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13.

Der Krieg hatte die gewohnten Pforten der alten Welt geschlossen. Der Verkehr der Menschen erzwang sich neue Seitenwege wie der vom Deich gestaute Wasserschwall. Er flutete in absonderlichen Schlangenwindungen. Die großen, alten Verkehrsstränge lagen tot. Dafür belebten sich weltverlorene und längst vergessene krumme Pfade und spannten sich in einem abenteuerlichen Netz über Europa.

»Das ist der Krieg, mein lieber Wladimir Timofeïtsch!« sagte der greise Baron Bertil Butwengen zu dem Petersburger Bankier und Politiker Gulewitsch, den ihm der Zufall in Finnland als Reisegefährten in dasselbe Abteil gesandt hatte. Er sprach wie immer in der Öffentlichkeit Französisch und fuhr fort: »Diese Dinge fangen an lächerlich zu werden! Auf die Dauer wirkt das Bizarre ermüdend! Wie war das sonst? Man belegte seine Nummer im Nordexpreß. Man reiste in zwei Tagen, ohne umzusteigen, vom Ostbahnhof in Paris nach dem Warschauer Bahnhof in Petrograd. Man führte sein eigenes Bettzeug mit. Mein Kammerdiener war ein fixer Kerl. Er holte sich auf den Stationen vom Lokomotivführer heißes Wasser und rasierte mich auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Berlin. Er lief wieder zur Lokomotive, steckte sein Bügeleisen in die glühenden Kohlen und brachte mir hinter Wilna meinen aufgebügelten Anzug. Im Speisewagen gab es immer schöne Welt. Man fand Bekannte. Man plauderte. Man hörte zu. Man intrigierte. Ah – mancher kleine Dolchstich, von dem man vor Herbesthal noch nichts wußte, war hinter Eydtkuhnen schon geschehen, nachdem man unterwegs in Berlin noch Vertrauliches hinter der hohlen Hand aus Kopenhagen gehört! Das waren schöne Zeiten! Aber jetzt ...«

»In der Tat! Eine Auslandsreise ist heutzutage ein Opfer, das man dem russischen Vaterland bringt!«

»Eine Reise? Ein Rösselsprung ist es, Wladimir Timofeïtsch! Von Paris nach Boulogne! Mit der Korkweste und Chamforts philosophischen Maximen als Lektüre über den Kanal. Von Dover nach London. Von London nach Edinburg. Wieder Chamfort. Wieder die Korkweste. Gut. Du bist in Bergen. Jetzt, im beginnenden Winter, durch Norwegen und Schweden. Zum drittenmal die Korkweste. Wieder hinaus in die Schären. Auch hier keine Sicherheit mehr auf See, seit die Deutschen unsere Ostseeinseln nahmen! Nun brachte uns die Vorsehung wenigstens schon wohlbehalten bis nach Finnland!«

»Schon beinah durch Finnland durch! Wir nähern uns bald der russischen Grenze!«

»Sie strotzen vor Gesundheit, Wladimir Timofeïtsch! Sie haben starke rote Wangen und feurige dunkle Augen. Sie sind noch ein Jüngling ...«

»Schon Fünfzig nach Gottes Willen! Schon Fünfzig!«

»Nun – was ist das gegen mich mit meinen Fünfundsiebzig? Sie könnten mein Sohn sein! Für mich ist das eine Strapaze, halb Europa zu umkreisen! Und für nichts, mein Bester, für nichts!«

Der alte baltische Diplomat lehnte in sich zusammengesunken, mit gekrümmtem Rücken, so daß seine bäumlange, unheimlich hager gewordene Gestalt nicht so endlos wie sonst die übrigen Menschen überragte. Sein Kopf schien im Verhältnis zum Körper noch kleiner geworden, mumienartig in seinen spöttischen Furchen eines greisen Weltmanns vertrocknet, mit schneeweißem, spärlichem Haar und kleinem, hochmütig gesträubtem weißen Katerschnurrbart. So saß er, ein Ahasver der russischen Politik, an dem die Völker und die Zeiten vorübergeflutet waren, von der Bauernbefreiung Alexanders des Zweiten bis zum Sturz des letzten Romanows vor einem halben Jahr.

Gospodin Gulewitsch, der Petersburger Millionär und Anhänger des Westens und Freund des Fortschritts und der Freiheit, und namentlich der Freiheit, sein Geld so gewinnbringend und ungehindert unter den Menschen kreisen und für sich arbeiten zu lassen, wie das in Londons Stock Exchange und der Pariser Börse geschah, Gospodin Gulewitsch hatte eine feiste Gestalt und ein schlaues Gesicht, auf dessen vollen roten Backen und starken Lippen doch der breite russische Lebensgenuß vor einer brutalen Tatkraft für höhere russische Ziele zurücktrat. Er hielt für sein Teil auch die Fäden zwischen Petersburg und London, und namentlich die goldenen Fäden, in der Hand. Er sagte:

»Am so mehr ist es anzuerkennen, Exzellenz, daß Sie in Ihrem hohen Alter Ihre diplomatische Erfahrung dem bedrängten Rußland nicht vorenthalten!«

Baron Bertil Butwengen zog die mächtig gewölbte, das kleine Gesicht überschattende und nach oben sich in die elfenbeinerne Glatze verlierende Stirne in unzählige kleine Altersrunzeln, unverhohlene bange Sorge warf sie auf, wie der Wind die kleinen Wellen auf einem sonst unergründlich glatten und verschwiegenen Teich.

»Ich hatte mich schon nach Esthland auf mein Gut zurückgezogen!« sagte er. »Ich dachte da mich noch einige Zeit zu konservieren, ein Fossil, zur Belehrung für die Jugend und die neue Welt, so wie sich ja auch das Mammut im Gedanken an kommende Wissensbedürftige im Eise einlagerte. Meine Tage waren um, seitdem man den Selbstherrscher nach Sibirien schickte. Ich überließ gern euch Neuen, euch westlich Aufgeklärten, euch Fortschrittlichen das Feld. Ich fing an auf meinem Gut in Esthland meine Memoiren zu schreiben ...«

»Auch Casanovas Memoiren, Exzellenz?«

»Alles, alles, mein Freund! Die Frauen und die Politik kann ein Mann der alten Schule wie ich nicht trennen! Wie ihr neuen Männer das haltet, das weiß ich nicht. Ich sah als Philosoph zu, wie ihr zusammen mit dem englischen Botschafter daran gingt, ein Volk von einhundertachtzig Millionen Muschiks, Kosaken, Popen, Altgläubigen, Tataren, Barfüßern, altrussischen Kaufleuten, Sibiriaken, Nihilisten – wie ihr daran gingt, diese analphabetischen russischen Seelen so zu behandeln, als ob es englische Arbeitsritter wären! Ich dachte mir: England ist weise. Es weiß, was es tut ... Es hatte seine Gründe, den Kreml ohne Zaren und Rußland ohne Selbstherrscher zu lassen ...«

Der alte Butwengen verzog sein eingeschrumpftes Fuchsgesicht zu einer Grimasse unverhohlener tiefster Angst. In diesem Augenblick war er, der Vielverschlagene, wirklich ehrlich. Sein alterskluges Antlitz verriet, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, was er dachte.

»Ja aber, um Gottes willen – was habt ihr denn da angestellt?« sagte er mit gedämpfter, bebender Stimme. »Schon diesen Herbst schrieb ich besorgte Briefe an Manuchin, meinen alten Klubfreund und auch einen der euern! Der Knjäs antwortete: ›Nitschewo! Die Aufklärung geht bei uns unbeirrt ihren Gang! Rußland marschiert!‹« »Das tut es!«

»Aber wohin marschiert es? »Es marschiert ja immer weiter, viel weiter, als ihr wollt! Es kümmert sich gar nicht mehr um den Takt, den ihm eure berühmten Kapellmeister an der Themse schlagen! Hand aufs Herz, Wladimir Timofeïtsch: Welcher Teufel ritt denn diese Engländer, zu glauben, sie wären bei sich daheim und eine Handvoll liberaler Petrograder Politiker und Klubredner sei Rußland – sei der Muschik, den man in einem Menschenleben nicht auslernt – und der Muschik, den wir bis zum Ural und Altai hin bewaffnet haben, sei ein Gurkha oder Sikh und jederzeit bereit, für den Londoner Sterlingkurs zu sterben? Nein, mein Freund: der Muschik ist modern geworden, er will nicht mehr sterben!«

»Wahrlich! Alle Nachrichten lauten beklemmend!«

»Er will nicht mehr kämpfen! Denn er weiß, dank euern Engländern, nicht mehr, wofür!«

»Die Lage ist ernst!«

»Sie ist so ernst,« sagte Baron Butwengen, »daß ich auf meine alten Tage mich von dem alten Metier nicht freimachen konnte und wie ein Skelett aus dem Sarge stieg und dies Gerippe nach London schleppte, wo man mich seit fünfzig Jahren kennt, um in letzter Stunde zu warnen! Aber mein Instinkt für elektrische Spannung sagt mir: Es ist zu spät! Ihr habt den Bär von der Kette gelassen! Aber nun tanzt er nicht mehr nach eurer Pfeife, sondern fletscht die Zähne und fällt euch an!«

»Wenn die furchtbaren Gerüchte über Petrograd wahr sind, die den Zug erfüllen ...«

»Wenn sie heute nicht wahr sind, so werden sie es morgen sein!« Der alte Diplomat hatte die ungewohnte Aufwallung schon wieder hinter sich. Aber es war doch ein tiefer, bitterer Ernst um seine dünnen, sonst ironischen und zu einem frivolen Witz bereiten Lippen, während er fortfuhr: »Und was dann – wenn unser Muschik nicht mehr die Massengräber füllen will, sondern euch Westliche in diese Gräber einladet – wer kann euch dann allein noch retten?«

Gospodin Gulewitsch schwieg. Der alte Butwengen nahm ihm die Antwort von den sinnlich und brutal geschwungenen Lippen.

»Der Deutsche! Wenn der Deutsche die Zeichen des Ostens recht versteht, wird er euch helfen, und ihr, die russische Gesellschaft, müßt seine Hilfe annehmen, um nicht unterzugehen! Dann hat England sein Spiel in Rußland verloren, aber ihr Engländerfreunde in Rußland auch!«

»Wenn der Deutsche das begreift...«

»Und wenn ihr nicht etwa blind seid!... Oder gar beide Teile... wir Russen und die Deutschen...«

Baron Butwengen verfiel in alterstrübes Sinnen. Wie Schattenbilder der Erinnerung eines langen Lebens zogen draußen die Rauchwirbel der Lokomotive vorbei, ballten sich in luftigem Geisterkampf, lösten sich in nichts. Der einstige Diplomat dreier Zaren seufzte in leisem Schauer vor dem Nichts, dem er entgegenfuhr. Er sah vor sich mit seinen fünfundsiebzig Jahren das Grab. Aber dies Grab dünkte ihn im schweigenden Sinnen seines klugen, greisen Kopfes selbst für seine Kirchturmlänge zu groß. Es dünkte ihn so groß, wie das ganze heilige Rußland selbst...

An den Fenstern glitt das ewig gleiche Wandelbild Finnlands vorüber, die weiten Wasserflächen, die dunklen Wälder, die kahlen Granithügel, die weißschäumenden Wasserfälle und Stromschnellen und an ihnen die Fabriken, die rotbraunen Bauernhäuser und hölzernen Städtchen. In dem Zug kümmerte sich niemand um die Landschaft. Es war da eine merkwürdige Unruhe. Gespannte, sorgenvolle Gesichter, ein Hin und Her auf dem Gang, gedämpfte, erregte Stimmen: Russisch, Schwedisch, Französisch, Englisch. Dies Menschenhäuflein aus dem Westen lebte vom russischen Krieg, brauchte ihn, verdiente an ihm – durch die britische, die amerikanische, die französische und die japanische Botschaft am Hofkai, in der Furschstadtskaja und am Quai Français von Petrograd flossen die Goldströme in die Taschen der Geldmänner von London und Tokio, Paris und New York. Die Angelsachsen in dem Eisenbahnzug schienen die eigentlichen Herren Rußlands. Die nüchterne Geschäftsmäßigkeit ihrer hageren Züge sprach abgeschwächt auch aus den Gesichtern der anderen: Nur weiter in diesem Kurs seit dem Sturz des Zaren! Alles ging gut, und die Aktionäre im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten, in der Republik an der Seine und auf den Inseln des Fusijama hatten fette Tage, solange der Wind von Westen die russischen Segel blähte. Stockholm war die Eingangspforte zu den Goldgruben Halbasiens, die Pforte zwischen zwei Weltteilen. Was dort in Tuscheln, Geheimnissen, rätselhaften Menschen aus allen Ecken der Erde die überfüllten nordischen Karawansereien mit einem seltsamen, rötlichen Widerschein des Kriegs überzog, das fand seinen Weg nach Petrograd. Ein Blutgeruch lag über diesen Gestalten ehrbarer Kaufleute. Ob sie aus dem Land der unbeschränkten Möglichkeiten oder aus dem Reich der Pfirsichblüte kamen, – keiner von ihnen hatte je draußen das Schwalbengezwitscher einer Kugel gehört, das feierlich-starre, weißgelbe Antlitz und die über der Brust gekreuzten Fäuste eines Gefallenen gesehen. Sie wußten nichts von blutigem Stroh und Schreien und Flackerschein eines nächtlichen Verbandplatzes in zerschossener Kirche, sondern von trockenen Witzen gutgelaunter Börsenbesucher. Aus Giftgas und Höllenmaschinen blühten ihnen ihre Gärten Eden. Aus den Tränen der Witwen und Waisen schufen sie die Perlen für ihre Frauen und Töchter. Der Höhenrausch der unermeßlichen Ausbeutung des russischen Riesenreichs fieberte in den kalten Augen Englands und seiner Vasallen.

Und doch waren da die Sorgen. Sie huschten wie Fledermäuse durch die Wagen. Schattenhaft. Nur in Bruchstücken von Gesprächen, flüchtigen Augenblicksbildern draußen zu fassen. Wenn der Zug auf den Stationen hielt, hörte man auf den hölzernen Bahnsteigen das aufgeregte Schwedisch der Notabeln des Landes, das lärmende Finnisch des Volkes. Es wimmelte von Lammfellmützen, braunen Mänteln, Bajonetten, Kalmückengesichtern. Aber man konnte nicht erkennen, ob diese Truppen von der Front kamen oder ob sie nach Petersburg gingen, und was sie dort wollten. Man sah nur, daß der stumpfe, stumme und ergebungsvolle Gleichmut des Muschiks geschwunden war. Diese bewaffneten und uniformierten Bauern lärmten, rauchten, sprachen mit aufgeregten Arm- und Schulterbewegungen aufeinander ein. Ungewohnte, unheilverkündende Gestalten drängten sich auf dem Grenzbahnhof zwischen ihnen. Einer der Mitreisenden wies durch das Fenster auf sie:

»Geflüchtete Petersburger! Sie reisen auf ihre finnischen Sommersitze am Meer und den Wasserfällen.«

»Auf ihre Datschen? Jetzt im Winter?«

»Sie scheinen ihre Gründe zu haben!«

»Rufen Sie sie doch an!«

»Es ist zu weit!«

Finstere Gendarmen gingen durch die Wagen und prüften die Pässe. Das war wie sonst. Es beruhigte. Man atmete Heimatluft. Der alte Butwengen hatte die Tür seines Abteils offen gelassen. Er vernahm, als der Zug weiterrollte, auf dem Gang ein nervöses und gedämpftes russisches: »In Petrograd wird gekämpft!«

Ein mitfahrender Russischdäne aus Moskau übersetzte es in das Englische und Französische. Ein Pariser Greis von der Hochfinanz zuckte schweigend zusammen. Ein Yankee gähnte stirnrunzelnd hinter der hohlen Hand. Die Briten saßen mit steinernen Gesichtern. Die Japaner lächelten höflich. Die Skandinavier schauten ernst darein. Die Russen konnten ihre Anruhe nicht mehr verbergen. Sie standen auf und stellten sich an die Fenster. Auf dem nächsten Bahnhof war ein neues Getümmel. Ganze Petersburger Familien mit Sack und Pack, Matratzen, Samowar und Kruzifix, Pelzbündeln, Kinderwagen, Eßkörben, Schmucktaschen pfropften sich in den großen, hellen Abteilen des von Süden einlaufenden Zugs. Kraftwagen schossen in der Richtung aus Petersburg her auf der zerfahrenen und verschneiten Landstraße dahin und rasten gen Norden.

»Wir werden gar nicht in die Stadt hineinkommen! Alle Brücken nach den Inseln und der Wiborgschen Seite sind gesprengt!«

»Belieben Sie: wer sagt das?«

»Sie rufen es aus dem Petersburger Zug.«

» Ah, blague!« brummte verächtlich der Pariser Börsengreis, dem man es verdolmetscht hatte. Aber sein fettes Hamstergesicht war unter dem weißen Henriquatre bleich vor Sorge um die dreißig Milliarden der dritten Republik.

Die Räder rollten. Stockten. Standen still. Mitten auf der Strecke. Baron Bertil Butwengen raffte seine lange Gestalt ungeduldig in die Höhe, trat auf den Gang hinaus und quetschte sich resigniert zwischen erregte Menschen, Papyrossenwolken und vielsprachiges Stimmengewirr. Er hörte unter sich:

»Was ist los?«

»Wir können nicht weiter!«

»Warum das?«

»Es war da irgend etwas mit dem dritten Reserveregiment!«

»Nein doch! Verwirren Sie doch hier nicht die Dinge! Das dritte Reserveschützenregiment ist es!«

»Das dritte Maschinengewehrregiment. Ich hörte es deutlich!«

»Meuternde Truppen!« erklärte der Däne. »Es heißt, sie halten die Stationen bis Petrograd besetzt.«

»Nicht Landtruppen! Belieben Sie doch endlich zu begreifen! Es sind die Matrosen der Kronstadter Flottenequipage!«

»Nein. Es sind die Junkerschulen aus Oranienbaum!«

Baron Butwengen verzog keine Miene des hochmütigen kleinen Geierkopfes. Er hörte zu, mit der zweifelnden Gelassenheit des alten Weltmannes. Neben ihm sagte der greise Franzose mit zitternden Lippen:

»Krieg ist Fieber! Im Fieber deliriert man! Gestehen wir uns, daß das alles Einbildung ist, meine Herren!«

»Horch! Schüsse!«

Einen Augenblick war alles still. Auch von draußen, aus dem Novemberschnee, kam kein Laut. Ein Irrtum! Man lachte wieder gezwungen, während der Zug noch langsamer, als sonst in Rußland üblich, weiterfuhr, man scherzte über die Angst des anderen mit der eigenen Angst im Herzen. In den Gruppen der Kriegspolitiker und Kriegslieferanten des Westens wurde man wieder ernst.

»Man hat den Zaren gejagt, weil er zu schwanken anfing!«

»Für das neue Rußland gibt es kein Schwanken! Der Krieg geht weiter!«

»Wenn nicht das neuste Rußland das neue Rußland ablöst...«

Einen Augenblick stieg, während man schon wieder hielt, die Unterwelt vor den Blicken empor. Gestalten aus dem Nachtasyl. Wirrmähnige Schwarzarbeiter. Berußte Scharen aus dem Feuerschein der Putilow-Werke. Und immer riesigere Massen, bis zum Horizont anschwellend, feldbraun, zahllos – die russischen Heere, die heimwollten, und zwischen ihnen unzählige Hebräer, vom schwarzen Kaftan aus dem beßarabischen und polnischen Ghetto bis zu dem sieben Sprachen beherrschenden, auf deutschen und französischen Hochschulen gebildeten weltmännischen Anarchisten.

Ein Ruck in den Rädern. Ein Aufatmen. Das rote Gespenst verflog. Der Zug ging weiter. Eine lachende gegenseitige Schauspielerei der Sorglosigkeit. Gott sei Dank! Es waren ja alles nur unsinnige Gerüchte, von den Deutschen ausgesprengt! Da haben wir ja schon Pergalowo hinter uns! In der Ferne spannt sich weithin die rauchgraue Trübung einer riesigen Stadt vor dem Winterhimmel. Wir nähern uns Petrograd...

Die Alexanderbrücke über die breite Newa war nicht zerstört. Es war überhaupt nichts zerstört. Der alte Butwengen lächelte spöttisch. Er hatte sich das gleich gedacht. In seinen Biberpelz gewickelt, die Bibermütze auf dem Kopf, wie ein mittelalterlicher Bojar anzusehen, fuhr er im Auto über die Gagarinskaja den Fluß entlang, in dessen trüben, graubraunen, vom ersten Eishauch überzogenen Fluten sich wie in den Glanzzeiten des versunkenen Zarentums majestätisch und stundenweit die Paläste spiegelten. Am Rand der weiten überschneiten Fläche des Marsfeldes wälzten sich undeutliche, schwärzlich wogende Menschenströme gegen die Panteleimonbrücke. Baron Butwengens französischer Kammerdiener, der wie ein ältlicher Schauspieler von der Comédie française aussah und mit dem Gepäck seinem Herrn, jeden Augenblick unentbehrlich, gegenübersaß, zeigte mit einem schmerzlichen Zucken des glattrasierten Gesichts nach den roten Fahnen, die sich über dem Meere von Köpfen bewegten, und erzählte etwas, was er in der Eile auf dem Bahnhof vernommen: vom Taurischen Palast und dem Smolny-Institut. Aber der alte Butwengen wollte nicht hören. Er schloß unwillig die Augen, um das Rot wie eine Sinnestäuschung zu verscheuchen, winkte mit der Hand ab und vergrub sich in der Ecke, den Kopf in seinem Pelz, wie der Vogel Strauß in dem Sand.

An dem sanften Lauf des Kraftwagens merkte er bereits, daß die Fahrt von den holprigen Granitköpfen der Außenstraßen auf dem Asphalt- und Holzpflaster des Newskij-Prospekts und der großen, nach dem Mittelpunkt der Stadt, der Admiralität, zusammenlaufenden Perspektiven weiterging. Das war sein Reich. Das war das vornehme Petersburg mit seinen Salons, seinen Sphären, seinen glatten Parketten, seinem halb orientalischen ewigen Ränkespiel der Großen. Von den Fenstern des Hotels, in dem er abgestiegen, hatte er zu Beginn des Krieges, ehe er nach Bukarest ging, Tag für Tag die Völkerwanderung nach dem Westen miterlebt und den Taumel allrussischer Begeisterung, der sie begleitete. Das Läuten der Glocken, die Geschäftigkeit hoher Wohltäterinnen in Schwesterntracht, den Weihrauch, die Kirchenbanner, die barhäuptigen, singenden Massen des Volkes in der Glut des Juli russischen Stils. Auch jetzt zogen auf der breiten Straße, in der kalten, grauen Nebelluft, unordentliche Trupps von Bewaffneten, liefen Matrosen, wälzte sich die Menge. Aber der Kammerdiener, der seine Sprache wiedergefunden hatte, meldete, von unten kommend, seinem Herrn: die Genossen vom Pawlowschen Regiment widersetzten sich dem Befehl, der die ganze Petersburger Besatzung an die Front rief! Auch die Preobraschenzen selber! Auch die finnische Garde ... Rußland wankte ...

Der alte baltische Aristokrat trat mit einer Grimasse des Abscheus von dem Fenster zurück. Er hatte unten einen Panzerkraftwagen mit im Sturme flatterndem roten Banner vorbeiziehen sehen, aus dessen Luken Maschinengewehre äugten. Hinter der Straßenecke, um die das Ungetüm gebogen, krachte es. Ein kurzes, bellendes Hämmern verhallte. Die Menschen unten waren wie eine sturmgepeitschte Welle nach der einen Ecke der Straße zusammengelaufen. Jetzt wimmelten sie wieder fieberhaft, als sei nichts geschehen, und der Kammerdiener sagte mit einem bedauernden Lispeln:

»Es wird immer mehr seit gestern geschossen! In der Millionaja soll man die Toten auf Karren fortgeschafft haben!«

In der Millionaja, hart am Sitz der Regierung, lagen die Kasernen der einst erlesensten Gardetruppen, eigentlich jede Kaserne für sich eine kleine Stadt oder eine kleine Festung. Wenn dort Blut floß, dann floß es im Kampf zwischen Winterpalais und Kasernen. Dann zog das Ende aller Dinge empor. Baron Butwengen ahnte das. Sein durch Jahrzehnte zu spöttisch-wissenschaftlichem Denken geschulter Verstand gestattete ihm keine Täuschung. Er stand und starrte, als wäre es doch eine Luftspiegelung, auf die unten vorbeirollenden Lastkraftwagen, auf denen die rote Fahne flog und neben dem Maschinengewehr vorn, wie Eingeweide aus einem aufgeschlitzten Leib, der patronengespickte Ladestreifen lang herausgequollen niederhing, diese Wagen, auf denen Männer in Pelzmützen und Arbeitermänteln mit Gewehren standen und rote Bänder von den zerzausten Köpfen junger Mädchen wehten, diese Wagen, von denen ständig im Fahren Taubenschwärme aufzuflattern schienen, so massenhaft wirbelten, von halbwüchsigen Burschen oben geschleudert, die weißen Flugblätter auf die Straße. Ein Gestrudel und Gebalge hinterdrein, ein Geschrei von tausend Stimmen. Baron Butwengen schüttelte mißbilligend und abweisend den Kopf und begab sich, zum Ausgehen fertig, hinunter in die Empfangsräume des Hotels.

Eine Gestalt aus guten, alten Tagen stand da. Ein hoher, grauhaariger, russischer General, in Kniestiefeln und weiten Hosen, alle Kriegsorden seines Landes auf der breiten Brust. Zwei Leibdiener in langem, schwarzem, mit Patronengurten benähtem Tscherkessenrock wie die Schatten zum Schutz hinter ihm. Offiziere kamen fortwährend vorgefahren, sprachen aufgeregt und leise mit ihm, sprangen wieder auf die einsitzigen Droschken und rasselten davon. Schwere Kammerschläge dröhnten fortwährend. Es war, als schlösse man einen riesenhaften Sarg.

»Die Junker der Garde, die hier wohnen, lassen ihre Feldlisten zunageln! Sie folgen heute abend dem Befehl an die Front!«

»Und die Truppen?« frug der alte Butwengen finster. Der Hotelportier lächelte geschmeidig.

»Schließlich werden sie auch gehen! Ja, das Volk wird sich beruhigen. Es wird keinen Frieden wollen! Vor Sir Buchanans Haus steht es und singt mit entblößtem Haupt die englische Nationalhymne!«

»Ja, für fünf Rubelchen für den Kopf!« rief ein junger Mann und ging vorbei.

»Einer unserer Aufgeregten aus dem Taurischen Palais, Exzellenz! Es hat nichts zu bedeuten! Unser ganzes Haus ist voll von vornehmen Engländern, Franzosen, Amerikanern, die in Ruhe die Wiederkehr der Ordnung abwarten! Sie belieben, sich zu Seiner Erlaucht, dem Fürsten Manuchin, zu begeben? Rasch doch, Schweizer! Ein Automobil für Seine Exzellenz!«

Knjäs Boris Wladimirowitsch Manuchin saß schwer, bärtig, den Rauch der Papyros durch die breiten Nüstern stoßend, gleich einem mächtigen, in Londoner Kleidung gesteckten Muschik, im Palmengarten seines Palastes in der Mitte zahlreicher Freunde und Anhänger. Er trug einen schwarzen Flor um den Arm. Sein Schwager in Esthland war vor wenigen Wochen gestorben, so einsam gestorben, daß die Leiche des alten Wiffenhausen auf Narraks den ganzen Tag steil aufrecht, mit kriegerischem Gesichtsausdruck in dem Lehnstuhl inmitten der großen Windhunde gethront hatte, bis ein Diener sie fand.

»Nun – mit Gott!« sagte Graf Wittekind von Herzerode in stark betontem Russisch, während sonst, schon der als Gäste anwesenden britischen Agenten wegen, fast nur Englisch und von den Damen Französisch gesprochen wurde, und dies ›z'bogom‹ klang obenhin und spöttisch, während er, äußerlich ein langer, vornehm aussehender, schmalschultriger Stutzer in angelsächsisch-gebeugter Haltung und doch eben durch diese lässige Weichheit der Bewegungen das slawische Blut seiner Mutter verratend, nach dem luftdicht verklebten Fenster ging und die kleine Luke in ihm aufstieß, durch die allein man im russischen Winter frische Luft in das Hausinnere ließ.

Durch das offene Scheibenviereck kamen mit dem eindringenden kalten Nebel der Newa kurze, scharfe Laute, die wie ein Durcheinander von unregelmäßigem Peitschengeknall und fernen Hammerschlägen klangen. Fürst Manuchin wandte, unwillig über die Störung, den graublonden Urwald seines Bartes und Haares erst nach dem Fenster, dann wieder zu seinen englischen Gästen und sagte, mit der Ruhe eines Klubmannes:

»Mißverstehen Sie diese beschämenden Äußerlichkeiten nicht, meine teuren Herren, die Petrograd heute dem westlichen Beschauer bietet! Diese Zügellosigkeiten der Straße, deren Zeugen Sie leider seit einigen Tagen sind, sind nichts als die letzten Nachzuckungen des gestorbenen Absolutismus, der eben für die Straße nur die Kosaken zur Beruhigung bereit hielt, statt des wohltätigen Einflusses einer geregelten öffentlichen Meinung, an deren Aufbau die russische Gesellschaft seit einem halben Jahr arbeitet. Diese wohltätige Wirkung englisch-freiheitlichen und weise gemäßigten Denkens wird langsam, aber sicher auch bei uns eintreten! Vergessen Sie nicht, Gentlemen, daß Britanniens Freiheit ungefähr so viele Jahrhunderte zählt als die unsere Monate! Es handelt sich für die Vaterlandsfreunde darum, daß man am Strande der Newa diese, uns durch Englands Hilfe und nach englischem Vorbild überkommene Freiheit so besonnen und aufgeklärt gebraucht wie an den Ufern der Themse! Dafür sind wir, ich und meine Gesinnungsgenossen, da! Wir werden dafür sorgen, daß besonnenes Denken nicht in ungezügeltes Handeln ausartet! Verlassen Sie sich darauf!«

Der Fürst schloß. Er hatte mit der selbstsichern Geläufigkeit eines westlichen Weltmannes gesprochen, für den das Deutschland von heute ungefähr das Rußland von gestern war. Er war mit sich zufrieden und, wenn er die verbindlichen Gesichter der Briten und die andächtige Stille der anderen beobachtete, mit der Wirkung seiner Worte auch. Er stand schwerfällig, aber rasch auf und ging dem alten Butwengen entgegen, dessen hagere Kirchturmgestalt sich zwischen den feuchten Blättern der Palmen in den Raum schob. »Gott sandte Sie!« sagte er nach der Begrüßung. »Sie kommen aus dem Ausland. Erzählen Sie! Seit wann sind Sie wieder in Petrograd? Wie lange gedenken Sie zu bleiben?«

Baron Butwengen hatte sich gesetzt. Er schien den Russen und Briten verändert. Auf den verschrumpften Zügen des alten Diplomaten, der sich seit einem halben Jahrhundert die Verwunderung über Menschen und Dinge abgewöhnt hatte, lag ein starres, schreckensvolles Staunen.

»Wann ich kam, Fürst?« versetzte er und hüstelte. »Vorhin! Wann ich reise? Wenn es noch möglich ist, mit dem Abendzug nach Esthland!«

»Warum so eilig?... Sie erschrecken uns!«

»... weil ich den Weltuntergang wenigstens auf heimischem Boden erleben möchte!«

»Den Untergang?«

»Ja, sehen Sie denn nicht, daß wir alle hier schon gestorben sind und es noch gar nicht wissen?«

Das Wort klang unheimlich aus dem welken Greisenmund. In der tiefen Stille fand Baron Butwengen wieder seine alte, oberflächliche Art.

»Geben Sie wenigstens ein Glas Tee, Fürstin!« sagte er. »Man bedarf der Stärkung. Die Welt geht uns durch wie ein zweijähriger Hengst! Ich bin zu alt, um noch nach den Zügeln zu greifen. Ich bleibe als Philosoph im Wagen sitzen, bis er umstürzt!«

Das Glas klirrte in der Hand der Hausfrau und wäre beinahe hingefallen, so ganz in der Nähe dröhnte ein Donnerschlag durch das offene Fensterchen. Graf Wittekind von Herzerode schloß es und versetzte auf russisch – er sprach keine andere Sprache:

»Es müssen Geschütze aufgefahren sein! ... Bei der Reitbahn der Chevaliergarde ...«

»Oder bei der Kaserne der Gardes à cheval

»Sie haben nie gedient, Graf Gerzerodde!« sagte ein kleiner, dicker General, das Georgskreuz am Hals. »Sonst würden Sie erkennen, daß man den Kanonendonner vom Kanal her hört. Der Aufruhr kommt von drüben, vom Smolny-Kloster!«

»Ein Aufruhr? ... Welcher Aufruhr ... belieben Sie?«

»Aufruhr aus einem Mädcheninstitut!« sagte Graf Herzerode spöttisch lächelnd.

»Sie wissen, daß man dort Tag und Nacht den Umsturz predigt ...«

»... daß man Tag für Tag dort in endlosen Reden den sofortigen allgemeinen Weltfrieden verlangte!

»Über der Newa ist die Peter-Pauls-Festung! Hinein mit ihnen allen!«

»Gehen Sie doch hin, General, und holen Sie sie mitten aus den Kronstädter Matrosen und lettischen Scharfschützen heraus!«

»Schickt Gendarmen!«

»Wo sind denn noch Gendarmen?... Wo sind denn noch Kosaken?... Die Kosaken in Petrograd haben sich bereits neutral erklärt. An was kann man sich denn noch hallen? ... Es ist ja keine Ordnung mehr ...«

Die Angelsachsen sahen sich an. Kalte Besorgnis war in ihren Augen. Draußen klang eine helle Stimme.

Der alte Butwengen fuhr aus dem Schweigen der Erschöpfung auf, in dem er mechanisch unter einer Zwangsvorstellung, die immer schnelleren Kanonenschüsse vor den Fenstern zählte, und begrüßte mit den anderen die stürmisch eingetretene Nichte des Hauses. Kaja von Wiffenhausen stand, wie sie aus dem Schlitten gestiegen war, in dem gläsernen Palmenbau. Ein frischer Winterhauch umwehte noch ihre blonde hohe Gestalt. Aber die Wangen ihres schönen Antlitzes waren trotz der Kälte draußen blaß. Sie warf den kostbaren Seeotterpelz über einen Stuhl, so daß darunter das Schwarz der Trauer um ihren Vater, den alten Wiffenhausen auf Narraks, ihren königlichen und biegsamen Wuchs noch hob, und sagte:

»Schon an der Isaak-Kathedrale mußte ich umkehren! Hunderte von Soldaten und Kerlen und Weibern reißen da das Holzpflaster aus der Straße und bauen Barrikaden!«

»Schießt ihnen den Plunder entzwei!«

»Sie haben ja selbst die Geschütze!«

Kaja Wiffenhausen zog die Füße aus den hohen, pelzgefütterten Lackgaloschen, die sie achtlos in die Ecke stieß, und band sich den Schleier von dem schönen Haupt.

»Dicht hier, an der Nikolausbrücke, liegt auf der Newa ein großes Kriegsschiff mit roten Fahnen an allen Masten. Niemand weiß, was auf den Inseln vorgeht! Aber die Peter-Pauls-Festung feuert auf das Winterpalais!«

»Wo sind die Minister?«

»Alle im Winterpalais versammelt!« sagte der General. »Ich weiß es. Sie geben nicht nach. Es wird kein Frieden mit Deutschland geschlossen! Keine Sorge, meine Herren Engländer und Amerikaner!«

Auf der Straße war ein Brausen, das man plötzlich durch die fest verfugten, mit Moos gepolsterten Doppelfenster hörte.

»Sie ziehen vorbei!«

»Es nimmt kein Ende!«

»Sieh nur die Fahnen! Kannst du die Inschriften lesen?«

»Lieber nicht!« sagte Graf Wittekind von Herzerode und drehte sich um. Er hatte gute Augen, aber er, der blasierte und ironische Petersburger, war bleich geworden.

»Höre die vielen Stimmen ...«

»Sie singen ...«

»Nein ... Sie rufen ...«

»Was denn?«

»Ich kann das Wort nicht verstehen ...«

»He, Ossip ... was ist das mit dem Volk da unten?«

Der Oberdwornik, der Hauptpförtner, verbeugte sich tief:

»Es sind Towartschi, Erlaucht ...«

»Kameraden ...«

»Kameraden, Euer Erlaucht ... Sie tragen rote Binden um den Arm und rote Achselaufschläge auf den Kronsmänteln und rote Kokarden an den Mützen...«

»Und was schreien sie ...«

»Nieder mit den Burschui!«

Die Engländer verstanden nicht. Graf Herzerode er klärte es ihnen mit einem gezwungnen Lächeln:

»Burschui – das sind Sie und ich und der hier und die Londoner Gentlemen und meine Kusine Kaja ... In den Augen dieser Leute sind wir alle Bourgeois!«

»Wenn sie zu Macht kommen, ist der Krieg zu Ende ...«

»Zu Ende!«

»Es gibt Frieden mit Deutschland?«

»Ja.«

Alle standen vorsichtig, um nicht von verirrten Kugeln getroffen zu werden, seitlings der Fenster und spähten hinaus auf das unheimliche, widerspruchsvolle Bild dieser riesigen, nordisch-grauen und doch südlich-heiß fiebernden Stadt, dieses bisher gelobte Land aller Kronsuniformen, in dem jetzt der schmutzbraune Soldatenrock, die zerrissene Arbeiterbluse, der umgedrehte abgewetzte Schafpelz des Bauern herrschten. Sie schauten stumm und bang nach diesen Inseln und Ufern voll riesiger Paläste, Kasernen und Kathedralen, wo vor kurzem noch der Kosak mit geschwungener Bleikugelpeitsche über das dröhnende Holzpflaster galoppiert war und alles bei den feierlichen Klängen des »Gott erhalte den Zaren« stehend ehrfurchtsvoll das Haupt entblößt hatte, und wo nun immer neue rotüberflatterte, wimmelnde, schreiende, singende Ameisenhaufen die breiten, mit dem Lineal gezogenen Perspektiven überschwemmten.

»Was jubeln sie da unten?«

»Torpedogeschwader sind in Eilfahrt von Finnland hierher unterwegs!«

»Die Torpedoboote können bis vor das Winterpalais fahren!«

»Und die Minister?«

»Sie weigern sich, abzudanken und das Palais zu verlassen! Es heißt, der englische Botschafter sei bei ihnen!«

»O – dann ist alles gut!« sprach der fürstliche Hausherr andächtig. Er hatte das Wort »England« gehört. Er hatte wieder Mut. Die Gesichter der Franzosen entspannten sich. Mr. Mac Nalta schlug plötzlich gleichgültig, wie im Klub, ein Bein über das andere. James Spalding sagte mit dem Lächeln eines Tierbändigers, als sei Petrograd ein mächtiger Raubtierzwinger und er der Zähmer mit der Peitsche darin:

»Man muß das Weiße im Auge sehen lassen. Nichts hält der Mann auf der Straße weniger aus!«

»Aber dieser Mann da auf der Straße ...« Graf Herzerode machte eine jähe Bewegung und zeigte hinab.

»Wo ... wer?«

»Vor Ihrem Hause, Knjäs ... Der Mann, der eben dem Iswoschtschik das Pack Rubelscheine in den Handschuh drückt...«

»Dafür, daß er mit dem Fuhrmann hier noch durchkam!«

»Er sieht verwahrlost genug dazu aus, um durchgelassen zu werden!«

»Wie eben aus dem Urwald gekommen!...«

»Er kommt auch aus dem esthnischen Wald!« sagte Wittekind von Herzerode zwischen den Zähnen leise auf russisch: »Kaja ... mein Täubchen ... erkennst du ihn nicht?«

»Bei der heiligen Mutter Gottes von Kasan ...«

»Er ist's ...!«

»Er kann es nicht sein!«

»Doch, meine Seele: es ist unser Vetter Waldemar Kerkhuß...«

»Der Deutschgesinnte?«

»Der Deutschgesinnte!«

»Er wagt es, sich öffentlich zu zeigen?!«

»Er ist schon in Ihrem Hause, Boris Wladimirowitsch.«

»Die Diener werden ihn über die schwarze Treppe hinausführen...«

»Die Diener ... belieben Sie ... wo sind Ihre Diener?«

»Das Haus ist leer...«

»Ihre Diener sind entlaufen!«

»Und dafür ist der erste Deutsche hier...«

Der Fürst Manuchin hatte sich erhoben. Durch die englische Tünche des Ruriksprößlings brach jetzt wieder der Pariser Kulturschliff seiner Kinderstube. Er sprach auch unwillkürlich Französisch, während er sich mit der Ironie der Boulevards an den Eintretenden wandte:

»Immer originell, Baron!... Sie werden nicht müde, der Welt Gesprächsstoff zu liefern! ... Welch ungewöhnliche Tracht wählten Sie jetzt wieder, um der Fürstin die Hand zu küssen ...«

Waldemar Kerkhuß stand auf der Schwelle, die Schirmmütze in der Faust, den gelben Haarschopf über den wildleuchtenden, blauen Augen, in abgetragener Kleidung und hohen, russischen Stiefeln, als habe die Brandung des Aufruhrs, der draußen grollte, eins ihrer Geschöpfe an diesen Strand geschleudert. Sein Vetter Wittekind näherte sich ihm kaltblütig, die Papyros zwischen den Zähnen.

»Du kommst, dich verhaften zu lassen? Es war die höchste Zeit! Gedulde dich eine Zigarette lang. Man wird sofort dem Viertelsmeister telefonieren!«

»Da ist kein Telephon mehr und kein Isprawnik und nichts mehr von jestern ...,« sagte Waldemar Kerkhuß, und alles umher zuckte bei den fremden, baltischen Klängen zusammen. Es waren die ersten deutschen Worte, die seit mehr als drei Jahren in diesem Hause fielen. »Da seid ihr nicht mehr und Petrograd nicht mehr und Rußland nicht mehr ... All das ist jewesen ...«

»Und doch wird man dich heute nacht in der Peter-Pauls-Festung schlafen lassen! ...«

»Oder dich! Aber nein! Es jibt keine Jefängnisse mehr! Alle Straßen sind frei, alle Eisenbahnen! Ich hörte es in Esthland. Ich verließ mein Versteck. Ich kam unanjefochten bis hierher ...«

»Um das Glas Tee zu trinken, Waldemar Konstantinowitsch, das Ihnen die Fürstin einschenken wird?«

Das Wasser sang und die Holzkohlen glühten in dem Schlot des halbmannshohen, aus alter Moskauer Bojarenzeit stammenden kupfernen Samowars unter dem Heiligenbild in der Ecke. Die Dame des Hauses rührte sich nicht, um die Zitronenscheibe in das dampfende Glas zu legen. Waldemar Kerkhuß sah auch gar nicht hin. Er sagte rasch und hart und jetzt auf russisch und glich, wie er da, die Kappe in der Hand, mit langen Haarsträhnen über dem langen Rock und mit beschmutzten Stiefeln stand, selbst einem Sendboten des ungeheuren, gärenden, werdenden, untergehenden Reiches da draußen:

»Ich bin seit gestern in Petrograd! Ich fahre von Haus zu Haus! Ich beschwöre alle, die es angeht! So komme ich auch zu Ihnen, Fürst ...«

»Sie sehen mich entzückt ... und überrascht ...«

»Knjäs: was soll dieser Geist von früher? Nicht um eure Pariser Nadelstiche und englischen Schlagwörter dreht sich jetzt die Welt. Rußland brennt von Asien bis Europa...«

»Werden Sie es löschen, Baron Kerkhuß?«

»Wir alle können es ... jetzt noch ... in letzter Stunde ...«

»Ich beglückwünsche Sie ...!«

»Wir können es, wenn wir ihm und uns, am Rand des Abgrunds, die Binde von den Augen nehmen!«

»Was für eine Binde? Erklären Sie sich!« Es blinzelte spöttisch aus den graugrünen Pupillen des Fürsten Manuchin: »Eine weiße Binde vor den Augen? Sind wir denn Parlamentäre?«

»Wir sollten es sein!«

»Und wem sollten wir mit dem weißen Tuche winken?«

»Deutschland!«

»Ah – ich wußte es ...,« sagte der anglisierte Bojare in dem tiefen, grimmigen Schweigen, das dem verhaßten, von allen Nationen im Zimmer verstandenen russischen Wort »Germania« folgte. »Wickeln Sie sich eine Papyros, Baron Kerkhuß! Es wird Ihre Nerven beruhigen!«

»Sie sind nicht dumm, Fürst, Sie sind Mitglied der Duma. Sie sind einflußreich! Sie sind einer von denen, die ihr heiliges Mütterchen russische Erde um Englands willen töten! Darum komme ich zu Ihnen! Ich fahre seit gestern bei allen meinen Feinden in der Runde! Meine Freunde brauche ich nicht erst zu überzeugen!«

»Bei uns Gegnern der deutschen Tyrannei – ich bin untröstlich, es Ihnen gestehen zu müssen – wird es Ihnen noch weniger gelingen!«

»In Englands Sklaverei seid ihr, nicht in deutscher! Da drüben, Fürst, diese Gentlemen, die mich mit gähnendem Mund und den Händen in den Hosentaschen anstieren, dort in der Ecke sitzen eure Henker. Wozu habt ihr erst die Leibeigenschaft abjeschafft? Ihr seid nun hundertsechzig Millionen Leibeigene des Westens! Die Franzosen erpressen euer Korn, die Amerikaner euer Geld, die Engländer euer Blut ...«

»Ich kenne diese ermüdenden Phrasen aus dem Taurischen Palais ...«

»Die Deutschen eure Tyrannen! Das sagen Sie gerade mir, einem Balten, dessen Sprache eure Tschinowniks, dessen Glauben eure Popen, dessen Nichte eure Zaren seit Jahrzehnten mit Füßen getreten haben! Aber es gibt keinen Gossudar mehr und keinen Tschin. Rußland ist frei und reif zum Frieden mit Deutschland!«

»Fahren Sie zum Smolny-Institut und erzählen Sie es dort!«

»Es tut nicht not! Das Smolny-Institut ist schon unterwegs, um es euch in die Ohren zu rufen! Es schreit laut genug!«

Der Kanonendonner im Admiralitätsviertel hatte sich verstärkt. Die Fensterscheiben klirrten bei jedem neuen Schlag.

»Was bringt Pomeranzeff?«

Der beleibte Staatsrat warf sich mit geblähten Nüstern und verquollenen Augen in einen Schaukelstuhl und wiegte sich, um seine Unruhe zu beschwichtigen, stürmisch auf und ab.

»Perekrestoff folgt mir auf dem Fuß! Es steht schlimm! Noch haben wir Verbindung mit dem Winterpalais! Aber wer weiß, wie lange...«

»Noch könnt ihr die Macht behalten!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Das Volk will nichts als Frieden! Gebt ihm den Frieden! Schließt Frieden mit Deutschland, und ihr habt Rußland wieder hinter euch!«

»Gegen fixe Ideen sind Diskussionen keinen Farthing wert!« versetzte Fürst Manuchin gedämpft auf englisch zu seiner Umgebung, als wollte er sie vor einem Geisteskranken warnen.

»Dieser Friede wird doch kommen! Wenn nicht durch euch, dann gegen euch! Er wird euch wegschwemmen und das ganze Rußland, das ihr seid, dazu ...«

»Von den Deutschen bestochen?«

»Ja.«

Die Briten murmelten es in sachlicher Ruhe in der Ecke. Sie ließen ihren Feind nicht aus dem Auge.

»Warum wollt ihr freiwillig ins Grab? Ihr seht alle gar nicht so aus, als ob ihr euch nach Armut und Elend und frühem Tode sehnt! Gospodin Pomeranzeff am wenigsten! Was heißt das: für London sterben, wenn man mit Berlin leben kann ...«

»Wer spricht hier von Berlin?«

»Ein Verräter Rußlands, Perekrestoff!«

»Und niemand da, ihn zu verhaften!«

Der Provinzgouverneur Perekrestoff, ein riesiger, breitschulteriger, einem finsteren russischen Bauern ähnelnder Mann, war ein unheilverkündender Bote der Zeit: er trug über dem Ordensband seiner Uniform, um auf der Straße nicht aufzufallen, einen gestickten, groben braunen Soldatenmantel und eine verblichene Soldatenmütze auf dem borstigen, dunklen Haar.

»Wo ist denn noch Ordnung?« sagte er. »Kronstadt ist in den Händen der Matrosen. Helsingfors. Eben kam Nachricht: auch Reval ging heute zu ihnen über!«

Waldemar Kerkhuß zuckte zusammen. Sein leidenschaftliches Gesicht verfärbte sich.

»Weil ich das fürchtete, kam ich her!« sagte er. »Mögt ihr euch, weil Gott euch mit Blindheit schlug, den Westlichen zum Opfer bringen und, wie der Zar, mit einem englischen Eselstritt gelohnt werden! Aber dieser Sturm da draußen, der euch wegbläst, bringt wohl eurem Rußland den Frieden mit Deutschland, aber meiner Heimat, bis zu der Deutschlands Arm nicht reicht, den Untergang! Wenn ihr Russen leben wollt und wir Balten mit euch, dann sagt es jetzt, in letzter Stunde, den Deutschen! Sie sind jeden Augenblick zum Frieden bereit!«

»Krieg!«

»Krieg mit Deutschland!«

»Angriff auf allen Fronten!«

»Man jlaubt, Wahnsinnige zu hören!« sagte Waldemar Kerkhuß auf deutsch zu seinem Vetter Herzerode. Der lächelte höhnisch und erwiderte auch auf deutsch, in dessen ungewohntem Klang der Tonfall des Halbbalten durchdrang:

»Es wird dir nicht gelingen, uns Russen noch einmal durch deutschen Geist zu vergiften ...«

»Graf Gerzerodde: Sie sind in Petrograd!«

»Belieben Sie, sich zu erinnern, daß wir mit Deutschland im Kriege sind ...«

»... und bleiben!«

Aber Graf Wittekind Herzerodes hochmütige Züge ging wieder die asiatische Welle, das Erbteil seiner mütterlichen Ahnen von reinem Slawenblut.

»Ich gebrauchte die deutsche Sprache auch nur,« sagte er auf russisch, »um dem Baron hier desto nachdrücklicher zu versichern, daß keine Macht der Erde Rußland auf dem Weg zu seiner geschichtlichen Sendung aufhalten wird!«

»Auf dem Weg nach Konstantinopel,« grollte der Gouverneur Perekrestoff mit seiner an den Baß eines Kirchensängers erinnernden tiefen Stimme. Aber dumpfer noch und wuchtiger antworteten draußen die schweren Schläge der Geschütze.

»... und auf dem Umweg über Berlin, das vor Konstantinopel steht!«

»Als ihr einst in Moskau wart, wolltet ihr nach der Ukraine!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Als ihr in Kiew wart, wolltet ihr in die Ostsee. Als ihr in Reval und Riga wart, wolltet ihr in das Schwarze Meer. Als ihr in Odessa und der Krim wart, wolltet ihr nach dem hohen Norden. Als ihr in Finnland wart, wolltet ihr nach der Weichsel. Als ihr in Warschau wart, wolltet ihr nach Kurland. Als ihr in Mitau wart, wolltet ihr nach dem Kaspischen Meer. Als ihr im Kaukasus wart, wolltet ihr nach dem innersten Asien. Als ihr in Samarkand wart, wolltet ihr nach Armenien. Als ihr in Kars wart, wolltet ihr nach Rumänien. Als ihr in Kischineff wart, wolltet ihr nach Persien. Als ihr in Europa wart, wolltet ihr nach Sibirien. Als ihr in Irkutsk wart, wolltet ihr nach dem Stillen Ozean! Während Rußland zusammenbricht, wollt ihr nach Berlin! Wo ist denn da ein Maß? Wo ist denn da ein Ende?«

»Rußland ist endlos!«

»Rußland ist unermeßlich!«

»Rußland ist die Welt!«

Noch einmal stieg der bärtige, breitnüsterige, schlitzäugige Nebelriese aus dem nordischen Grau. Noch einmal bäumte sich, in der Dämmerung des Winterabends, die sich schattenhaft über das einstige Zarenreich senkte, gleich einem feuerspeienden, die alte Welt erschütternden Krater der allrussische Größenwahn empor, der jahrzehntelang durch Petersburger Politiker und Moskauer Professoren, durch Heilige der Wunderklöster und Hofgenerale entfachte, durch Englands geduldigen Blasebalg genährte, durch Deutschlands ewige Nachgiebigkeit, Höflichkeit, Dienstbereitschaft, Friedensbeteuerung von Jahr zu Jahr gesteigerte asiatische Höhenrausch. Die Augen des Staatsrats Pomeranzeff glänzten im Fieber der Macht, während ihm der Angstschweiß auf der Stirn perlte.

»Wir ließen Sie ausreden, um uns an Ihren Worten zu begeistern, Baron Kerkhuß!« rief er und verstärkte seine Stimme. Denn die Donner des Aufruhrs grollten störend hinein. »Es gibt nur zwei Reiche dieser Welt! Das Reich der Erde: Rußland! Das Reich des Wassers: England!«

»Die Luft können Sie Deutschland lassen, Baron Kerkhuß!« sagte der Fürst Manuchin mit einer trockenen Ruhe, wie er sich die eines Londoner Staatsmanns vor den fünfhundert Zylinderhüten und Keule und Wollsack von Westminster dachte. »Als Rußland und England sich die Hand reichten, vermählten sich Wasser und Erde und wurde die Welt vollkommen, indem sie ihre eigenen Widersprüche beseitigte und die Gesetze der Natur zur Grundlage der menschlichen Entwicklung machte. Diese Entwicklung ist das Recht auf Freiheit. Diese Freiheit wohnt im Westen. Ihr Pol ist London, ihr Gegenpol New York. Von dort läuft der elektrische Funke, der die Menschheit beseelt, um die Erde.«

Er schwieg, befriedigt von seinen eigenen Auslassungen, denen, nach seiner Hoffnung, jeder Brite Beifall klatschen konnte. Waldemar Kerkhuß trat auf den englischen Knjäs zu und legte ihm die Hände auf die Schulter:

»Wollen wir denn nicht alle Recht, Boris Wladimirowitsch? Wollen wir denn nicht alle Freiheit? Aber ist das Freiheit, wenn ihr euch auf Englands Befehl lieber durch die deutsche Feindeshand töten laßt, statt die deutsche Freundeshand zu ergreifen ...?«

» England for ever! Darf ich Sie bitten, mein Haus zu verlassen, Baron Kerkhuß!«

»Dann wünsche ich Ihnen wohl zu sterben!« sagte Waldemar Kerkhuß und ging.

Während er noch, äußerlich einem blondmähnigen Mann aus dem Volke ähnlich, in seinen Transchaftstiefeln über die Bocharateppiche der Treppe hinabstieg, war der Raum hinter ihm voll von englischen Lauten. Die Briten wollten wissen, wer dieser aufgeregte Hausverwalter oder sonstige Angestellte gewesen.

»Einen deutschen Agenten hatten Sie vor sich!« sagte Fürst Manuchin in leisem Englisch. »Einen Vorläufer der deutschen Heere ...«

»... oder des deutschen Friedens!« bestätigte der Baß des Gouverneurs.

»Einen steckbrieflich verfolgten Hochverräter!« ergänzte der Staatsrat.

»... und Sie lassen solch einen Mann aus dem Zimmer?«

»Sie überliefern ihn nicht den nächsten Behörden?«

Fürst Manuchin machte eine Bewegung der Hoffnungslosigkeit, in der er, der Westliche, auf einmal wieder ganz Russe war.

»Belieben Sie: wo sind denn noch Behörden?... Die allgemeine Unordnung brach an. Die Zeiten sind vorbei, da an jeder Straßenecke ein Stadtsoldat stand.«

Er wies mit dem ergebungsvoll zugekniffenen rechten Auge hinaus in die Weite, in das Chaos, das da draußen gärte, in die Massenschreie, Einzelrufe auf der Straße, in denen man alle Stimmen Rußlands zu vernehmen glaubte, den Kampf und Sturm der Geister von den Renntiertundren bis zu den Kronsflotten, von der Mongolei bis in die Schützengräben, von den Tatarendörfern am Aral bis in die feurigen Öfen der Munitionsfabriken drüben über der Newa. Es war, trotzdem doch Engländer im Zimmer waren, eine Schwäche und ein Schwindel um den Fürsten Manuchin, als ob alles wankte, der Himmel einstürzte, die Erde sich öffnete, das Meer über die Ufer schäumte. In den jähen Sprüngen des slawischen Naturells schlug seine eben noch zum Siegesrausch gesteigerte Stimmung in stumpfe Schicksalsergebung um.

»Sie meinen: wir hätten ihn hier an Ort und Stelle festnehmen sollen?« sagte er zu Pomeranzeff. »Aber: haben solche Menschen nicht Waffen wie Flöhe am Leibe?«

»Wie sollte er nicht Waffen haben? Aber wir hier waren zahlreich genug ...«

»Er ist jung! Wir sind alt und gebrechlich!«

»Graf Gerzerodde ist auch jung!«

»Hätten wir gewußt, daß dieser Mann ein deutscher Mann war,« sagte einer der langen Briten langsam, »so hätten wir keine Furcht gehabt, sondern ihn mit ein paar guten Schlägen niedergeboxt!«

Er vermied es, dabei irgendwie den Grafen Wittekind von Herzerode anzusehen. Aber der hörte doch das phlegmatische Wort von »Furcht«, den Tadel Englands an einen feigen Diener, und den Zusatz: »Wir verlieren unser Spiel, wenn die Dinge nach dem Willen dieses Mannes laufen, der da eben ging.«

»Nun ... er ist fort ...«

»Da hinkt er ja eben über den Prospekt!«

»Er kommt langsam vorwärts mit seinem steifen Bein!«

Graf Herzerode sprang jäh auf.

»Die Gentlemen haben recht!« sagte er kurz und barsch auf russisch zu seinen Freunden. »Was soll man im Westen von uns denken, wenn wir uns hier drinnen vor teutonischen Systemen, draußen auf der Straße vor vaterlandslosen Ideologen beugen? Noch ist die breite, allrussische Erde kein Tummelplatz für feindliche Intellektuelle!«

»Gut. Doch wer sollte den Baron verhaften?«

»Ich.«

»Nehmen Sie sich in acht...«

»Ich bin als erster dazu berufen. Denn er ist mein von der heiligen Sache Rußlands abgefallener Verwandter. Gott strafte mich mit ihm! Ich werde ihm folgen. Ich werde Wohlgesinnte finden, die mir helfen, ihn unschädlich zu machen!«

»Nun denn: Mit Gott!«

Nachdem Wittekind von Herzerode das Zimmer verlassen, hörte man eine Weile nichts als draußen die wirren Schreie, Schüsse, Rufe. Der General horchte.

»Das Feuer ist regelmäßig geworden!« sagte er mit der Gelassenheit des Feldes. »Man merkt, daß geordnete Truppen gegeneinander kämpfen!«

»Es heißt, sie sind schon am Englischen Klub!«

»Wie mag es im übrigen Rußland aussehen?«

Der General warf sich einen alten, verschossenen Soldatenwachpelz um die Schultern und fuhr in die Galoschen.

»Perekrestoff und ich werden gehen!« sagte er, von dem riesigen Provinzgouverneur zu den anderen schauend. »Sollen wir uns von Gerzerodde beschämen lassen, in dessen Adern, trotzdem er zu uns wahrhaft russischen Leuten gehört, doch deutsches Blut strömt? Wir wollen uns selber überzeugen, ob diese Stunde alles verschlingt, was wir Russen erstrebten, vom Testament der alten Katharina bis zur Schlacht von Lemberg!«

Die beiden hohen Kronsgehilfen, der vom Militär- und der vom Zivil-Tschin, bekreuzten sich und traten in das Freie. Ihre alten Mäntel und schmutzigen Soldatenmützen schützten sie in dem schattenhaften Laufen, Lärmen, Feuerzucken, Knallen auf den dunklen Straßen. Vor den riesigen, roten Granitsäulenreihen der Isaak-Kathedrale blieb der Gouverneur stehen.

»Wir können nicht weiter!« sagte er. »Schmecken Sie das Pulver in der Luft? Man kämpft um das Winterpalais!«

»Die Kameraden arbeiten sich vorwärts!« schrie es neben ihm.

»Die Junker halten sich immer noch!«

»Die Peter-Pauls-Festung feuert!«

Über die breite Fläche der Newa hin brüllten sich die ehemalige Hochburg der Zaren auf der einen und die einstige Zwingburg der Opfer der Zaren, die da in den unter dem Wasserspiegel gelegenen Kerkern schmachteten, gegenseitig mit feurigen Zungen durch die Nacht hin an. Man konnte es vom Isaaksplatz nicht sehen. Die mächtige Kuppel der Kathedrale wölbte sich dazwischen. Auch auf ihren Granittreppen, hart neben den beiden unkenntlichen Würdenträgern der alten Zeit, brandete der Sturm der Stunde in einer wilden Menschenwelle um zwei Männer herum. Die beiden standen sich oben auf den Stufen im Halbdunkel gegenüber. Der eine deutete mit ausgestreckter Hand auf den anderen und redete in leidenschaftlichem Russisch zu der Menge.

»Gerzerodde!« murmelte in finsterer Besorgnis der Gouverneur. Sein Gefährte nickte in stummer Beklemmung. Sie hörten Graf Herzerodes hochfahrende Stimme:

»Er ist ein Deutscher! Ergreift ihn, Brüder! Russen, rettet Rußland! Der Feind steht mitten unter euch gläubigen Seelen!«

»Wie denn ein Feind?« sagte Waldemar Kerkhuß ruhig zu dem Volk.

»Ein Deutscher, ihr Söhne Rußlands!«

»Da ist kein Russe und kein Deutscher!« Waldemar Kerkhuß breitete die Arme aus. Die feierliche Bewegung wirkte hier, an der Vorschwelle Asiens, auf die an die seherischen Gestalten des Ostens, an Wundertäter, heilige Mönche, büßende Pilger, gnadenspendende Kirchenbilder gewöhnten Augen. »Da ist ein Mensch, ihr Menschen, der den Frieden will...«

»Hört ihn!«

»Hört ihn nicht! Er will den Frieden mit Deutschland!«

»Den Frieden mit Deutschland und den Frieden überall! Lange genug beleidigten sich die Kinder Gottes! Die Zeit des Bluts ist um!«

»Herr, erbarme dich! Dieser Mensch spricht wahr!«

»Hütet euch! Der Deutsche spricht aus ihm!«

»Wahrlich, er spricht aus mir!« sagte Waldemar Kerkhuß. »Denn der Deutsche bietet euch den Frieden. Wir alle wollen uns verbeugen und das Kreuz vor der Brust schlagen und in unser Dorf heimgehen!«

»Wahr, Brüderchen – wahr!«

»Es wurde Blut genug vergossen. Es wurden genug Tränen geweint. Es floß Schweiß genug. Macht ein Ende! Das ist meine Rede!«

»Deine verräterische Rede! Hier steht der russische Judas, ihr Russen! Er will den Deutschen dienen!«

»Und du – was willst du?«

Ein riesiger Kerl hatte sich neben dem Grafen Herzerode hingepflanzt. Das blutrote Muschikhemd mit Ledergurt leuchtete unter dem offenen Pelz und zeigte trotz der Winterkälte die breitgewölbte, behaarte Brust. Die Flachssträhnen fielen ihm bis auf die Schultern. Der Trangeruch der hohen Stiefel und der scharfe Dunst der Schafwolle, der bittere Holzrauch der Badstube umwehte ihn. Er sah aus wie ein Stück menschgewordene, durch dreijährigen Kanonendonner aus Stumpfheit und Dumpfheit erwachte russische Bauernerde. Er spuckte einen Sonnenblumenkern aus und wiederholte, die Hände im Gürtel, sich breitbeinig in den Hüften wiegend:

»Was willst du?«

Graf Wittekind von Herzerode beachtete die bangen Zeichen der beiden Freunde unten nicht. Er sagte laut:

»Ich gebe dir die Antwort eines Russen: den Krieg!«

»Du willst, daß man uns weiter tötet?«

»Muß es nicht sein, ihr Brüder?!«

»Gut – dann mache du den Anfang!«

Die beiden hohen Tschinowniks am Fuß der Stufen sahen nur, daß Wittekind von Herzerode die Arme jäh in die Luft warf und in einem kurzen Feuerknall zusammenbrach. Gleich darauf war der Körper in der Masse verschwunden, die sich über ihn stürzte. Der Gouverneur riß den General am Arm mit sich.

»Fort! Fort! Sonst reißen sie auch uns in Stücke!«

»Helfen kann ihm keiner mehr!«

Sie zogen sich langsam, unbemerkt zurück. Im Gehen murmelte der riesige Gouverneur durch den Lärm des fernen Kampfes ein Gebet:

»... und erbarme Dich des Knechtes Gottes, Wittekind Ludwigowitsch Gerzerodde!«

»Sein Name war deutsch!«

»Seine Seele russisch!«

»Gott aber liebt die Halben nicht!...«

Das Palais Manuchin lag nach der Straße zu verschlossen und verdunkelt. Nur in den verschneiten Hof fiel der Lichtschein des Gemachs, in dem der Knjäs mit seinen letzten Freunden, den Engländern, zusammensaß. Die anderen alle hatten sich scheu und auf verstohlenen Wegen in ihre Häuser entfernt. Auch der alte Butwengen war still in das Dunkel hinaus.

»Nun: ihr kommt zurück! Was geht draußen vor?«

»Rußland bricht zusammen!«

Ein tiefes Schweigen. Aus dem fernen Getöse an der Newa ahnte man das Krachen des stürzenden Kolosses.

»Als Nikolaus Romanow in dem Winterpalais, um das man jetzt kämpft, vor drei Jahren die Mobilmachung gegen Deutschland unterschrieb,« sagte langsam der Gouverneur Perekrestoff, »da unterzeichnete er das Todesurteil des alten Rußland!«

»Und vielleicht sein eigenes!«

Die beiden Briten hatten sich gähnend in das Nebenzimmer zurückgezogen. Sie murmelten miteinander.

»Ein schimpfliches Ding – dies hier heute!«

»Und doch gut ...«

»Rußland wird in einem Menschenalter nicht wieder auferstehen!«

»Und unser Zweck, Rußland in diesen Krieg mit Deutschland zu bringen, ist erreicht. Rußland ist nicht mehr! Von jetzt ab sind wir in Indien vor ihm sicher ...«

»... und haben in Asien freie Hand!«


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