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8.

Es war nicht der gespenstige Reisewagen, der nach uralter Sage um Mitternacht lautlos vor Kerreküll vorfuhr, wenn drinnen im Schlosse jemand sterben sollte. Es war nur das Fuhrwerk des Kirchspielarztes Dr. Frälsemann. Der Vollmond stand am Himmel. Die Luft der esthnischen Maiennacht war kühl, vom Salzhauch der nahen See umweht. Die struppigen Körper der beiden Klepper rauchten. Sie hatten die zehn Werst vom Städtchen hierher größtenteils im Galopp zurückgelegt, nachdem ein reitender Kutscherjunge den Arzt aus dem Schlaf geweckt hatte: »Eile, Herr! Mit dem Baron geht es zu Ende l« Aus dem oberen Fenster des mächtigen Eckturms schimmerte Licht. Dort rang Baron Konstantin Kerkhuß seit einer Woche mit dem Tod. Unten, neben der Doktorkutsche, hielt der Vierspänner des Pastors Magnus, den man schleunigst aus St. Jochens geholt, weiterhin der Jagdwagen des Baron Arwed Speerreuter von dem nahen Kuistefer. Die Kalesche des Barons Feodor von Tumme auf Alt-Götthast. Das abenteuerliche Fahrzeug des alten Wiffenhausen auf Narraks, die Fuhrwerke anderer deutscher Nachbarn. Abseits bei den Stallgebäuden, vor dem Krug, die Wägelchen esthnischer Gesindewirte. Auch unter den Bauern hatte sich seit gestern abend das Gerücht verbreitet, daß der Kerreküllsche Baron die Sonne nicht mehr sehen würde. Sie waren meilenweit herbeigefahren und zu Fuß durch Wald und Sumpf gelaufen. Braune, flachsmähnige und flachsbärtige Gestalten standen da, die braunen Mützen und braunen Schilfleinwandröcke von Soldaten zwischen ihnen. Halbdeutsche Mamsellen und Diener und esthnische Mägde liefen aus dem Schloß hinüber nach dem Eiskeller, nach der eingezäunten Pferdekoppel, um einen neuen Boten zur Apotheke aufsitzen zu heißen, ins Försterhaus, daß er die wütend einen Igel anjankenden Teckel einsperre. Im großen Saal zur ebenen Erde, unter dem Bild des in der Familiengeschichte Waldemar Magnus, der Große, genannten Feldmarschalls Kerkhuß aus den Tagen der alten Katharina, saßen die Barone, rauchten, tranken Tee, schwiegen und sahen vor sich hin. Der düstere Ernst der Zeit lastete schwerer noch als sonst auf ihren Mienen. Oben, in den Familienzimmern, die der Doktor durchschritt, hielt Baronin Lisa, die Gemahlin des Sterbenden, die Lutherbibel vor den tränenden Augen, der Pastor Magnus, ein Hüne mit grauem Wodansbart, ihr zur Seite. Baron Constant hatte nebenan mit einem Handwink zu verstehen gegeben, daß er allein sein wollte. Auch seine vier Söhne waren aus dem Sterbezimmer getreten und standen beisammen an der Balkontür des großen Wohngemachs, durch die der herbe und würzige Hauch der nordischen Frühlingsnacht wehte. Dr. Frälsemann machte halt und reichte dem Ältesten die Hand.

»Sie auch hier? Gott brachte Sie eben noch zurecht!«

»Jestern, jejen Abend, kam ich an!« sagte Waldemar Kerkhuß leise. Der Doktor trat auf den Fußspitzen in das Krankenzimmer zu der aus Reval geholten lutherischen Diakonissin. Es wurde drinnen wieder still. Auch die vier Brüder schwiegen. Es war das erstemal seit Jahren, daß sie alle gleichzeitig in dem väterlichen Schloß weilten. Schließlich, wie die Zeit dahinrann, fingen sie wieder an, halblaut zu sprechen. Sie hatten viel erlebt, seit sie sich zuletzt gesehen. Auf jedem der jungen, bleichen und ernsten Gesichter mit den hellblonden, dichten Haaren darüber stand der Krieg geschrieben. Der Krieg gegen Deutschland.

»Wie konnte man ohne Jeschütze in Jalizien bleiben?« sagte gedämpft Robin, der Petersburger Gardekavallerist. »Wir hatten Jeschütze jenug, aber ohne Munition. Sie halfen uns nicht mehr, als wenn wir unsere Jroßmutter mit ins Feld jenommen hätten! Man hatte nur zu sorjen, daß sie nach hinten jeschickt wurden und ihnen nichts passierte.«

»Doch hättet ihr Widerstand leisten müssen!«

»Die Jarde hat jenug am Bug jelassen!« Robin Kerkhuß' Arm war längst geheilt. Dafür trug er jetzt Hinterkopf und Nacken in weißen Mullbinden. »Was willst du jejen die Deutschen machen? ... Auf einmal sind sie da. Vor dir, neben dir, hinter dir! Du denkst: es ist nicht möglich. Aber du hörst das Hurra schon im Rücken. Beinahe hätten sie mich auch jefangen.«

»Trotzdem ...«

»Man hat sich diesen Krieg anders jedacht! Warum kommt ihr denn nicht mit euren Schiffen aus der Rigaschen Bucht heraus, Michael? Man lacht euch in Kiel und Lübeck aus. Wo bleibt denn das englische Jeschwader, das die Ostsee beherrschen sollte?«

»Gott allein sah es!« sagte der Midshipman der Kronstädter Garde-Flottenequipage, »Und wir selbst? Der Jeist unserer Leute ist jefährlich. Jedes unserer Schiffe ist eine jroße Pulverkammer!«

»Auch in Petersburg järt es!« Axel Kerkhuß, der Reichsbeamte, horchte einen Augenblick, ob man nichts aus dem Nebenzimmer höre, und fuhr dann flüsternd fort: »Nicht nur draußen in Wassilij Ostrow und auf der Petersburger Seite! Nicht nur in den Putilow-Werken und in der Semenowschen Kaserne. Es järt auch in der Jesellschaft. Es herrscht Unruhe...«

»Überall...«

Vor den Augen der jungen Balten klafften die Sprünge in den Riesenmauern des Zarenreichs. Ein leises, unheimliches Knistern in Wänden und Gebälk, in Sibirien, zwischen Ural und Wolga im Westen bis zu dem schon von den Kriegsflammen überzüngelten und bedrohten weiten Halbmond der Rand- und Fremdvölker, der Finnen, der Balten, der Litauer, der Polen, der Tataren. Aber schließlich ... Rossija, das heilige Rußland ... Der Koloß mochte leise zittern... Yankees, Franzosen und Briten mochten das große Wort in Petrograd führen... Asien war doch stärker als Europa und als sie hier am Baltenstrand...

»In Petersburg sagen sie schon: Wozu die Deutschen verjagen, um dafür die anderen Ausländer in den Pelz zu bekommen! Wer ist der Herr: der Zar oder der englische Gesandte?«

Michael Kerkhuß, der Midshipman, lächelte bei dem Wort: der Zar. Längst war die früher zum guten Ton gehörende Ehrfurcht vor dem Selbstherrscher aller Reußen verschwunden. Der marklose Schatten, unter dessen schwachen Händen das Steuer des Reichs im Sturm ohne Ziel und Willen hin und her flog, verblaßte bis zur Durchsichtigkeit und Leere im Grauen des Kriegs. Schien unnütz. Schien schädlich. Schien eine Last. Schwer stieg die Thronfinsternis über dem Hause Romanow empor.

»Früher ließen sich die Zaren von uns beraten, jetzt von Rasputin oder dem Vater Iwan.«

»... und uns verfolgen sie zum Dank...«

»Daran stirbt Papa.«

Sie lauschten wieder. Nebenan war es still. Arzt und Schwester mühten sich um den dahingehenden Diener des Zaren.

»Du stehst jetzt in Livland, Robin?«

»An der Düna. Nahe von Riga. Auf dreihundert Faden den Deutschen jejenüber. Drüben, in Kurland, sind sie nun schon wie zu Hause.«

Die hübschen und oberflächlichen Züge des Petersburger Gardekürassiers zeigten eine tiefe Unruhe. Er saß, in seiner russischen Uniform, in hellem Mondlicht, das eine bespornte Bein über das andere geschlagen, und stützte düster den weißverbundenen Kopf in die flache Hand, an der der Wappenring der Kerkhuß schimmerte.

»Und was machen die Deutschen drüben?«

Man wußte es nicht. Die Baltenwelt war mitten durchgeschnitten. Es gab keine Verbindung zwischen Kurland, über dem die schwarz-weiß-rote, und Liv- und Esthland, über denen die schwarz-gelb-weiße Fahne flatterte. Dieselben deutschen Menschen wohnten hüben und drüben, es waren die gleichen Namen, die verwandten Familien, aber selten kam einmal, auf weitem Umweg über Schweden, eine Nachricht von dem einen Schwesterland zu den beiden anderen.

»Wie ist das, Robin: Bleiben die Deutschen stehn? Jehn sie weiter vor? Was meinst du?«

Robin Kerkhuß schüttelte den von einer deutschen Kugel verwundeten Kopf.

»Sie können nicht weiter. Sie halten, was sie haben!«

»Warum jlaubst du nicht, daß sie auch einmal bis hierher kommen könnten?«

»Weil ich Soldat bin: wer jejen Esthland marschiert, marschiert jejen Petersburg. Selbst Napoleon tat das nicht. Er jing nach Moskau. Niemand tat es seit zweihundert Jahren. Niemand kann es wagen, ehe nicht die janze russische Armee völlig jeschlagen und aufjelöst ist.«

Die russische Armee ... diese Millionen und aber Millionen, die sich in immerfließendem Schwall aus den ungezählten Menschenmassen bis zum Stillen Ozean hin erneute, die russische Armee, die für jedes vorn in das Verderben gejagte Bataillon morgen schon wieder dieselbe Truppe, mit demselben stumpfen Todesgehorsam auf den breitknochigen Zügen aus den achtfachen Beständen der Heimat hinausschickte, die russische Armee, der Frankreich sein Gold, England seine Techniker, Amerika seine Kriegsrüstung, Japan seine Berater schickte – die Wolga konnte versiegen, aber diese bewaffnete Völkerwanderung nicht. Die jungen Balten, die beiden in der Uniform Nikolaus' des Zweiten und die beiden im Bürgerkleid, schwiegen. Asien über dir. Heute und immer... Waldemar Kerkhuß ging, leicht das lahme Bein nachziehend, zur Schwelle des Turmzimmers, schaute hinein, machte ein Zeichen mit dem Kopf! Nichts Neues. Der Vater saß immer noch ohne Besinnung, wie schlafend, im Lehnstuhl, mit dem er der Atemnot wegen das Bett vertauscht hatte. Ein Flüstern.

»Und du, Waldemar?...«

Waldemar Kerkhuß fuhr aus seinem Brüten auf...

»Was ist?«

»Fürchtest du dich nicht vor der Rejierung? Man erzählt von dir jefährliche Dinge.«

»Man ist auf dich aufmerksam. Nimm dich in acht!«

»Man hat mir die Ermächtijung jejeben, hierher zu reisen. Man wird mir nichts tun.«

In Waldemar Kerkhuß' Worten lag das alte hochfahrende Herrenbewußtsein, und die anderen stimmten durch Schweigen bei: der Kerreküllsche Baron war eine Macht im Lande. An ihm vergriff sich so leicht nicht ein örtlicher Tschinownik. Dazu mußte ein Ukas von oben kommen, und auch da nahm man vielleicht noch Rücksicht auf einen der ganz Großen des Gouvernements.

Und Waldemar Kerkhuß fühlte: ich bin, für die anderen, schon der Kerreküllsche Baron. Ich merke es an den Brüdern. Sie sind anders zu mir als untereinander. Sie bringen mir bereits die Achtung vor dem Majoratsherrn, vor dem Haupt des Hauses, dem Reichen, dem Mächtigen entgegen. Und in kurzem bin ich, nach Gottes Willen, wirklich Herr auf Kerreküll...

Dr. Frälsemann stand auf der Schwelle. Sein Gesicht war noch ernster. Sagte alles. Die vier Brüder traten in das Turmgemach. Die Mutter. Pastor Gotthard Magnus. In diesen nordischen Nächten ging die Sonne kaum mehr unter. Sie wechselte nur am Himmelsrund ihren Platz von Westen nach Osten. So fiel auch jetzt durch den sechs Schuh dicken Mauerausbruch des Bogenfensters das erste Frührot auf Baron Konstantins Gestalt. Der alte Grandseigneur hatte bis zum äußersten Augenblick Haltung. Er saß aufrecht in den Kissen des Lehnstuhls, auf die seine langen grauen Favoris hinabwallten. Das Kinn zwischen ihnen war immer noch von dem Kammerdiener sorgfältig rasiert. Es war keine Luft der Krankenstube um ihn, sondern der letzte Hauch der Petersburger großen Welt, ein feiner Duft von Kölnischwasser, ein zarter Geruch der Papyrossen, der Duft von Treibhausrosen auf dem Tisch.

Auf dem standen die drei Bilder der Zaren mit ihren eigenhändigen slawischen Unterschriften: Alexanders des Zweiten vornehme und milde Züge, das finstere und brutale russische Bauerngesicht Alexanders des Dritten, der nichtssagende, nichtsseiende Kopf Nikolaus' des Zweiten. Der Sterbende sah sie lange aus seinen großen grauen Augen an. Sein längliches Gesicht mit der herrisch vorspringenden, gebogenen Nase war schon verfallen. Um ihn rings in dem Turm war Rußland. Mit kaukasischen Waffen und asiatischen Teppichen, sibirischem Elfenbein, Moskauer bunt eingelegten Kostbarkeiten, dem Eisbärfell aus dem Nördlichen Eismeer am Boden, den altgriechischen Vasen aus der Krim auf dem Wandbrett umfing ihn das zwei Weltteile umspannende Riesenreich, dem er fast ein halbes Jahrhundert gedient, wie seine Vorfahren weitere anderthalb Jahrhunderte zurück. Er hatte jedem der Seinen, schwer atmend, die langen, weißen, vornehmen Hände zum letzten Druck, Wangen und Lippen zum letzten Kuß überlassen. Jetzt richtete er die Augen noch einmal starr auf den ältesten Sohn. Zwang seinen schon getrübten Geist, noch einmal ein paar Worte zu formen:

»Waldemar ... denke an mich ... jehe die Mitte ... jehe die Mitte ... Schließlich ... wird man ... in Petersburg wieder ... zur Einsicht jelangen ...«

Waldemar Kerkhuß kniete neben ihm. Auf der anderen Seite hörte er das Schluchzen der Mutter. Die tiefe, markige Stimme des Pastors Magnus, der das Vaterunser sprach – das deutsche Vaterunser, trotz aller Gendarmen und Kosaken und Popen da draußen in Rußland. Es ging ihm durch den Kopf: Du hoffst noch im Sterben, Vater, auf das, woran wir Lebenden verzweifeln: daß die Lawine zum Stehen kommt, daß die Sturmflut rückwärts brandet, daß Rußland die Geister Asiens bannt, die es wider uns und Europa rief! Da vernahm er noch einmal an seinem Ohr ein mühsames Flüstern:

»Ich habe mich noch vor zwei Wochen wejen dir nach Petersburg jewandt ... an den Jroßfürsten ... meinen alten Jönner ... man versprach mir ... mir zuliebe ... Man wird dich deine faux-pas nicht entjelten lassen ... man wird kommen und mit dir sprechen ... Herzerode wird kommen ... Man wird dir Verhaltungsmaßregeln jeben ... befolje sie... zu deinem eijenen Besten... jehe die Mitte...«

Das Zimmer war ganz hell geworden. Vor dem Fensterausschnitt stand lichtes Himmelblau. Ein rötlichgoldener Sonnenstreifen flimmerte schräg durch das tiefe Schweigen. Seine Exzellenz, das frühere Mitglied des Ministerkomitees, Geheimer Rat, Hofmeister und Senator Baron Konstantin von Kerkhuß saß still zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen. Über ihm, aus dem Dachgebälk des Eckturms, läutete die Glocke. Eine Stunde lang klagte der Klöppel und trug den Schall doch nicht bis zur Hälfte des Umkreises der endlosen Herrschaft Kerreküll, zu all den Vorwerken und Gütern mit ihren leerstehenden Herrenhäusern, von denen erst mittags die Glocken zur Antwort läuteten, und zur fernen Kirche und dem Pfarrhof von St. Jochens.

Drei Tage darauf aber klangen alle Glocken zur selben Stunde ineinander und weithin über Land und Meer, zur Stunde, da man den Kerreküllschen Baron beisetzte. Es war ein strahlend blauer Tag. Eine Flut von Licht und Wärme über dem kargen, nordischen Land. Waldemar Kerkhuß ging einsam über dies Land dahin, das ihm nun zu Erb und Eigen gehörte. Er hatte sich, so bald er konnte, dem Schwarm der Trauergäste, dem Beileid, dem Händedrücken und Handküssen entzogen. Er schritt, den blonden Kopf gesenkt, durch die Stille, in die nur, in regelmäßigen Atemzügen, feierlich die Brandung des nahen Meeres tönte. In tausend Farben und Blumen blühte zu seinen Füßen die esthnische Erde. Eine zitternde Wärme von Sommer und Sonne, ein Summen unzähliger Insekten stieg aus dem weichen, würzigen Teppich. Ein Hauch, süß wie Honigseim. Zartes, lichtgrünes Laub bebte, von goldenen Lichtern durchspielt, um die weißen Stämme der Birken. Seltsam kühl und frisch wehte durch das Sonnenweben der Frühlingswind als Zeichen, daß man trotz blauen Maienhimmels hier oben auf äußerster Wacht wider Winter und Norden und seine Menschen war.

Du meine Heimat... Waldemar Kerkhuß hatte Esthland so geliebt, wie man Dinge liebt, die man nicht verlieren kann, die man ruhig verläßt, weil man sicher ist, sie wiederzufinden und immer zu besitzen. Jetzt war es ein anderes Gefühl, das ihm strömend zum Herzen drang. Eine heiße Liebe zu dieser armen Scholle wie zu einem geliebten Menschen, den das Schicksal gibt und nimmt. Das Land um ihn lebte, sprach mit tausend Zungen aus Baum und Strauch, aus Heuschlag und Roggensaat, aus steinbesätem Kartoffelacker und Streustelle, aus Flachsfeld und kahler, von aufgeschichteten Steinen umzogener Weide: Ich bin dein. Bleib du bei mir. Ich will dir dienen.

Da war das Meer. Weit, weit, tiefblau, mit einem regelmäßig rollenden schneeigen Schaumgürtel um die Felsblöcke des Strands. Die gischtumspülten Klippen zogen sich weit hinaus. Gescheckte Rinderhäupter ragten zwischen ihnen. Das Weidevieh stand, der Hitze und der Bremsen wegen, bis an den Kopf draußen in der flachen See. Die halbwüchsigen Hirtenmädchen lachten am Ufer und liefen, den Rock schürzend, mit braunen Beinen vor den heranrollenden Wellen. Die Möwen flatterten und schrien. Es klang Waldemar Kerkhuß wie eine schrille, klagende Frage: Auf diesem Meer kamen vor siebenhundert Jahren deine Vorfahren und nahmen dieses Land. Willst du dein Land an der Ostsee verlassen...?

»Karaschó!« ... Es ist gut... Russische Laute ertönten. Zwei Infanteristen mit groben, stumpfen Gesichtern, fern aus dem Ural, schlenderten vorbei. Sie gehörten zu den Truppen des Küstenschutzes, der hier überall lag. Sie gingen langsam in der Richtung nach dem kleinen Kasernenbau auf hoher, vorspringender Landzunge, in dem schon im Frieden solche russische Strandwächter gehaust hatten, die sich mit niemandem im Lande, nicht mit Deutschen und nicht mit Esthen, hatten verständigen können. Waldemar Kerkhuß schaute ihnen düster nach. Da war wieder die Mahnung des Ostens gewesen. In tiefe Gedanken versunken schritt er durch den Park zurück.

Er schaute erst auf, als er die Brücke hinter sich hatte und vor dem schweren Klotz des Schlosses stand. Er hatte gehofft, daß alle Teilnehmer an der Trauerfeier nun weg sein würden. Aber er sah statt dessen zwei neue, vorhin noch nicht dagewesene Gestalten, die mit seinem Bruder Robin sprachen.

Der Petersburger Kürassier wies mit der Hand nach ihm und sagte zu dem einen der Herren, einem großen, schlanken, blonden jungen Mann mit einem vornehmen, etwas fremdartigen Gesicht und einer gesuchten, streng englischen Eleganz der Kleidung:

»Nun, da hast du ihn ja.«

Waldemar Kerkhuß erkannte seinen Vetter, den Grafen Herzerode aus Petersburg. Er dachte bei der weichen und biegsamen Bewegung, dem glatten und schmiegsamen Mienenspiel, womit jener ihm beileidsvoll die Hand nicht kräftig deutsch drückte, sondern nachgiebig, fast weiblich in der seinen ruhen ließ: Er ist nur noch dem Äußeren nach deutsch. Es geht ihm wie seiner Freundin, Kaja Wiffenhausen: das Blut seiner russischen Mutter und Großmutter ist stärker.

Graf Wittekind von Herzerode begann auch gleich auf russisch. Er sprach es seit Beginn des Krieges offensichtlich und stark betont auch da, wo er sonst als Petersburger der großen Welt das Französisch bevorzugt hätte.

»Verzeihe! Ich glaubte, die Beisetzung hätte schon gestern stattgefunden.«

»Wie das? Sie war vor wenigen Stunden.«

»Hätten wir das gewußt, so wären wir erst morgen gekommen. Der Fürst und ich werden uns für heute wieder zurückziehen!«

Fürst Manuchin, Kaja Wiffenhausens Oheim, verkörperte in dem Ausdrucke des Beileids auf seinen groben, von der Bartwildnis bedeckten Zügen den würdevollen Ernst des russischen Bauern. Er schaute Waldemar Kerkhuß forschend aus seinen klugen, nervösen Augen an und sagte dann mit der weichen und hellen Stimme, die gar nicht zu seiner massigen Gestalt paßte:

»Wir werden unsere Unterhaltung morgen führen, Waldemar Konstantinowitsch! Sie sind heute nicht in der Stimmung, derlei zu hören.«

»Was haben Sie mir zu sagen, Boris Wladimirowitsch!«

Knjäs Oheim zögerte. Er wählte die Worte.

»Ich habe nichts zu sagen, sondern man schickt mich, um Ihnen durch mich gewisse Dinge sagen zu lassen!«

»Wer schickt Sie, Boris Wladimirowitsch?«

Der weltkundige, vornehme Slawe wich wieder aus.

»Es war der letzte Wunsch Ihres seligen Vaters – wenigstens der letzte Wunsch, der zu uns nach Petrograd gelangte –, nach seinem Abscheiden die würdigen Überlieferungen dieses Hauses, vor dem wir stehen, nicht durch Schutzmaßnahmen der Negierung gegen die Unbesonnenheit seines Erben getrübt zu sehen. Dieser Wunsch des Entschlafenen erreichte, dessen Stellung entsprechend, die Gnade eines hohen Orts. Man ist dort, in Würdigung der ausgezeichneten Verdienste Ihres Vaters, geneigt, seinem Wunsch ausnahmsweise zu entsprechen und Nachsicht gegen Sie, Waldemar Konstantinowitsch, walten zu lassen!«

»Belieben Sie einzutreten!«

Sie saßen sich drinnen gegenüber. Der anglisierte, bärenhafte Knjäs hatte seine Dose hervorgeholt und drehte sich zwischen den riesigen Fäusten eine Papyros.

»Betrachten Sie diese Unterhaltung als ein reines Privatgespräch, Waldemar Konstantinowitsch!« sagte er, den feinen, blauen Rauch durch die breiten Nüstern der Nase blasend. »Als ein Mittel, amtliche Maßregeln überflüssig zu machen, die sonst unausbleiblich ... Wie ist das? Sie sind ein Sonderling. Gut! Man kennt euch Balten. Ich besonders. Ich bin, durch meine Schwester Wiffenhausen, mit euch verschwägert. Ihr seid nun einmal so. Sie besonders! Ich beobachtete Sie als Menschenkenner schon vorigen Herbst in der Krim. Sie waren mißvergnügt ... zerstreut ... hielten sich abseits ... Ich hatte dann im Winter Gelegenheit, Ihre Wandlungen in Petrograd zu verfolgen! Gehen wir darüber hinweg.«

Graf Herzerode lächelte vor sich hin, aber er sagte nichts.

»Dann hieß es, Sie hielten sich in Finnland verborgen, und nun wurde es klar: Sie waren schon seit langem irgendwelchen schädlichen Richtlinien des Denkens verfallen, die Sie von dem wahren Geist der russischen Gesellschaft trennen. Ihr Vater schrieb nach Petrograd. Hier ... Gerzerodde bekam den Auftrag des älteren Gehilfen des Ministers, den Fall zu untersuchen ...«

Waldemar Kerkhuß warf seinem Vetter Wittekind einen Blick kühler Feindschaft zu.

»Ich halte mich nicht verborgen!« sagte er. »Und habe nichts zu verbergen. Hier bin ich.«

»Vortrefflich! Sie haben es gehört, Graf Gerzerodde! Ihre Aufklärung beruhigt mich. Man wird Ihre Reue würdigen, wenn man sich überzeugt hat, daß Sie ein wahrer Russe sind.«

Waldemar Kerkhuß schwieg.

»Sie haben uns das zu beweisen, Waldemar Konstantinowitsch! Gerade nach den Stimmen des Verdachts, die gegen Sie laut wurden! Sie haben diese Verdachtsgründe durch besonderen Eifer für die große russische Sache zu widerlegen.«

»Wie könnte ich das, Boris Wladimirowitsch! Sie wissen: mein lahmes Knie verhindert mich, zu kämpfen.«

»Auch ich bin zu alt, um noch die russische Erde zu verteidigen, und dennoch im Dienste Rußlands. Jeder bei uns. Unsere Damen pflegen. Unsere Geistlichkeit betet für den Sieg. Unsere Intelligenz streitet, jeder an seiner Stelle, für Gesittung und Menschlichkeit gegen die Hunnen.«

»Lassen Sie doch diesen englischen Unsinn, Fürst!« sagte Waldemar Kerkhuß nachlässig.

»Wie denn? Ich verstand nicht recht ...«

»Sie wissen am besten, Boris Wladimirowitsch, daß die Deutschen keine Hunnen sind. Die Deutschen haben, wo sie bei uns eindrangen, ohne Not nicht einen Stein vom anderen gerührt. Wir Russen waren es, die Ostpreußen und auf dem Rückzug unser eigenes Land verwüsteten, als führe Iwan der Gräßliche noch den Oberbefehl!«

»Hören Sie, Graf Gerzerodde!«

»Die Heere des Zaren waren es, die am Bug Tausende von polnischen Frauen und Kindern gegen die bayrischen Geschütze trieben, die ohne Not Brest niederbrannten, überall hausten wie damals, als Peter der Große durch Menschikoff Esthland hier zur Wüste machen ließ.«

»Sie hatten recht, Gerzerodde. Da ist ...« »Also überlassen wir doch diese Redensarten den emporgekommenen Rechtsanwälten des Westens, Knjäs, die Sie so verehren! Wir hier sind vornehmer Abstammung. Wir haben die Verkleinerung eines ritterbürtigen Gegners nicht nötig.«

»Sie verteidigen den Feind!«

»Nein. Ich nehme Rußland gegen seine Freunde in Schutz!«

»Wir wußten es!« sagte Fürst Manuchin, wieder mit seiner Zigarettendose beschäftigt. »Man beobachtet Sie seit einem Jahr. Ein Mann Ihrer Stellung lebt nicht unbeobachtet wie ein Muschik. Fast ein halbes Jahr nach dem Beginn des Kreuzzugs der Menschheit ...«

»Fürst ... diese britischen Kinderklappern sind für die Nigger bestimmt, nicht für uns ...«

»... kehrten Sie erst aus dem Ausland heim. An der Front verweilten Sie nur wenige Stunden. In Bukarest, wohin man Sie schickte, nur wenige Monate. Hätten Sie sich auf Ihre Güter zurückgezogen und dort in Würdigung der Zeit ruhig und achtungsvoll verhalten ... man wäre in Petrograd zufrieden gewesen ...«

»Wenn ich nur mit Petrograd zufrieden wäre, Knjäs!«

Waldemar Kerkhuß sagte es mit all dem kaltblütigen Hochmut, der ihm, wenn er wollte, zu Gebote stand. Er war gleichgültig sitzengeblieben, während der Petersburger Fürst aus seinem Sessel aussprang.

»Ah ... da haben wir's, Sie verraten sich, Baron! ... Sie bestätigen die schlimmsten Befürchtungen, die die Freunde Ihres Vaters hegten ...«

»Belieben Sie: was verbrach ich?«

»Wissen Sie, was man seit Jahr und Tag von Ihnen munkelt und was ich und die Freunde Ihres Vaters uns stets zu glauben weigerten? ›Warum treibt sich dieser Baron scheinbar ohne Ziel und Sinn in der Welt herum? Warum sieht man ihn gestern im Süden Rußlands, heute an der Newa, morgen in Finnland, nahe der Grenze? Warum verkehrt er überall absichtlich ungern mit der örtlichen Gesellschaft und den Wohlgesinnten? Warum bemerkt man ihn im Verkehr mit allerhand verdächtigen Gestalten? Warum scheut er sich nicht, bei solchen Zusammenkünften die deutsche Sprache in den Mund zu nehmen?‹ Lügen Sie nicht: Man hat es durch die Fenster Ihres Zimmers gehört!«

»Kein Gesetz, nicht einmal ein russisches, verbietet, in meinen vier Wänden Deutsch zu sprechen!«

»Man sagt sich: Wozu das? Zur Ochrana, zur Geheimpolizei, gehört der Baron nicht ...«

»Woher wißt ihr denn, daß ich nicht Mitglied der Ochrana bin!« sagte Waldemar Kerkhuß boshaft und lächelte.

»... weil die Ochrana weiß, daß wir, mit ihrer Erlaubnis, hier bei Ihnen sind! Die Ochrana weiß noch mehr! Ihre Vermutung bestätigt sich ...«

»Was denn?«

»... daß Sie ein Agent Deutschlands sind!«

Waldemar Kerkhuß war emporgeschnellt. Mit ihm zugleich hatte sich Graf Herzerode erhoben. Eine Sekunde war Schweigen zwischen den drei Männern. Dann setzte sich der Erbherr auf Kerreküll wieder und sagte kurz und verächtlich:

»Ich bin es nicht. Die Ochrana mag es mir beweisen. Sie wird sich blamieren. Dies Gesindel blamiert sich ja immer!«

»Die Tatsachen sprechen gegen Sie ...«

»Mein Ehrenwort als Edelmann, Knjäs Manuchin: Ich bin kein Agent Deutschlands und war es nie!«

Der bärtige, schwergebaute Petersburger Staatsmann ließ eine diplomatische Pause im Gespräch eintreten. Er überlegte. Endlich begann er:

»Sie sehen ein, daß Sie trotzdem schuldig sind...?«

»Wie das?«

»... schuldig, unserem heiligen Rußland nicht jenes Maß kindlicher Liebe und Hilfsbereitschaft dargebracht zu haben, das Gott in dieser Zeit von den Söhnen unserer Erde fordert. Sie standen abseits, als sei Ihnen das Schicksal des Reiches gleich. Sie gehörten zu den unzuverlässigen, den tatenlosen, den spöttischen Charakteren unseres sozialen Aufbaues. Es muß Ihre Aufgabe sein, durch verdoppelte Hingabe an die große Sache von jetzt ab diesen unheilvollen Eindruck zu verwischen, wenn Sie sich nicht Ernsterem aussetzen wollen...«

»Was ist das Ernstere?... Schlüsselburg... Krasnojarsk... Sibirien...?«

»Lassen wir Sibirien! Wir sind hier vor den Toren Petrograds. Man erwartet Sie in Petrograd! Wann werden Sie kommen, Waldemar Konstantinowitsch?«

»Was soll ich dort?«

»Was wir alle tun: gegen den deutschen Feind kämpfen! Gegen den Feind im Innern! Der Deutsche ist da noch überall! Er sitzt noch in unseren Seelen, wie er in unseren Aktiengesellschaften und Bankrechnungen saß. Ein Netz wie das, womit Karl Karlowitsch Rußland überspannte, zerreißt nicht mit einemmal. Immer wieder finden sich Reste deutscher Verbindungen, deutschen Einflusses. Wir Russen sind zu einfach dazu. Die tückische Vielseitigkeit des Deutschen verwirrt uns. Auch verstehen wir die Sprache nicht genügend! Wir sind auf die tatkräftige Hilfe derjenigen Vaterlandsfreunde angewiesen, die dies düstere Gebiet zu übersehen wissen!«

»Und das, meinen Sie, wäre eine Aufgabe auch für mich ...?«

»Eine Tätigkeit, in der Sie Reue und Eifer für die gute Sache an den Tag zu legen vermögen! Es tut gerade bei Ihnen doppelt not. Aber man wird Ihnen keine kleinlichen Vorschriften machen. Der Russe ist nicht engherzig wie der Deutsche. Wählen Sie sich irgendeine Anstrengung wider den gemeinsamen Feind! Treten Sie den Ausschüssen bei, die die Kräfte Rußlands sammeln! Halten Sie vor der Intelligenz unserer Provinzstädte Vorträge über die deutsche Gefahr! Helfen Sie, die kostbaren Bande der Freundschaft zu festigen, die uns mit den immer zahlreicher nach Petrograd strömenden Engländern, Franzosen, Italienern, Japanern, Rumänen, Amerikanern vereinen! Mit einem Wort: Zeigen Sie, daß Sie ein schuldbewußter, aber dafür doppelt hilfsbereiter Sohn unserer allrussischen Mutter sind, der auch das seine zum Untergang Deutschlands beizutragen sich beeifert!«

»Und dies bißchen, Knjäs, würde genügen?«

»Es würde genügen!« versetzte Fürst Manuchin zögernd. »Immerhin: je mehr, desto besser! ... Andere in Ihrer Lage zeigten von Kriegsbeginn an eine Hingabe, die sich freiwillig von jedem früheren Zusammenhang mit deutscher Art lossagte! Erinnern wir uns, daß Herr von Rennenkampf um die Gnade bat, seinen deutschen Namen in den russischen ›Der laufende Mann‹ übersetzen zu dürfen! Manche Aufgeklärte folgten seinem Beispiel!«

»Ich muß es auch?«

»Man verlangt es nicht. Das sind geheiligte Ausbrüche vaterländischen Empfindens. Immerhin: Baron Kirchhaus würde auch auf russisch vorteilhaft klingen!«

»Da wir schon bei der Kirche sind: Sollte ich nicht etwa zum orthodoxen Glauben übertreten?«

»Solche Entschlüsse sind Eingebungen des Heiligen Geistes. Menschen haben nicht darüber zu befinden, über wen die Taube vom Himmel ihre Flügel breitet. Geschieht es aber, mein lieber Waldemar Konstantinowitsch, dann wäre allerdings keine Gnade für einen solchen Triumph der wahren Kirche in diesem Lande zu hoch. Auszeichnungen ganz von oben winken da. Eine glänzende Laufbahn in dem siegreichen Rußland öffnet sich Ihnen ...«

»Und nun gehen Sie wieder nach Petrograd, Fürst!« sagte Waldemar Kerkhuß und stand auf. »Und du auch, Vetter Wittekind, du Judas und verdorbener, fauler Ast an unserem alten, guten Stamm ...«

»Was ...?«

»... und bestellt den Russen: Hier steht ein baltischer Edelmann, der auf siebenhundert Jahre deutscher Ahnen zurückschaut, dessen erstes Wort, von Kindesbeinen an, deutsch ist, dessen Jlaube deutsch ist – ich spreche jetzt Deutsch, Fürst Manuchin – Sie verstehn es sehr jut – und der jetzt jerade deutsch ist, weil jetzt Courage dazugehört, es zu sein ...«

»Du redest dich um Hals und Kragen, Waldemar!«

»Um deinen Hals sehe ich schon die Schlinge, Wittekind! Die Russen werden sie dir schon einmal zuziehen. Allem hier im Lande, was sich nicht wehrt! Ich wehre mich, Knjäs! Melden Sie in Petersburg, ich hätte heute mein Erbe anjetreten ...«

»Sie werden sich nicht mehr lange daran erfreuen!«

»... und dazu jehörte auch alles, was immer, solange es Kerkhuß' jibt, deutsch war und deutsch in ihnen jeblieben ist und deutsch bleiben soll! Sonst würden wir ja wie ihr drüben in der Moskowiterei! Was wären wir dann noch?«

»Genug!«

»Bist du denn wahnsinnig?«

»Wie denn wahnsinnig? Ich sage die Wahrheit!«

»Kommen Sie, Graf Gerzerodde! Unser Auftrag ist zu Ende. Ich werde berichten. Morgen werden andere hier vorsprechen!«

»Schickt nur die Kosaken! Ich jebe euch Asiaten nicht nach! So wenig wie meine Vorfahren! Wir stehen hier auf Wacht! Ich bin ein deutscher Edelmann!«

»Hören Sie es, Gerzerodde! Er nennt sich einen Deutschen!«

»... und ich habe von Deutschland jelernt, daß es das beste ist, sich nicht vor euch zu fürchten! Wir werden schon noch unser Leben jejen euch jewinnen!«

Draußen, in dem wasserumzogenen Park, gingen die drei Brüder Robin, Axel und Michael, stumm, in jener schweren und leeren Stimmung, die einem Begräbnis folgt. Sie hoben die gesenkten Köpfe beim scharfen Rasseln eines davonjagenden Wagens. Sonderbar: Ihnen winkten die drinnen, der Fürst Manuchin und der Vetter Herzerode, im Vorbeifahren mit der Hand zu. Aber von dem Ältesten, der unter der Eingangswölbung seines Schlosses stand und ihnen gleichgültig nachsah, hatten sie sich ohne Gruß getrennt. Die drei traten, neugierig trotz der Trauer und etwas besorgt, an ihn heran:

»Waldemar – was machst du für Jeschichten? Habt ihr euch jezankt?«

Der Wagen verschwand um die Ecke der langen Ulmenallee. Waldemar Kerkhuß atmete auf.

»Nun: es ist jeschehen!« sagte er sehr ruhig. »Nun jehen die Dinge ihren Jang!«

Die anderen Brüder schauten sich an. Robin zuckte die Achseln.

»Michael und ich tragen den Rock des Zaren, Axel ist im Zivil-Tschin. Uns kann also nichts passieren. Aber du nimm dich in acht, Waldemar. Du bist nicht gut anjeschrieben. Ich warnte dich schon neulich!«

Sein Bruder Waldemar hörte nicht recht darauf. Er sah auf die Uhr und rechnete.

»Zehn Werst bis zur Station. Dort haben sie den Telegraph. Es muß telegraphisch Antwort kommen, Befehl jejeben werden. Die Fahrt dauert wieder zehn Werst hierher. Da ist noch lange Zeit.«

»Was heißt das?« frug der Midshipman.

»Nichts, Micha! Ich habe mir nur den Tag ein wenig einjeteilt!«

Waldemar Kerkhuß erschien, als sei nichts geschehen, zur Mittagstafel. Sein Schweigen fiel nicht auf. Alle waren still und in sich gekehrt. Die verweinte Mutter, der Pastor Magnus, die Brüder. Die halbdeutschen Diener trugen die Speisen fast unberührt wieder ab. Als man sich erhob, küßte Waldemar seine Mutter mit einer seinem kühlen Wesen sonst ungewohnten Zärtlichkeit.

»Ich werde etwas in den Wald jehn!« sagte er.

Die zartgrünen Wellen der Birken rauschten im Spiel des Maiwinds, in dem sich seltsam der süße Duft der blumigen Erde und der Salzhauch der Ostsee mengten. Die Sonne warf zwischen ihnen ihre flimmernden Lichter in die schwarzen Moorlachen, sank langsam, färbte im Westen den Himmel über Land und Strand mit der Glut einer riesigen, purpurnen Wolkenbank, die, violett durchschattet, nach oben in flammendes Scharlach und lichtes Rosa und märchenhaftes Grasgrün sich verlor. Durch die abendliche Stille klangen Rufe im Wald. Man suchte den Schloßherrn, der seit vielen Stunden verschwunden war. Die Stimmen der Brüder verloren sich. Wie sollte man in dieser unbegrenzten Ferne von Forst und Sumpf, Feld und Heide jemanden finden, der sich nicht finden lassen wollte? Zumal wenn, wie jetzt, die Dämmerung hereinbrach? Dunkel wurde es in dieser Zeit, wo schon die »weißen Nächte« des Juni sich nahten, am esthnischen Strand überhaupt nicht. Die ersten glühenden Morgenstreifen säumten da den Osten, ehe noch im Westen der letzte Schein vom Abendrot verschwunden war. Jetzt war noch, gegen Deutschland hin, eine blutige Helle, wie von einer mächtigen Feuersbrunst. Die Ruine der ehemaligen Kirche von St. Annen stand in schwarzen, gespenstigen Umrissen an der Küste, vor dem düsteren Rot, das durch ihre leeren Fensterwölbungen glühte und die abenteuerlich gezackten Mauern umwob. Aus dem einst von Iwan dem Schrecklichen eingeäscherten Gotteshaus trat, vorsichtig sich nach allen Seiten umschauend, Waldemar Kerkhuß heraus. Hier brauchte er nicht zu fürchten, gesehen zu werden. Niemand von den Esthen näherte sich gerne, und am wenigsten jetzt in der hellen Dämmerung, der Stelle, wo der Geist des Mönchs, der die Seinen damals dem Moskowiter verraten, ruhelos umging, noch in der Kutte, den Kopf unter dem Arm ...

Große, weiße Möwen zogen langsam, scheinbar schon schlaftrunken, von dem schlafenden, totenstillen, weiten Meer zu den Klippen heim. Um die spielte das Wasser kaum mehr mit leisem Gurgeln. Auf eine von ihnen war der große Seehund, wie jeden Abend, aus der Flut hinaufgeklommen und lag breit auf dem noch von der Sonne durchwärmten Stein. Waldemars Vater und Großvater hatten ihn schon gesehen. Niemand wußte, wie alt er war. Von den fernen Fischerhütten stieg der Rauch des Wacholderfeuers. Die Netze hingen am Strand. Über dem weißhaarigen, vom Aussatz verstümmelten Esthen, der vor seinem aus Schiffstrümmern gebauten Holzhaus saß, hing lebensgroß am Giebel im Abendschein das Gallionbild der vor Jahrzehnten gescheiterten spanischen Brigg, die Jungfrau Maria. Vom Land her klang das Brüllen weidender Kühe. Waldemar Kerkhuß schaute unwillkürlich, mit dem Blick des Landwirts, nach den scheckigen Flecken hinüber, ob auch das Jungvieh vor der kühlen Nacht in den Stall heimgetrieben sei. Er nahm von allem Abschied, was da war und sein war und doch nicht mehr sein. Er ging, neben der Straße, im Wald, als Flüchtling über den Boden, der ihm gehörte.

Dann stutzte er und barg sich hinter einem Busch. Ein kleines, ausgedientes Herrschaftsfuhrwerk klapperte den Weg heran. Zwei zottige Gäulchen trabten müde, mit dicken, hängenden Köpfen, vor ihm. Ein Fräulein hielt vom Bock aus die schlaffen Zügel. Sie saß träumerisch, den rotblonden Kopf nach vom geneigt, und bewegte nur zuweilen in der Art eines trotz seiner Jugend an Drängen und Treiben und Schaffen und Sorgen gewohnten Menschen die Spitze der Peitsche hin und her. Hinter ihr, in der vermotteten Kutsche, duckten sich zwei andere Mädchen zusammen, etwas älter als sie, schon über Dreißig. Sie hatte den Mund halb offen und sang halblaut im Fahren vor sich hin. Das Knarren der Räder verschlang die schwache Stimme, die so schwermütig war wie das Land um sie. Dann richtete sie sich jäh empor und griff geistesgegenwärtig und kaltblütig in die Zügel, während die Schwestern innen laut aufschrien. Die Pferde hatten gescheut. Ein Mann war unversehens aus dem Dickicht an den Wagen getreten.

»Bange dich nicht, Karin! Ich bin es: Waldemar Kerkhuß!«

»Ich bin nicht so ängstlich ...« Karin von Saxeson faßte die Zügel in die eine Hand und reichte die andere mit ernstem Gesicht dem unten: »Nimm mein inniges Beileid, Waldemar! Wir sind auf dem Wege zu deiner Mutter und zu euch, um euch unsere Teilnahme zu sagen!«

»Ihr fahrt so spät allein über Land?«

»Wir konnten nicht eher. Wir erfuhren es erst heute morgen. Die Jäule waren schon draußen. Es war da ein Roggenschlag ausjewintert, den man neu bestellen muß. Als sie heimkamen, mußten sie futtern. So wurde es Nacht.«

Karin von Saxeson sprach frisch und unbefangen. Die vier armen Fräulein auf dem Moor- und Sumpfgut Nois machten kein Hehl daraus, daß sie einsame Waisen waren und froh sein mußten, wenigstens das Dach dieses uralten, baufälligen deutschen Edelsitzes über sich zu haben. Der Großgrundherr auf Kerreküll hatte auch die beiden innen, Ode und Ara, begrüßt. Er stand am Wagen und schaute zu Karin Saxesons reinem, nordischem Gesicht empor, das mit seinen kleinen Sommersprossen, seinen klaren, blauen Augen sich von dem geheimnisvollen Dämmern der esthnischen Nacht abhob, und sagte:

»Vor anderthalb Jahren sahen wir uns zuletzt. Ich fuhr in einem jräßlichen Wetter über Land, von einem Gut zum anderen. Schließlich trat ich, naß wie ein Pferdedieb, bei Nacht und Nebel bei euch in Nois ein!«

»O – ich weiß!«

»Dein Vater war kurz vorher jestorben wie jetzt der meine!«

»Jawohl.«

Sie schwiegen.

»Seit wann bist du hier, Waldemar?«

»Seit ein paar Tagen. Es hat sich nichts jeändert. Dies Land ist, wie es war!«

Er blickte noch immer zu dem gesunden, vollen Mädchenantlitz empor und sprach halblaut, in einem seltsamen Ton:

»Du bist auch wie das Land, Karin! Du wirst nicht älter. Du bleibst, was du bist! Man wird ruhig, wenn man dich anschaut!« Das blonde Fräulein von Saxeson beugte sich vor, scheinbar, um die Zügel fester in die Hände zu bekommen. Er fuhr fort, an die Kutsche gelehnt:

»Ich bin nicht ruhig. In mir ist die Unruhe. Auch jetzt muß ich fort!«

»Schon wieder? Wo du eben jekommen bist?«

»Was soll man machen? Es muß sein!«

»Wohin jehst du?«

»Nach Deutschland.«

Die drei Schwestern fuhren entsetzt empor. Karin machte ungläubige große, blaue Augen und wurde ganz blaß.

»Nach Deutschland?«

»Aber jewiß!«

»Man läßt dich ja jar nicht hier hinaus?«

»Man wird mich in wenigen Stunden überhaupt nicht mehr frei herumjehen lassen. Da jehe ich lieber vorher dorthin, wo ich hinjehöre!«

»... und läßt alles hier im Stich, wo du eben alles jeerbt hast ...?«

»Wer alles hat, hat nichts!« sagte Waldemar Kerkhuß, »und wer nichts hat, ist reich. Du zum Beispiel bist reich, Karin, und weißt es nicht. Ich dajejen bin ein Bettler. Ich muß nach Deutschland!«

»Was willst du dort?«

»Deutschland ist auch reich ...«

»Ja. An Feinden.«

»Ich auch. Ich habe heute Rußland den Krieg erklärt.«

»Um Gottes willen!«

»Nun will ich sehn, ob mir Deutschland hilft!«

»Du kommst ja nicht über die Jrenze!«

»Ich werde schon. Ich weiß meinen Weg. Da am Strand entlang ...«

Sie dachte daran, daß Waldemar Kerkhuß in seinen früheren Jahren, als er die väterlichen Güter verwaltete, so tief in die Seelen und Geheimnisse der Esthen eingedrungen war, wie selten einer der deutschen Herren des Landes. Er selbst sprach nie davon. Aber es ging damals die Sage, daß er eine Zeitlang fast jede Nacht das Schloß verließ, um den geheimnisvollen, vor dem Pastor, der Ritterschaft und den Behörden in Dunkel gehüllten Zusammenkünften und religiösen Übungen der unterirdischen esthnischen Sekten beizuwohnen. Wenn einer, dann fand er hier im Lande Hilfe...

Er gab ihr die Hand.

»Es ist mir lieb, daß ich jerade dich noch jetroffen habe, Karin!« sprach er weich. »Es ist mir ein jutes Vorzeichen auf den Weg.«

»Waldemar... wann wird man dich wiedersehn?«

»Ich weiß nicht, ob ich dies Land und dich je wiederseh'! Nicht um das, was man will, handelt es sich jetzt, sondern was man muß. Kehre jetzt um! Fahre nächster Tage einmal nach Kerreküll! Niemand braucht dort zu wissen, daß du mich jesprochen hast!... Hast du es bejriffen?«

»Ja.«

»Jehab' dich wohl!«

Der Vollmond stand am Himmel. Es war beinahe so hell wie am Tag. Das Rasseln des Wagens mit den drei Fräulein von Saxeson war längst verhallt. Unzählige Sprosser sangen in den Zweigen des Laubwalds und füllten die herbe Frühlingsnacht mit ihrem Nachtigallschluchzen. Waldemar Kerkhuß' Gestalt warf, wie er weiterschritt, einen langen, schwarzen Mondschatten hinter sich, als folge ihm da ein dunkler Doppelgänger. Von ferne kam ihm ein leises Läuten entgegen... Das Glöckchen am russischen Krummholz... Postpferde... jetzt... um diese Zeit...?

Das Klingeln nahte sich ... Das Rollen der Räder ... Das Schnauben ... der dumpfe Schall galoppierender Hufe ... Es flog wie ein Traumbild im Mondlicht heran und vorbei ... Drei rauchende, schweißbedeckte Klepper, ein Gendarm neben dem Kutscher auf dem Bock. Zwei andere im Wagen gegenüber einer Gestalt in russischem Offiziersmantel, die Mütze auf dem Kopf. Es sauste davon wie das Verhängnis, in der Richtung nach dem Schloß Kerreküll. Rußland kam ...

Waldemar Kerkhuß stand im Dunkel des Waldes und dachte sich: Nun, meine Täubchen, ihr werdet mich nicht verhaften! In dieser Wildnis hier kannte er seit Kindesbeinen jeden Schlupf und Steg. Er drehte sich seitwärts und schritt geradenwegs in den bebuschten Sumpf hinein. Der Moorboden schwankte und gurgelte unter ihm. Weiße Blasen stiegen unheilverkündend aus der Tiefe des Abgrunds unter seinen Füßen. Er kehrte sich nicht daran und suchte sich mit der Sicherheit des Waldläufers seinen Pfad nach Westen.


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