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3.

»Es ist nichts, Baron Kerkhuß! Der Knall kam nicht von den Deutschen!« sagte einer der beiden jungen russischen Fürsten in Gardeuniform. »Ein Gummireif platzte! Steigen wir aus!«

Der Kraftwagen, in dem sie zur Front in Ostpreußen fuhren, stand schräg auf der einsamen, verschneiten Landstraße, die Fahrer knieten neben ihm, wuchteten ihn hoch und lösten die Mutterschraube der Felge. Die zwei langen, vornehm-dünnen Petersburger Offiziere schlenderten lässig voraus.

Waldemar Kerkhuß folgte ihnen nicht. Er stand fröstelnd, den Kragen seines Bibermantels hochgeschlagen, die schwarze Lammfellmütze über den Ohren, in der weiten grauen Leere des nahen Kriegs, aus dem sich hundert Schritte vom Weg ein deutscher Herrensitz hob. Er war nicht zerstört. Die russische Garde, die hier lag, überließ das der Linie und den Kosaken. Der Baron Kerkhuß sah das verlassene deutsche Herrenhaus in Gedanken verloren an, dann ging er langsam darauf zu und trat ein.

Ein Dornröschenschlaf empfing ihn da drinnen. Nichts rührte sich, außer dem fortgesetzten eintönigen Schlagen von losen Fensterläden und offenen Stubentüren im Wind. Die Betten in den Schlafgemächern waren noch nicht gemacht. Im Eßsaal lagen die aufgeklopften Eierschalen neben leeren Kaffeetassen und steinhartem Brot. Im Kinderzimmer saßen nebeneinander Hampelmann und Puppe. Stickereien füllten ein Körbchen. Am Fenster deutsche Zeitungen. Ein aufgeschlagenes deutsches Buch.

Er ging auf den Fußspitzen durch das totenstille deutsche Haus, als könne er Schlafende wecken. Im Zimmer eines der Söhne hingen gekreuzte Schläger über bunter Mütze und Band. Es war genau so wie oben in Esthland bei Arwed Speerreuter auf Kuistefer. Er sah näher hin: Es waren sogar dieselben Göttinger Farben. Die beiden waren Korpsbrüder.

Dunkle Ahnenbilder dämmerten unten in der Halle. Gestalten wie in Schloß Kerreküll, nur die verschollenen Uniformen preußisch statt russisch. Dazwischen der Stammbaum. Das Interesse des baltischen Barons war wach. Er trat heran und las. Seine Mienen verfinsterten sich. Wiffenhausen ... Tumme ... Herzerode ... Das sind ja auch unsere Namen. Und da, im achtzehnten Jahrhundert, vier-, fünfmal hintereinander je eine Kerkhuß aus Kurland ...

Im Damenzimmer lag ein angefangener Brief: »Liebste Tante! In fliegender Eile ein Lebenszeichen! Wir sind im Begriff, zu flüchten. Die Kinder sind schon fertig, das Silber im Wagen. Das Gestüt ist im Galopp voraus. Bei Stallupönen brennt schon alles. Wir danken Gott, wenn wir hinter der Angerapp sind. Aber wir halten den Kopf hoch. Es ist ja für Deutschland, was wir leiden ...«

Hier brach das Schreiben ab. Es trug die Aufschrift des 17. August 1914. Baron Waldemar von Kerkhuß legte es hin. Es ging ihm durch den Kopf: Und wer brachte euch diese Leiden?

Er sah sich nicht mehr um. Er schritt rasch in das Freie hinaus. Draußen zogen verstörte Menschen auf Handschlitten armseligen Hausrat, überschneites Bettzeug, Töpfe, Stühle, Küchenkram aus geräumten Häusern. Ein Dutzend alte Männer und Weiber, die nicht mehr mühsam mitwaten konnten, lagen flach auf einem großen Lastschlitten unter einem Leinwandplan und klapperten vor Frost. Kleine Kinder saßen weinend im Schnee und wurden wie Pakete zu ihnen hineingeschoben. Ein Greis kniete vor Waldemar Kerkhuß nieder und hob wimmernd die Hände.

»Trautstes Harrchen – erbarmen Sie sich!«

»Pascholl!«

Russische Gardeulanen trieben mit flatternden Lanzen das litauische Menschenhäuflein mit Vieh und Sack und Pack durch den Schnee nach den rückwärtigen Dörfern.

»Was ist da?«

»Befehl, die Häuser anzuzünden. Euer Hochwohlgeboren!«

»Auch diesen Gutshof gegenüber?« frug Waldemar Kerkhuß.

»Auch den Gutshof!«

»C'est la guerre!« sagte, als die Fahrt weiterging, der russische Fürst. Baron Kerkhuß zuckte die Achseln. Er dachte sich: Daheim, in Rußland, sprachen die Bauern zu mir in fremder, esthnischer Zunge. Hier, in Feindesland, reden sie zu mir Deutsch ...

»Chaque baron a sa fantaisie!« sprach der eine junge Petersburger halblaut zum anderen... die russische Redensart: Jeder baltische Baron hat seinen Sparren! dann laut: »Waren Sie je in Pompeji, Baron Kerkhuß?«

»Wie denn nicht?«

»Passen Sie auf: Sie werden gleich wieder hinkommen!«

Der Kraftwagen wand sich durch eine deutsche Stadt von Mauertrümmern und Schutthaufen. Kahle Hauswände standen sonderbar gezackt und schwarz geräuchert, verkohlte Dachgerippe, schlangenförmige Blitzableiter, geringelte Eisenbalkone starrten wie ein Mummenschanz in diesem Reich von schwarzem Brand und weißem Schnee.

»Die preußischen Farben!« sagte der eine Fürst und lachte. Dann russisch zum Fahrer: »Warte hier! Wenn Granaten kommen, fahre irgendwo in Deckung. Ich werde dich schon finden!«

»Ich höre, Erlaucht!«

Waldemar Kerkhuß dachte sich: Gleich wird er wieder sagen: »C'est la guerre!« und hat recht. Er als Russe. Ja, das ist der Krieg ... Das ist Pompeji. Diese von den Granaten getötete deutsche Stadt, durch deren Trümmerzeilen wir schreiten, ohne ein lebendes Wesen zu sehen, über den Markt mit dem zerschmetterten Kaiserstandbild und dem aufrechten Kriegerdenkmal, an dem geköpften Turm der von russischem Geschützfeuer eingeäscherten evangelischen Kirche vorbei, und es fuhr dem baltischen Baron durch den Kopf: Daheim, in Rußland, bin ich als Evangelischer ein Fremdling im weiten Reich der orthodoxen Kuppeln und Klöster. Hier, in Deutschland, bekennt man sich, wie ich, zu Luther. Eine ausgebrannte Buch- und Musikalienhandlung war da. Die versengten Reste deutschen Schrifttums lagen hinter den zerschmetterten Ladenscheiben. Ein Kopf Beethovens hing noch im Schaufenster. Ein Stahlstich mit Goethes Bild war halb verkohlt. Der Büste Kants fehlte der Hinterkopf ...

»Wollen wir rascher gehn, Baron!«

Da standen die Umfassungsmauern des deutschen Gymnasiums. Deutsche Schulbücher lagen im Schutt ... Die Überbleibsel deutscher Bildung. Man mußte mit Füßen darauf treten, um über einen Trümmerberg den Ausgang der Stadt zu gewinnen. Auf dem weiten verschneiten Hügel darüber grünte ein Markt von Weihnachtsbäumen, wie ihn Waldemar Kerkhuß früher in Berlin und München gesehen. Hunderte von abgehauenen jungen Tannen staken als künstliches Wäldchen im Schnee. Als die drei hinten an dem Scheingehölz vorbeigingen, sahen sie die verborgenen russischen Geschütze.

»Seine Exzellenz ist dort drüben!«

Es war da eine zerschossene Ziegelei ... Die Mauerreste ragten brennendrot aus der weißen Fläche. Einige russische Offiziere ritten in ihrem Schutz dahinter ihre Pferde im Kreise. Seitwärts stand ein Gardegeneral, den Pelzmantel über die breiten Schultern zurückgeschlagen. Er hielt das Fernglas vor das strenge, gefurchte Gesicht mit den dunklen Bartstreifen an den Wangen und dem kurzen, dunklen Schnurrbart, ließ es sinken, als er seinen Neffen Waldemar Kerkhuß herankommen sah, küßte ihn auf beide Wangen und sagte auf russisch mit tiefer, fast grollender Stimme, ohne daß sich der eiserne Ausdruck seiner Züge dabei milderte:

»Nun, Gott sandte dich! Komm beiseite! Man versteht hier sein eigenes Wort nicht!«

Im Tannenwäldchen ließ ein mächtiger, von Amerika gelieferter Mörser seine Donnerstimme erschallen und schickte, wie ein geübter Raucher, einen schönen weißen Ring als Zugabe hinter der Qualmwolke her durch die Luft. Der General Baron Paul von Oxberg auf Pirküll und sein Besucher traten auf das Feld hinaus. Als sie dort allein waren, verfiel Waldemar Kerkhuß hochmütig in das Deutsche.

»Ich danke dir, Onkel Paul, daß du mir jestattest hast, mich zu dir zu bejeben ...«

»Sprich Russisch!« sagte der General ruhig und hart. Keine Wimper zuckte dabei in seinem Gesicht. »Sonst muß ich dich verhaften und abführen lassen.«

»Karaschó! Gut!« Es war ein verächtlicher Zug um die Lippen des Baron Kerkhuß, während er in fließendem Russisch fortfuhr: »Ich schrieb dir, daß ich trotz meines lahmen Beins nicht müßig gehen will.«

»Am Abend werden wir darüber reden! Für jetzt mit Gott! Ich gehe nach vorn, in die Stellungen!«

»Nimm mich mit!«

Baron Oxberg überlegte. Dann sagte er mit der harten Ruhe, in der sein ganzes Wesen erstarrt schien:

»Komm!«

Als er eine halbe Stunde später mit seiner Begleitung von Adjutanten und Ordonnanzoffizieren in dem äußersten Graben stand, neben zwei kleinen, ihm noch nicht bis zum Knie reichenden Ungeheuerchen von Minenwerfern, denen die zu großen, verschluckten Bissen, die Luftminen, zum Schlund heraussahen, da runzelte er die an sich schon finstere Stirne. Er beobachtete durch das Scherenfernrohr den zweihundert Meter entfernten deutschen Drahtverhau. Waldemar Kerkhuß stand hinter ihm. Die breitknochigen Slawen- und Mongolengesichter umher, der süßliche, widerliche Aasgestank eines russischen Schützengrabens, der kleine japanische Hauptmann, der als Artillerieinstruktor in der Ecke lehnte, alles gab ihm wieder das Gefühl: Asien auf dem Marsch. Asien wider Europa und seine Hochburg Deutschland.

»Könnt ihr nicht mehr schießen, Brüder – he?«

Der General Baron Oxberg frug es rauh.

»Wohin sollten wir zielen. Euer Exzellenz! Da ist ja nichts!«

»Seht ihr die Deutschen nicht? Ihr erlaubt es ihnen ja, am hellen Tage auf dem Schnee herumzulaufen!«

Hinter der deutschen Linie lebten an ein, zwei Stellen in der weißen, toten Fläche kleine graue Gestalten. Sie wanderten wie verirrte Ameisen nach rückwärts, wimmelten nach vom. Im Rücken der Russen war dasselbe Schneewaten verlorener, brauner Punkte.

»Sie lachen euch aus!« Baron Paul Oxberg löste die schweren Hände von den Drehgriffen des Fernrohrs. »Sie gehen nicht einmal mehr im Gänsemarsch! Da, noch nicht eine halbe Werst von hier, machen sie den Rückweg gleich zu viert!«

Ein kleines Häuflein deutscher Infanteristen stieg da, im Vertrauen auf den Winterschlaf des Kriegs, durch eine Schneemulde zu den kahlen Obstbäumen einer Landstraße empor. Waldemar Kerkhuß beobachtete sie durch das Scherenfernrohr.

»Schießt!« sagte neben ihm der General. »Was willst du, Waldemar Konstantinowitsch? Warum faßt du mich am Arm?«

»Beliebe, noch einmal hinüberzusehen, wer es ist, der dort geht!«

Baron Oxbergs Antlitz blieb am Fernrohr undurchdringlich. »Nun, was denn? Es ist ein deutscher Feldwebel mit drei Gemeinen!«

»Aber der eine von den dreien, der junge, blonde ... erkennst du ihn nicht ...?«

»Der links?«

»Es ist ein Balte! Der Sohn Erik Stiers aus Kurland!«

»Ja, es ist mein Neffe Engelbert!« sagte der General von Oxberg ruhig, und dann zu den Russen: »Was steht ihr? Schießt!«

Die Bohlen auf dem Auftritt knarrten unter den Transtiefeln der behende hinaufklimmenden Asiaten. Es knallte jäh auf. Pulverdampf wehte nach hinten in den Graben. Verzog sich.

»Sie haben sich drüben in den Straßengraben geworfen und kriechen da weiter!«

»Einer kniet noch hinter einem Baum und feuert!«

Es war gleich darauf der dumpfe Schlag eines umfallenden Sacks. Der russische Infanterist rührte sich nicht mehr. Er lag, die Beine hoch, den Kopf unten im Graben. An seiner Statt stellte sich Waldemar Kerkhuß oben hin und schaute hochmütig mit einem Krimstecher über die Brustwehr.

»Das war Engelbert Stier!« sagte er. »Ich erkannte eben deutlich sein Gesicht neben dem Baum. Der Junge schoß immer wie der Teufel!«

»Komm herunter! Was tust du da oben? Man wird dich töten!«

»Nun, gewiß töten wir uns in diesem Augenblick gegenseitig!« sagte der junge Balte oben zu dem alten Balten unten auf französisch und hob wieder mit einem verächtlichen Lächeln den Kopf über die Deckung. Drüben fielen rasch hintereinander mehrere Schüsse. Um ihn war ein huschendes, unsichtbares Zwitschern. Die Luft sang und schien ihm wärmer als bisher. Alle Dinge klarer. Der Körper leichter. Eine sonderbare Gleichgültigkeit dabei.

»Waldemar Konstantinowitsch, ich befehle Ihnen, herabzusteigen!« versetzte der General in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Baron Kerkhuß stand wieder in der Grabensohle und zündete sich nachlässig eine Zigarette an.

»Es wird dir nicht gelingen, deinen Neffen totzuschießen, Onkel Paul! Engelbert Stier kriecht den Straßengraben entlang nach hinten wie eine Katze.«

»Er ist schon in Sicherheit!« murmelte oben einer der Schützen.

»Weil ihr nicht zielen könnt!« Baron Oxberg sprach es kalt. Er wandte sich mit seinem Gefolge zum Rückweg. Eine Granate heulte unsichtbar heran und warf ein baumartiges, braunschwarzes Rauch- und Staubgebilde aus dem weißen Schnee. Unten im Gang klopfte sich Waldemar Kerkhuß kaltblütig die Schmutzspur eines von oben her an die Brust geflogenen Erdbrockens vom Pelz und sagte gedämpft zu dem Oheim vor ihm:

»Und ist das nicht ein Wahnsinn?«

»Was denn?«

»Wir sind vom selben Stamm und Blut, und wir sind hier, und die sind drüben! Wir wüten gegen unser eigenes Fleisch!«

Sie gingen hintereinander. Sie sprachen halblaut, ohne daß der Ältere den Kopf zu dem Jüngeren drehte.

»Wenn du das denkst, warum kamst du dann zu mir?«

»Ich suchte Sicherheit ...«

»Sicherheit? Hier? Angesichts der Deutschen?«

»Daß ich die deutschen Kugeln nicht fürchte, habe ich dir eben gezeigt. Ich suchte Sicherheit für mich, was ich tun solle ...«

»Hast du das hier gefunden?«

»Nein.«

Hinter ihnen verlor sich das Geplacker und Geknatter, mit dem eine Front sich an der anderen rieb. Tiefe Donnerschläge dröhnten näher. Man war wieder auf der Oberwelt, neben dem künstlichen Wäldchen, in dem die Mörser rumorten. Hinter der abgebrannten Ziegelei lehnten, Schutz gegen den Wind suchend, Offiziere des zwanzigsten russischen Korps. Waldemar Kerkhuß hörte, wie der eine zum anderen sagte:

»Du findest in Riga viele, die nur Deutsch können. Frauen. Du glaubst, sie sind taubstumm, weil sie im Laden nur auf die Ware deuten und sich mit Zeichen verständigen. Aber sie wissen wohl, warum sie keinen Laut sprechen!«

Der stumpfsinnige, schmutzige Infanteriehauptmann lachte und fügte hinzu:

»... und warum sie kein Kind mehr auf der Straße spielen lassen! Ein Kind vergißt sich. Es lacht wenigstens einmal auf deutsche Weise. Sofort bringt es der Stadtsoldat auf eine Wache. O – man ist jetzt endlich streng gegen sie ... die Deutschen ...«

Waldemar Kerkhuß trat weiter zurück. Auf der Straße, die zu dem stillen Ruinenstädtchen hinabführte, hielten Kosaken auf struppigen, die Köpfe nach oben reckenden Gäulen, breite rote Streifen an den Hosen, Werg, Zündschnur und breite, unverlöschbare Zündscheiben vor sich am Sattelknopf. Der General von Oxberg stand mit seinem Stab daneben. Zwei Adjutanten hielten eine Karte des östlichen Ostpreußens. Sein Generalstabschef und er suchten darin ein paar Namen, deuteten auf rot angestrichene Punkte. Waldemar Kerkhuß sah von hinten hinein. Das waren die Dörfer, aus denen man vorhin die Bewohner vertrieben. Das war das deutsche Herrenhaus, in dessen Dornröschenstille er vorhin eine Viertelstunde verbracht.

»Es wird alles gleichzeitig bei Einbruch der Dunkelheit angezündet!« sagte der General, »so daß die Deutschen es auf alle Fälle sehen. Sie sollen glauben, daß wir einen Rückzug vorbereiten!«

Baron Paul Oxberg faltete ruhig die Karte zusammen und gab sie einem der Offiziere. Er trennte sich von seinem Stab und ging langsam, die Hände auf dem Rücken, den strengen Kopf, der im Schnitt des Backenbarts einem Potsdamer General ähnelte, nachdenklich gesenkt, seitwärts auf und ab, wie ein Truppenführer, der beim Erwägen der Kriegslage nicht gestört sein will. Sein Neffe gesellte sich doch zu ihm.

»Wie bringst du das nur fertig, gegen Deutschland zu kämpfen?« sagte er, und durch die Verstandeskühle seines Wesens bebte eine ihm sonst ganz fremde Erregung. Baron Oxberg sah ihn kalt und unerschütterlich an und erwiderte nichts. Sie gingen schweigend weiter. Sie waren jetzt ganz allein im weiten Schnee. Auf hundert Schritte keine Späher und Lauscher. Waldemar Kerkhuß brach los. Er sprach jetzt durch das Brüllen der Geschütze aus dem Wäldchen drüben laut Deutsch.

»Wir sind deutsch. Die Jejenwart kann nicht ändern, was die Jahrhunderte jemacht haben. Möjen die Moskowiter hier zerstören, was für sie zu hoch ist ... aber daß wir dem Dschinghiskhan und seinen Horden noch die Fackeln liefern und den Weg nach Deutschland zeigen ... Diese Erkenntnis ist mir jetzt eben bei dir, in dieser Stunde, aufjejangen: Wir könnten jeradeso gut unsere eigenen Häuser daheim anzünden ... Onkel Paul ... sage mir ... wie bringst du beides in dir unter? Ich bejreife dich nicht mehr ...«

Er trat dicht an den anderen heran, und ein Schrecken erfaßte ihn. Baron Paul von Oxberg hatte sich mit dem Rücken gegen die ferne Ziegelei hingestellt, so daß keiner der Russen dort sein Gesicht sah. Nun stand auf einmal da nicht mehr der eisenharte, wortkarge russische General. Waldemar Kerkhuß sah in ein von Gram zerstörtes und zerrissenes Gesicht.

»Ich diene nicht Dschinghiskhan, sondern Seiner Majestät dem Zaren aller Reußen!« sagte der General von Oxberg und plötzlich auch in baltischem Deutsch: »Ich habe seit mehr als vierzig Jahren jedient. Ich kann mein Leben und den Eid, den ich jeschworen habe, nicht widerrufen. Ich muß jejen mein Jewissen, jejen meine Überzeugung, jejen mein Jefühl das tun, was Rußlands Vorteil jebietet. Ich tue es!«

»Das sehe ich!«

»Jerade weil ich ein baltischer Edelmann bin, breche ich nicht mein Wort. Jerade der Stolz, den wir unserem uralten deutschen Jeblüt verdanken, zwingt mich, den Deutschen jetzt zu schaden, wo ich kann. Ich hatte immer jehofft, es würde mir erspart bleiben, und es käme nicht zum Krieg! Es ist doch so jeworden. Ich habe keine Wahl. Was es mich kostet, sage ich keinem. Du kannst es verstehen!«

Er fuhr den Neffen plötzlich barsch an.

»Was willst du hier? Was erstrebst du hier? Eine Kugel von drüben? Das Andreaskreuz? Dein lahmes Knie ist jetzt dein Jlück! Wir hier haben alle etwas von Rußland jewollt! Nun will Rußland von uns unsere Seele! Du hast nie etwas von Rußland jewollt! Sei froh, daß es dich nicht braucht und nicht brauchen kann. Jeh' von hier! Jeh' dahin, woher du jekommen bist!«

»Woher kam ich und wohin jeh' ich?« sagte Waldemar Kerkhuß. »Ich weiß es nicht.«

»Suche deinen Platz!«

»Wo?«

»Der letzte Platz für dich, um zu leben, ist dort, wo die vor dir jestorben und bejraben sind. Jehe nach Kerreküll!«

»Und dort?«

»Lasse doch diesen Schneesturm über Europa pfeifen! Er wird auch einmal verjehn. Dann kommst du aus deinem Winterschlaf hervor, wie der Bär aus der Jrube, und warst klüger als wir alle!«

»Es ist jetzt nicht die Zeit klug zu sein. Es ist die Zeit, irjend etwas zu sein, jetzt, wo jeder Muschik etwas ist! Ich muß etwas tun ... ich trage diesen Druck mit mir ... ich muß mich von mir selbst befreien ...«

Der General Oxberg schaute seinen Neffen an. Ein grimmiges Lächeln überzog sein finsteres Gesicht, das dadurch eher noch düsterer wurde.

»Man muß immer dahin jehn, wo die Eigenschaft rar ist, die man besitzt. Dann ist man jesucht. Man zeichnet sich vor den anderen aus. Du bist ein anständiger Mensch. Also jehe zu unseren jrößten Spitzbuben, die wir haben!«

»Wo mögen die jrößten sein, Onkel Paul?«

»Werde ein weißer Rabe unter unseren Diplomaten! Man wird schon eine Ausnahme mit dir machen! Man wird dich schon zu beschäftigen wissen, wenn du auch deine Unwissenheit nicht durch ein Examen bekräftigt hast. Es jibt da Verbindungen jenug für dich ...«

»Jewiß doch! Wir sind ja ein Rattenkönig von Verbindungen! Und nicht viel mehr!«

»Da ist unser Vetter Butwengen. Er ist, jlaube ich, jetzt in Bukarest, inoffiziell natürlich. Er hält seinen langen Leichnam immer jern im Hinterjrund! Er ist der jeborne Mann des Halbdunkels. Er ist mit allen Wassern jewaschen. Er wird dich schon erziehen, mein Junge!«

»Wozu?«

»Wenigstens zur Verachtung seines Metiers!« sagte der General kurz und mit der Barschheit des Frontsoldaten. »Was sind das für Windhunde – diese Federfuchser? Sie schreiben, sie medisieren, sie soupieren, und wir hier ... Aber sie sind überall jleich. Grüße Onkel Bertil von mir, wenn du nach Bukarest kommst!«

»Was soll ich bei ihm?«

»Etwas tun und doch nichts! Nichts jejen Deutschland. Man wird dich dort schon mit Seifenblasen abspeisen, mein Sohn! Man wird dir schon keine Staatsjeschäfte anvertrauen! Du bist dort nur ein Stück Dekoration. Harmlos wie eine Flieje! Du jehst spazieren – der alte Butwengen ist ein viel zu jewandter Fuchs, als daß er einem Jrünhorn wie dir Jelejenheit jibt, sein Konzert zu verstimmen! –und jehst, wenn alles vorbei ist, mit reiner Weste aus diesen Jewissenskonflikten hervor, die wir anderen ... Warum schießen die Batterien nicht?«

Er schaute kurz und zornig zu den Stellungen hinüber. Eben schnob und brüllte dort wieder der große Mörser. Die Züge des Generals beruhigten sich. Er schloß:

»Dann warst du in dieser russischen Zeit da und warst doch nicht da. Ich wollte, ich könnte es. Also jehe nach Bukarest, zu Bertil Butwengen!«

»Ich werde es mir überlegen!«

Eine Ordonnanz stapfte durch den Schnee heran. Baron Paul Oxberg küßte seinen Besucher flüchtig auf beide Backen. Sein Antlitz und seine Haltung waren wieder so, wie ihn seine Russen im Schützengraben kannten.

»Nun, mit Gott, Waldemar Konstantinowitsch!« sprach er laut auf russisch und schaute dem Baron Kerkhuß nach, wie der den Hang hinabstieg und in den Straßentrümmern unten verschwand. Bald darauf rollte aus dem anderen Ende des ostpreußischen Pompeji ein Auto gen Osten, der russischen Grenze zu. Der General Paul Oxberg nickte stumm und ging mit starrem Gesicht, in seinen Mantel gehüllt, hinüber zu dem feuerspeienden Weihnachtsmarkt seiner Batterien.


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