerkhuß, legte seine Zigarette weg, als wollte er sogar dieses Gastgeschenk nicht mehr annehmen, und stand auf.

Der Lauf des Donezflusses schied hier, im äußersten Süden Rußlands, zwei Welten. War drüben das freie Kosakenreich, Sturm, Vogelschrei und Wolkenflug über der Steppe, so qualmten hier im Kohlenbecken die Fabrikschlote, häuften sich die Schlackenhügel, gab es Kommerzbanken und Hotel Bristols, stiegen verrußte Gestalten aus der Nacht der Schächte und mischten sich in das feldbraune, pelzmützige, rotgefleckte, wilde Gewühl der Bahnhöfe. Breit und mächtig strömte der Dnjepr, und fern dämmerte ein Häusermeer. Aber der junge bewaffnete Hebräer, der auf dem Bahnhof von Sinelnikowo die Pässe der Soldaten prüfte und sich von denen, die keine hatten, Bündel von halb wertlosen Kerenskinoten in die Hand drücken ließ, warnte Waldemar Kerkhuß, um nicht von den anderen verstanden zu werden, in New Yorker Jiddischdeutsch:

»Fahren Se nix nach Jekaterinoslaw! Es seindt da grauße Kämpfe! Örtliche Maßnahmen gegen die Burschuis kimmen da ze gain! Ob Se über Orel weiter können? Nü – wie sollten Se nix? Öfters läßt man da Züge ab! Heit noch – kann sein!«

Die Herzkammern der südrussischen Industrie lagen hinter Waldemar Kerkhuß, Kohlengruben und Hüttenwerkstädte darunter, die die Engländer einst gegründet und mit ganzen, ihnen von der russischen Regierung gestellten und von ihnen selbst unterhaltenen Kosakenregimentern gegen ihre eigenen russischen Arbeiter geschützt hatten. Waldemar Kerkhuß saß beinahe als der einzige Mann im Bürgerkleid im Zuge. Er saß nicht. Er kauerte. Er atmete eben nur noch in den bewaffneten Menschenknäueln, die feldbraun um ihn dunsteten, auf dem Boden übereinanderhockten, in den Gepäcknetzen lagen, auf den Puffern mitritten, als steif gefrorene Leichen von den Dächern heruntergeworfen wurden, als lästige Kranke mitten in der Fahrt aus dem Zuge flogen und sich zwei-, dreimal auf der Böschung überschlugen. Er rang in dem Menschenbrodem nach dem frischen Luftzug aus den zerschmetterten Fensterscheiben, durch die die Schneeflocken stiebten und auf den Haltestellen wilde Kerle mit Sack und Pack aus und ein kletterten. Er wagte nicht einzuschlafen, nicht aus Furcht, daß man ihm sein Geld, sondern daß man ihm seinen Mundvorrat stehlen könnte. Denn er sah das Gedränge um den Samowar, die Faustkämpfe um das Brot zerlumpter Händler. Er hörte das aufgeregte Stimmengewirr der in ihren tiefsten Tiefen aufgewühlten russischen Erde um ihn, dieser Halbwilden, die nicht mehr Krieger und auch nicht wieder Bauern waren, sondern etwas, was sie selbst nicht wußten, was sie blind, gleich der toten See nach dem Sturm, in schweren Schwingungen durch ganz Rußland hin und her schaukelte.

Waldemar Kerkhuß sah den sterbenden Krieg. Das sterbende Reich. Asien kehrte heim. In den entgegenkommenden, nach Osten rollenden Zügen füllten Baschkirengesichter, samojedische Schlitzaugen, semmelblonde, runde Jakutenköpfe, tscherkessische Adlernasen die Fenster. Heim! Heim! In die Tundren und die Schwarze Wüste, die Berge des Altai und die Wälder des Amur! Wir haben genug geblutet ... wir kennen jetzt Deutschland ...

Der Krieg stirbt ... der Osten hellt sich auf. Mit unruhigen Augen sah Waldemar Kerkhuß die in den vollgepfropften Zügen wandernden Heere, deren Offiziere geflohen waren, deren Geschütze irgendwo fern an der Beresina oder in den Rokitnosümpfen einsam im Schnee standen, deren Schützengräben draußen nur noch vereinzelte, in den Nachbardörfern zurückgebliebene Soldaten zuweilen besuchten, um sich Lebensmittel aus den verlassenen Unterständen zu holen ...

Er sah, so weit die struppigen und langmähnigen Köpfe der feldbraunen Fabrikarbeiter und Muschiks um ihn her einen Ausblick ließen, auf totem Schienenstrang, neben dem Schuppen des großen, einst von Nikolai Nikolajewitsch angelegten Proviantlagers gleich einer Wagenburg der Völkerwanderung, den seit Monaten hier festgefahrenen und festgefrorenen Eisenbahnzug eines ganzen, wilden Steppenregiments. Ein Gelächter! Sie wohnen in den Wagen, die Seelchen! Sie kochen und nähren sich aus dem Schuppen! Sie fressen ihn auf! Sie fahren nicht weiter, solange in ihm noch etwas zu finden ist! Sie feuern auf jeden, der die Lokomotive anheizen will ...

Waldemar Kerkhuß fuhr aus seinen Zukunftshoffnungen auf. Da krachte ein Schuß. Hart neben dem eigenen Zug. Er hörte den gleichgültigen Baß irgendeines russischen Riesen: »Die Towartschi haben den Bahnhofsvorsteher erschossen, weil er unserem Zug nicht die Bahn freigeben wollte! Nun denn: Mit Gott, Bruder! Fahrt los!« Dann nach zehn Minuten ein wildes Pfeifen, ein Ruck ... die beiden Maschinen, die eigene und die des auf demselben Gleise entgegenkommenden Zuges voll heimwärts rollender Söhne Asiens standen sich, im letzten Augenblick gebremst, schnaubend und feindselig gegenüber ...

Auf seinem Kofferchen im Schnee sitzend, einem Schiffbrüchigen gleich, die Zigarette im Mund, sah Waldemar Kerkhuß das braune Gewimmel der gleich streitsüchtigen Bienen aus beiden Zügen gequollenen, pelzmützigen, mit gefüllten Rucksäcken und umgehängten Gewehren beladenen Gestalten, das Geschrei, das Handgemenge, Blutlachen und blutspeiende Menschen im zertrampelten Schnee, bis endlich alles in den beiden Zügen die Plätze gewechselt hatte, und jeder von ihnen rückwärts fahrend die Richtung des anderen aufnahm.

Rückwärts ... Halbasien wälzte sich rückwärts ... wandte sich gegen sich selbst. Auf dem roten Platz in Moskau lagen Reihen von Toten vor der Kathedrale Iwans des Gräßlichen, feierlich und starr in Reih und Glied. Barhäuptige Männer, sich bekreuzende Frauen stiegen in Pelzen und hohen Stiefeln zwischendurch und suchten die Ihren. Siegreich hingen oben jenseits der tatarischen Mauern über den zerschossenen Türmen und Zinnen, den goldenen Kuppeln und gelben, rosafarbenen, blauen, grünen Palästen der heiligen Kremlstadt die blutroten Fahnen. Die Gebäude unten an der Iberischen Pforte, beim Wunderbild der Mutter Gottes, zeigten die zackigen Löcher der Granateneinschläge. Die Fenster waren von den Kugeln der Maschinengewehre durchsiebt und gegen die Kälte mit Papierballen verstopft. Der Schnee am Boden schimmerte rot vom Schutt der zersplitterten Ziegelsteine.

Waldemar Kerkhuß stand in dem roten Schnee, der wie ein Sinnbild dieses russischen Winters den Woßkressenskaja-Platz überzog, und schaute auf das Bündel verrosteter Maschinengewehre vor seinen Stiefeln. Sie lagen im Schmutz und Schlamm der Gosse. Ein Soldat, die Mütze im Genick, verkaufte sie an Liebhaber. Stück um Stück zehn Rubel. Es war amerikanische Kriegsware wie dort der verbeulte und geplünderte Kraftwagen irgendeines früheren Generals oder Großfürsten, den eine andere Gruppe Towartschis unter heftigem Feilschen an eine Anzahl Baumwollarbeiter mit Gewehren in der Hand verschacherte. Im weiten Kreise zogen sich links um das heilige Mütterchen Moskau die Fabriken. So viel Kirchen innen in der Stadt, so viele Spinnereien und andere düstere Schlotkasernen draußen im flachen Land. Von der Höhe des Kreml konnte man die Bündel von Schornsteinen bis fern am Horizont zwischen den Klosterkuppeln erblicken. Alt- und Neuzeit wohnte da nebeneinander. Der Mönch und der Proletarier. Die hinauspilgernden Wallfahrtszüge der Gläubigen und die nach dem Innern strömenden Massen von Schafpelzen, feldbraunen Mänteln, Schirmkappen, Pelzmützen, zerrissenen Kaftanen, Studentenuniformen.

Waldemar Kerkhuß ging an den Sonnenblumenkerne in weitem Bogen spuckenden, sich mit den Händen im Leibgürtel wiegenden, rothemdigen Gestalten vorbei und watete in seinen hohen Gummigaloschen durch den roten Ziegelbrei am Boden nach dem großen Europäischen Gasthof gegenüber, in dem schon die ersten, eben angekommenen Deutschen Tür an Tür mit den zurückgebliebenen Engländern und Franzosen wohnten und dessen zerschossene Speisesaalfenster noch mit Brettern vernagelt waren. Kutscher hielten neben der Einfahrt und ließen sich vom Fahrgast suchen. Das Geld hatte kaum noch einen Wert. Zwanzig Rubelchen durch das Innere der Stadt! Gut denn! Los!

Draußen in der stillen, vornehmen Powarskaja, nahe der Kirche Tichons des Wundertäters, stand zwischen den anderen Häusern des altgeschichtlichen russischen Adels das niedere, schön blau gestrichene, mit zwei langen Seitenflügeln bogenförmig den Ehrenhof umfassende hölzerne Palais des Knjäs Boris Manuchin. Hier, in den Armen des Mütterchen Moskau war der Fürst noch russischer Bojar, so gut wie an der Newa aufgeklärter Weltmann. Die breiten, russischen Urinstinkte lebten da wieder in ihm auf. Sie hatten ihn verhindert, den Sitz seiner Väter anders zu gestalten, als er bei dem Brande von Moskau vor hundert Jahren in der schwarzverkohlten, von einem Wald stehengebliebener Schornsteine überragten Ebene neu erstanden war. Einzelne Teile des alten Bojarenhauses hatten sogar damals dem Feuer widerstanden und zeigten noch die engen Treppen, die kleinen Räume und schmalen Türen des Mittelalters, mit Gebetzimmern und haremsähnlichen Frauengemächern.

Die bizarren Gegensätze des inneren Moskau, das, halb Bagdad, halb New York, zehnstöckige Wolkenkratzer neben ananasförmigen Goldkuppeln, moosverfugte Holzhäuser neben modernen Mietskasernen aufwies, waren noch nicht über die Arbatskij-Pforte hinausgedrungen. Der Palast des Knjäs Manuchin stand noch so wie seit vier Menschenaltern seine Vorfahren, die Wolgadynasten, darin ein und aus gegangen waren, dem Zaren in schimmernder Generalsuniform gedient, ganze Landgüter mit Tausenden von leibeigenen Seelen in einer Nacht verspielt und gewonnen hatten. Der Fürst selbst schritt langsam und schwerfällig, eine Papyros nach der anderen rauchend und zuweilen einen Schluck Tee aus dem dampfenden Glase schlürfend, in seinem Arbeitsgemach auf und nieder. Er trug zu der englischen verschnürten Morgenjacke das kragenlose, rot gestickte, russische Hemd als Haustracht. Sein mächtiger, wirrer Bauernbart und die langen Strähnen um den Kahlschädel zeigten noch mehr Silbergrau im Flachsblond als früher. Der leidende und nervöse Ausdruck der blauen Augen in dem grobgeformten Antlitz mit der breitgeblähten Nase hatte sich verstärkt. Die Schultern seiner massigen Gestalt waren gebeugt. Vor ihm saß, ebenfalls bleich geworden und abgemagert, der einst so fette und lebensfrohe Staatsrat Pommeranzeff und sagte, sich seufzend erhebend:

»So also steht es um unsere Front, Boris Wladimirowitsch! In unseren Schützengräben findet man nur noch Krähen, Hunde und Schnee! Unter Schneehügeln stehen die Kanonen! Unter großen Vierecken von Schnee liegen zu vielen Tausenden unsere unbezahlten Granaten. Mein Sohn sagt, er glaube in seinem Leben nicht so viel lebende Pferde gesehen zu haben, als da erfroren und verhungert, mit abgenagten Schweifen und Mähnen, herumlagen! Man kann sich ganze Schachteln voll Georgskreuze am Wege mitnehmen, Fahnen, Heiligenbilder, Gewehre wie die Binsen! Gott hat uns gestraft! Alles ist zu Ende!«

»Und die Deutschen können einrücken, wie sie wollen!«

»Wie sie wollen! Nun – mit Gott!«

Der Staatsrat ging. Als ihm der Diener draußen in der niederen Vorhalle Pelz und Filzüberstiefel brachte, fuhr er zurück.

»Wie denn, Baron Kerkhuß? ... Sie hier?«

»So ist es!«

»In diesem Hause?«

»Der Knjäs erwartet mich!«

»Ich habe Ihren Brief bekommen, Baron Kerkhuß!« sagte der Fürst Manuchin, der herausgetreten war, und drückte ihm ruhig die Hand. »Lassen wir das Vergangene vergessen sein! Es ziemt uns Sündern nicht, miteinander zu rechten! Die Not des Vaterlandes bedrückt uns alle! Belieben Sie und treten Sie durch meine niedere Tür!«

Es klang mit der barbarischen Würde gottesgläubigen und bußfertigen Altrussentums, von dem jetzt immer mehr die täuschende Tünche westlicher Klubs und englischer Meinungen fiel, und Waldemar Kerkhuß sagte, nachdem er drinnen Platz genommen:

»Sie haben sich verändert, Fürst! Waren Sie krank?«

»Ja, krank ... wenn man Kerker Krankheit nennt ...«

»Sie waren im Gefängnis?«

»Bald nachdem wir uns in Petersburg sahen, wurde ich verhaftet. Es war eine Zeit der Prüfung. Zum Glück fand ich Perekrestoff und andere Freunde als Schicksalsgefährten vor!«

»So litten Sie wenigstens nicht unter dem Fluch der Einsamkeit, Boris Wladimirowitsch!«

»Nein. Ich lehrte die anderen in diesen langen, leeren Tagen Englisch! Sie lernten schnell! Als ich das Gefängnis verließ, waren sie bereits fähig, die ›Times‹ zu lesen!«

Waldemar Kerkhuß dachte sich mit einem Grauen vor dieser Macht über die Geister: Englands Faust stieß euch in den Abgrund, und noch im Sturz, ehe ihr unten zerschellt, lernt ihr hastig aus dem englischen Wörterbuch: »Thank you!« und »Don't mention it!« Er schwieg. Der Fürst fuhr schwermütig fort, mit einer hellen und weichen Stimme, die seiner Bärenerscheinung widersprach:

»Vor kurzem erst ließ man mich frei und erlaubte mir, hierher nach Moskau zu gehen! Aber auf wie lange? Jede Stunde kann man von neuem verhaftet werden! Es ist kein Schutz und keine Rettung mehr zu sehen!«

»Doch!«

»Wo?«

»Bei den Deutschen!«

Ein Schweigen trat ein. Knjäs Manuchin strich sich seinen langen Bart und überlegte und nahm langsam einen Schluck Tee.

»Sie schrieben mir!« sagte er. »So weiß ich den Grund Ihres Besuchs. Es ist immer wieder der Friede mit Deutschland!«

»Den Frieden mit Deutschland durch euch, die russische Gesellschaft, nicht durch die russische Unterwelt! Dafür werbe ich in letzter Stunde überall in ganz Rußland ...«

»Und warum Sie – gerade Sie?«

»... um, mit der russischen Gesellschaft, auch uns Balten in den Ostseeprovinzen zu retten! Schließt Deutschland mit der russischen Unterwelt den Frieden – wie kann es dann uns gegen eben diese Unterwelt schützen?«

Fürst Manuchin bewegte langsam sein bärtiges und leidendes Apostelhaupt. Er wollte schon sprechen. Aber er hörte dem anderen noch zu.

»Macht Frieden! Rußland und Deutschland sind Nachbarn. Gott hat sie aufeinander angewiesen!«

»Nicht Gott, sondern menschliche Verblendung!« Es war etwas aus dem fernen Völkerborn Asiens, dem Urquell aller Dinge, in Knjäs Manuchins sonderbar ergebungsvoll und feierlich gewordenen, von dem langen Bart beschatteten Zügen. Er schien Europa plötzlich fern. »Ihr Deutschen hattet einen Schutzwall gegen uns! Er ging von der Ostsee durch Sumpf und Wasser bis nahe zum Schwarzen Meer. Der Wall hieß Polen. Die Teilung Polens war die große Torheit aller Völker und des Großen Friedrich selber, von dem das heutige Deutschland stammt! Wenige Jahre, nachdem man Polen zum letzten Male geteilt, ritten schon die ersten Kosaken durch die freie Schweiz! Wir waren da! Wir wurden die Nachbarn Deutschlands und Österreichs! Wir mußten unsere Bahn verfolgen ...«

»Was geschehen ist, ist geschehen! Jetzt handelt es sich darum, was geschehen soll!«

Fürst Boris Wladimirowitsch blickte lebhaft auf. Nun spiegelte sich der durch Londons Schule gegangene Staatsmann, der mit Willenskraft das in uferloser Stimmung verdämmernde russische Hirn in schnurgerade Kanäle des Denkens zwingende moderne Petersburger in seinen Augen eines innerlich weichen Nervenmenschen.

»Was werden soll, das steht bei Deutschland!« sagte er rasch und klar, wieder im Ton des Westens, wie ihn die haarspaltende Verstandesschärfe politisierender Londoner und Pariser Rechtsanwälte angab. »Das müssen Sie Deutschland fragen, Baron Kerkhuß! Und auch wie es über seine eigenen Widersprüche hinwegkommen will!«

»Wie das? Welche Widersprüche? Belieben Sie zu erklären!«

»Zu Beginn dieses Krieges schwur Deutschland feierlich an jenem vierten August neuen Stils, von dem wir in den Zeitungen lasen: es wolle nichts als seine Grenzen schützen! Gut! Das tat es! Es warf uns aus Ostpreußen hinaus!«

»Fahren Sie fort, Knjäs!«

»Aber wie denn? ... Man reibt sich die Augen ... Was war da? Es folgte uns über die Grenze! Es eroberte Kurland ...«

»Um die Grenzen zu schützen!«

»Wahr, Baron Kerkhuß! Aber dann mußte Deutschland euch dort sagen: Nur auf Kriegsdauer bin ich bei euch hier zwischen Polangen und Dünamünde zu Gast. Wenn Gott uns Frieden gibt, ziehe ich wieder heim! Niemals aber wurde dies Wort gesprochen!«

»Gott sei Dank nicht!«

»Man behandelte euch, als gehörtet ihr schon zu Deutschland...«

»Hoffentlich!«

»Belieben Sie, Polen zu betrachten! Deutschland nahm Warschau und rief dort ein neues, freies Polen aus. Es sucht einen Herrn für Litauen! Es begünstigt die Losreißung des ganzen reichen russischen Südens von unserem heiligen Reich. Es trifft Vorbereitungen – wir wissen es –, in Finnland zu landen und es von uns abzutrennen. Es plant den Einmarsch in Livland und Esthland!«

»Möchten die Deutschen endlich kommen!«

»Sie sprechen als Balte, Baron Kerkhuß! Ich spreche als Russe, dessen vaterländisches Herz blutet! Wollen Sie doch erwägen: Deutschland ist zur Stunde damit beschäftigt, unser Rußland in beliebige Teile zu zerlegen, wie man die Quecksilbersäule eines Thermometers in auseinanderrinnende Tröpfchen zerschlägt, viele von diesen Stücken loszureißen, teils um sie sich ganz zueigen zu machen, teils um sie auch im Frieden durch Besetzungen und Verträge zu beherrschen! Erbarmen Sie sich: Wie stimmt das damit zusammen, daß Deutschland nur zum Schutze seiner Grenzen uns den Krieg erklärte? Wollen Sie mir erläutern – mein Kopf ist von der Haft noch schwach! Ich begreife es nicht! – wie da zwei Seelen in der deutschen Natur sich offenbaren? Welcher von beiden sollen wir glauben – den Worten oder den Taten?«

»Ich glaube beiden! Deutschland versprach uns Deutschen in den Ostseeprovinzen zu helfen! Es hielt sein Versprechen und kam nach Kurland! Die russische Front ist wehrlos! So wird es bald auch zu uns nach Livland und Esthland kommen!«

»Ich verstehe Sie als Balten, Baron Kerkhuß! Aber ich kenne Sie als einen Mann von klarem und kühlem Verstande. Sagt Ihnen dieser Verstand nicht, daß, als die Deutschen über Tauroggen in Kurland einbrachen, in der Absicht, es zu behalten – daß in diesem Augenblick eine Wende der Welt im Osten eintrat – die deutsche Verteidigung sich in die deutsche Eroberung umwandelte? ... So werden eure Ostseeprovinzen dereinst, so klein sie, gegen das ganze Rußland gehalten, sind, als die Angelpunkte der Geschichte der Völker erscheinen! Durch sie trennt man uns vom Meer, erstickt Petersburg und mit ihm das Werk Peters des Großen, nimmt uns Licht und Luft, indem man uns auch im Süden vom Schwarzen Meer absperrt, zieht alle Pfeiler unter der russischen Macht hinweg – wie soll da in Zukunft Friede und Freundschaft möglich sein? ... Auch wir sind Menschen ... auch wir lieben unser Vaterland ...«

»Die Deutschen haben recht!« sagte Waldemar Kerkhuß ruhig und schroff.

»Würdigen Sie mich einer Erklärung dafür ...«

»Die Deutschen führen den Krieg weiter, weil ihr den Frieden nicht haben wolltet! Ihr konntet ihn nach dem Sturz des Zaren schließen! Ihr ließt euch durch England in neue Blutmeere jagen! So wurde die Vergangenheit nichtig, Boris Wladimirowitsch! Deutschland gewann sein Wort zurück! Es hat das Recht, uns Balten zu befreien!«

Fürst Boris Manuchins schwere, wie von einem russischen Zimmermann oberflächlich mit der Holzaxt zurechtgehauene Gestalt sank noch mehr in sich zusammen, gebrochen von dem Schicksal Rußlands.

»Auch wir sind schuldig!« sagte er leise und unruhig, mit der riesigen Hand unstet auf der Tischplatte vor sich spielend. »Manche von uns Engländerfreunden haben es erkannt. Auch ich bin unter ihnen. Ich versuche meine Genossen zu überzeugen, daß wir einen Teil des Weges zurückgehen müssen, den wir an der Hand Englands gegangen ...«

»Und Schimpf und Hohn Ihrer Freunde, Knjäs, ist Ihr Lohn!«

»Es würde mich nicht beirren, für Rußland diesen Dornenweg zu gehen! Aber Deutschland muß uns auf ihm entgegenkommen! Es muß sich wieder zu den Grundsätzen bekennen, die es feierlich, als Gott uns diesen Krieg sandte, als seine Ziele bekanntgab! Es muß verzichten ...«

»Auf was?«

»Auf alles, was russisch ist!«

»Auch auf die Ostseeprovinzen?«

»Auch auf diese!«

»Niemals!«

»So wenig wir Ostpreußen verlangen ...«

»Weil ihr besiegt und daraus vertrieben wurdet!«

»... so wenig darf Deutschland Stücke aus unserem Leibe reißen!«

»Doch! Denn es ist der Sieger!«

»Sieger und Besiegte werden niemals gute Nachbarn, Baron Kerkhuß!«

»... und die Fremdvölker sind kein Teil Rußlands! Das sagt schon ihr Name!«

Waldemar Kerkhuß war aufgesprungen.

»Man rühmt Ihre Menschenkenntnis, Fürst!« sagte er mit unterdrückter Leidenschaft. »Wie können Sie verlangen, daß der Sieger sich nicht als Sieger fühlt? Wozu vergoß er denn sein Blut? Verließ Weib und Kind, Haus und Hof?«

»Um sie zu verteidigen, Baron Kerkhuß! ... Um sie zu verteidigen! Bei Gottes Barmherzigkeit: hören Sie diese Worte! Um sie zu verteidigen! In ihnen liegt der Schlüssel der Welt!«

»Man muß sie auch gegen künftige Angriffe verteidigen und die Grenzen sichern, indem man sie hinausschiebt ...«

»... Das lehrte man Sie in Berlin!«

»... die deutschen Grenzen so weit hinausschiebt, als noch Deutsche wohnen und um Hilfe rufen – Balten um Hilfe gegen Rußland rufen!«

»... Also bis vor die Tore Petersburgs!«

»Ja! Bis in meine Heimat! Und das hörte ich nicht in Berlin! Das sagte ich im Gegenteil in Berlin den hohen Tschinowniks der Wilhelmstraße. Sie sind unentschlossen und scheuen jede Verantwortung! Auf sie ist kein Verlaß!«

»Gott sei Dank!«

»... aber sie sind auch nicht die Lenker der Dinge im Osten, sondern die, die die deutschen Heere führen! Sie haben das Blut ihrer Tapfern geopfert! Sie brennen darauf, die Früchte ihrer Siege zu ernten! Sie wollen vorwärts, sonst wären sie nicht Soldaten! Man wird sie nicht halten!«

»Ich fürchte es auch, Baron Kerkhuß!«

»Vorwärts! Bis zu uns nach Esthland! Die öffentliche Meinung des einflußreichsten Teiles der deutschen Gesellschaft steht hinter ihnen! Das sah ich in Deutschland. Sie verlangt einen Frieden, durch den noch die spätesten Urenkel erkennen, wer in diesem Krieg siegte und wer unterlag!«

Nun hatte sich auch Knjäs Manuchin erhoben, matt, den übergrauten flächsernen Urwald des Hauptes gebeugt, mit den schweren Gliedern eines Mannes, der aus dem Krankenbett oder aus der Kerkerzelle kam.

»Diesen Frieden, der Rußland seiner Länder, seiner Zukunft und seiner Lebensluft beraubt, können Sie mit uns wahren Kindern der russischen Mutter nicht schließen,« sagte er, tief aus der breiten Brust den gepreßten Atem ziehend, »sondern nur mit denen, die unsere Todfeinde in Rußland sind ...«

»Das eben ist das Verhängnis, Boris Wladimirowitsch!«

»Aber vergessen Sie es nicht, daß wir es Ihnen nie vergessen werden, daß Sie uns wehrlos unseren Todfeinden überlieferten ...«

»Deutschland ließ euch die Wahl ...«

»... und daß unsere Todfeinde auch die euren sind. Ihre Güter in Esthland werden ebenso versengt und geplündert werden wie die meinen an der Wolga!«

»Nein doch! Mich und die Balten wird Deutschland schützen!«

»Und vergessen Sie nicht, daß Ihre und meine Todfeinde auch die Deutschlands sind! Wer schließt Verträge mit Menschen, für die alles Bestehende nur wert ist, daß es zugrundegeht?«

»Ihr zwingt Deutschland dazu!«

»Und vergessen Sie nicht, daß unsere und Ihre und Deutschlands Todfeinde die Todfeinde der gesamten Menschheit sind! Wer darf wissentlich den Giftkeim über die ganze Erde streuen?«

»Der, der nicht anders kann, weil die ganze Erde wider ihn ist!«

»Und trotzdem ...«

»Ihr, ihr alle bringt Deutschland durch die Überzahl der Feinde, durch den Hunger wider Frauen und Kinder, durch das Aufgebot aller Wilden der Welt und alle Drohungen eines Irrenhauses zur Verzweiflung, und wundert euch dann, daß dem Verzweifelten jede Waffe, auch das Bündnis mit eurem und seinem Todfeind, recht ist! Schlagt an eure eigene Brust, Fürst Manuchin! Ihr habt es so gewollt!«

»Noch kann Deutschland umkehren!«

»... indem es uns Balten opfert! Nein! Auch wir sind in Verzweiflung! Auch wir kennen keine Rücksicht mehr. Wir gehen lieber mit Deutschland durch dick und dünn, statt daß wir durch Rußland untergehn! Gebt uns frei!«

»Wir können es nicht!«

»Gebt die Randvölker frei! Im Namen der Menschheit!«

»Euch Deutsche gäben wir gern dahin! Aber nicht eure Küste! Wir können ohne das Meer nicht leben! Zwanzig Jahre lang kämpften wir schon vor Jahrhunderten darum im Nordischen Krieg! Das Finnische Meer ist die enge Kehle, durch die Rußland und dahinter Asien atmet!«

Es war eine Stille.

»Und doch wird Deutschland kommen und es euch nehmen, Fürst Manuchin!«

»So mag sich die Zukunft an uns allen erfüllen! Wir kennen sie nicht!«

»Nun denn: mit Gott!«

»Mit Gott!« ...

Fern von Moskau, gegen Deutschland hin, da wo die russische Front zusammenschmolz wie der russische Schnee unter der Aprilsonne, da fuhr durch Nacht und Eiseskälte ein Zug. In ihm wärmten sich nicht gegenseitig die nach Tran und Rauch und Schweiß dünstenden Menschenknäuel, die die heimrollenden Wagen zu sprengen drohten. Je mehr der Zug sich der Westgrenze und dem Krieg näherte, desto leerer waren die besudelten, zertrümmerten, scheibenlosen Abteile geworden. Das Feldbraun hatte sich auf jeder Haltestelle durch Fenster und Türen hinausgeschwungen. Die einsame Stearinkerze warf ihr zitterndes Licht auf einen hageren, hohen, finsteren Mann, in dessen russischem Antlitz die Strenge eines Würdenträgers der alten Schule mit der dumpfen Ergebung eines von der neuen Zeit Entrechteten kämpfte.

Der frühere Gouverneur Sergej Iwanowitsch Perekrestoff fröstelte in seinem dicken Pelz. Er blickte durch den halbdunkeln Wagen. Er sah nur noch, wie einst bei Napoleons Rückzug aus Rußland, die verlorenen Überbleibsel eines Heeres. Ein einzelner Weißkopf im Militärmantel, nach den barschen und hochfahrenden Zügen ein einstiger General, saß, ohne sich zu rühren, den starren Blick geradeaus, und rauchte. Im Nebenraum die spitze Pelzmütze eines sibirischen Unteroffiziers. Die breiten Backenknochen eines lettischen Schützen. Die letzten Krieger des toten russischen Heeres fuhren noch einmal in den Krieg. Der Krieg gegen Deutschland starb. Er war tot ...

Der Gouverneur Perekrestoff seufzte. Er hatte es nicht glauben können. Nun hatte ihn der Augenschein davon überzeugt. Es hatte keinen Zweck mehr, weiter nach vorn zu dringen, von wo, aus der Nähe der Deutschen her, auch der Strom der Zurückflutenden immer spärlicher rieselte. Er kehrte um. Er reiste zurück. In Gatschina, hart vor Petersburg, kam er nicht weiter. Der Bahnhof war von hintereinander haltenden Zügen verstopft. Er nahm sich einen Schlitten und fuhr von der Petersburger Station durch die Villenstraßen hinüber nach dem baltischen Bahnhof, von dem der Schienenstrang nach Esthland abzweigte, in der Hoffnung, da wenigstens etwas zu essen zu bekommen. In pfeifendem Schneetreiben stand er weißgepudert auf dem Holzboden der offenen Halle. Vor ihm heulte der Seesturm in den Baumriesen und brüllte über die weiten Luftflächen des einstigen Zarenparks. Der Gouverneur war in früheren Jahren des Kriegs von russischen befreundeten Würdenträgern bis an die Grenze des verbotenen Reichs geführt worden, wo hinter allen Bäumen verborgene Gendarmen standen und verkleidete Wächter jedem einzelnen Spaziergänger folgten. Er hatte andächtig in der Ferne die dichte Truppenkette gesehen, die in weitem Umkreis das Väterchen, den Selbstherrscher aller Reußen, vor seinem Volk schirmte, und dahinter, zwischen Wasserspiegel und Hügel, den verwunschenen Palast selbst, vor dem der dritte und eigentliche Dienst der Geheimpolizei bis in die letzten Gemächer hinein begann. Auch jetzt schimmerte der Prunkbau mit seinen langen Säulengängen durch das kahle, von der Wut des Winters geschüttelte Geäst. Aber er lag öde und leer. Auf seinen Zinnen wirbelte vor dem Weißgrau des Schneehimmels lang flatternd wie eine Feuerzunge die rote Fahne.

Bewaffnete Männer mit roten Binden füllten den Bahnsteig von Gatschina. Ihre schweren Stiefel dröhnten auf dem Holz. Immer mehr stiegen die Treppen hinauf. Sergej Iwanowitsch Perekrestoff hatte seit jener Stunde, da das Volk von Petersburg den Grafen Herzerode vor seinen Augen zerriß, schon viele Gestalten der Unterwelt gesehen, aber kaum noch welche, die diesen furchtbaren Kerlen glichen. Sie sprachen Esthnisch miteinander, Lettisch, Russisch. Sie wollten alle über Narwa nach Esthland und Livland hinein. Und neben dem Gouverneur sagte ein alter Petersburger, der noch vor wenigen Monaten ein hochmütiger und vornehmer Tschinownik irgendeines Ministeriums gewesen war und jetzt hier mit Pilzen gefüllte Piroggen, das Stück zu fünfzig Kopeken, feilhielt, leise und warnend zu seinem früheren Vorgesetzten, den er erkannte:

»Gehen Sie nicht nach Esthland! Es bereiten sich da schlimme Dinge vor!«

»Gegen wen?«

»Gegen die Deutschen dort! Sie sehen ja diese Mordbrenner hier! Tag und Nacht gehen aus Petrograd die Züge. Hüten Sie sich! Man könnte auch Sie für einen Freund der Deutschen halten!«

In dem hoffnungslosen Antlitz des Gouverneurs, der noch zu Anfang dieses Jahres für den Zaren ein Gebiet so groß wie ein europäisches Königreich verwaltet hatte, zuckte ein Widerschein des alten, tief eingewurzelten Deutschenhasses.

»Warum geht es jetzt, wo alles zu Ende ist, noch einmal gegen die Balten?«

»Wie denn nicht? Wo es in ganz Rußland gegen das geht, was diese Barfüßler da die Burschuis nennen! Im Baltenland drüben bestehen die höheren Stände nur aus Deutschen! Also sind es die Deutschen, die dort umkommen sollen! ... Wie? Ein halbes Rubelchen sei zu viel für diese Piroschki? Erbarmen Sie sich, Gospodin! Sie haben Geld genug, mein Ernährer! ... Würdigen Sie Ihren Diener eines Almosens!«

Der adlige Petersburger Bettler verbeugte sich unterwürfig vor einem Vorübergehenden. Der Gouverneur Perekrestoff schluckte ein paarmal heftig vor Grauen und Gram über diese Welt und wandte sich ab. Als er schweren Trittes dem Ausgang zuschritt, den jetzt kein Schweizer mehr in silberbetreßtem rotem Rock und Dreispitz bewachte, sah er unter dem rohen, stumpfen, wilden Gesichtergewirr umher ein Antlitz, das ihm bekannt schien. Er blieb stehen. Irgendwo hatte er diesen blonden jungen Mann mit den großen blauen Augen, dem blonden Schnurrbart und dem blonden Saarschopf über der Stirn schon einmal gesehen, obwohl jener jetzt wie alle um ihn unter schneefeuchtem Mantel eine abgerissene Uniform trug. Eben trat er ein paar Schritte seitwärts, um sich in einem windgeschützten Winkel hinter der Schirmkappe in der Hand die eben gedrehte Papyros anzuzünden, und bei dem leichten Hinken seines Gangs kam dem Russen drüben jäh die Erinnerung. Er stellte sich neben ihn und sagte halblaut:

»Baron Kerkhuß ... sind Sie es?«

»Sie sehen: hier bin ich es nicht!«

»Und doch trafen wir uns an jenem furchtbaren Novembertag in Petersburg im Hause des Fürsten Manuchin!«

Waldemar Kerkhuß schaute um sich. Es war niemand in der nächsten Nähe. All die Gestalten, die ihm äußerlich glichen, waren damit beschäftigt, wie Seeräuber ein Schiff, in wildem Gedränge Türen, Fenster, Plattformen und Dächer des vorgefahrenen Zuges zu entern.

»Ja. Die Zeiten haben sich seitdem geändert!« sagte er. »Nun – ich muß einsteigen!«

»Wo kommen Sie her?«

»Aus Kronstadt. Man hat dort meinen jüngsten Bruder ermordet. Er versuchte mit anderen Offizieren an Bord seines Schiffes die Ordnung wiederherzustellen. Ich konnte seine Leiche nicht finden. Sie liegt im Meer.«

Der Gouverneur Perekrestoff schwieg eine Weile. Dann frug er dumpf:

»Wo wollen Sie hin?«

»Nach Esthland zurück. Meine Heimat geht zugrunde.«

»So hörte ich. Es ist das Schicksal der Deutschen!«

»Es ist das Schicksal derer, die den Krieg gegen Deutschland entfachten! Wir Balten wollten diesen Krieg nicht. Noch jetzt eben durchstreifte ich vergeblich ganz Rußland und warb um Frieden mit Deutschland!«

Der Nordsturm umfing die beiden mit heulenden Stößen. Sie gingen in flatternden Pelzen auf den dumpfhallenden, von unzähligen Tritten vereisten Holzbohlen des Bahnhofs auf und ab, um sich zu erwärmen. Sergej Iwanowitsch Perekrestoff sagte in einem Ton verbissenen Hasses, der die eisige, flockendurchwirbelte Luft um sie mit seiner Glut zu erfüllen schien:

»Nun: Deutschland schließt ja Frieden! Mit diesen Menschen da um uns schließt es ihn, denen nichts heilig ist als das Nichts selber und deren einziger Glaubenssatz die Zerstörung ist!«

Waldemar Kerkhuß zuckte stumm die Schultern. Der Gouverneur fuhr fort:

»Mit diesen Leuten will Deutschland in Frieden und Freundschaft leben! Aber zugleich will es doch euch Balten vor ihnen retten?«

»Ja doch! Ja!«

»Also muß Deutschland dieselben Menschen, mit denen es in Rußland gegen uns Frieden schließt, in den Ostseeprovinzen für euch bekämpfen! Können Sie mir diesen Widerspruch erklären, daß der gleiche Mensch in Brest mein Freund und in Dorpat mein Feind sein soll?«

»Nein. Aber es ist mir gleich!«

»... daß ich ihm am Bug die Hand schüttele und ihn am Peipussee aufhänge? Das geht nicht in meinen Kopf. Der Krieg hat ihn wohl verwirrt ...«

»Ich denke nur an meine Heimat!«

»... daß diese Leute zwar sofort hingerichtet werden, wenn sie beim Vormarsch der deutschen Truppen ihnen mit der roten Fahne entgegentreten, daß sie aber dieselbe rote Fahne in der deutschen Reichshauptstadt selbst, in unserem Botschaftspalais Unter den Linden, frei im Winde werden flattern lassen dürfen? Glauben Sie nicht, daß jeder Zwiespalt im Handeln sich rächt, und daß es dem Menschen nie gut bekommt, wenn er sich selbst verleugnet? Mit dem besten Windhund kann man nicht zwei Hasen zugleich jagen, mit der siegreichsten Armee nicht zwei entgegengesetzte Ziele zugleich verfolgen, Baron Kerkhuß!«

»Ich bin Balte! Ich warte auf die Deutschen! Ich schaue nach ihnen aus! Die Deutschen müssen kommen!«

Waldemar Kerkhuß wandte sich ab. Er erkannte, daß es höchste Zeit war, den Zug zu besteigen. Er rief:

»He, Kameraden! Seht mein lahmes Bein! Nehmt mich noch mit!«

Er eilte, den Fuß nachschleifend, die Wagen entlang und glich dabei ganz einem russischen Gemeinen, der seinen deutschen Denkzettel am Leibe trug. Sein etwas hartes Russisch fiel hier an der Schwelle des Baltenlandes nicht auf. Hilfreiche Fäuste streckten sich ihm entgegen und zogen ihn in das von Menschen, Gewehren, Beutesäcken vollgepfropfte Innere, und zugleich setzten sich die Räder des roten Zugs in Bewegung und rollten wie das Verhängnis selber in der Richtung nach Esthland.


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