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2.

Du meine Heimat ... der schwere Brandungsschlag der Ostsee klang in feierlichem, gleichmäßigem Rollen an Waldemar Kerkhuß' Ohren und an sein unruhiges Herz, dies Wiegenlied des grauen Meeres, das schon den Knaben in den Schlaf gesungen, dieser Sang der Schwermut, der zu der tiefen Einsamkeit dieses Landes gehörte. Du meine Heimat, seit Jahr und Tag nicht geschaut, in fremden Städten, unter fremden Menschen halb vergessen – du äußerstes Thule, du letzter deutscher Strand, in Deutschland selbst so unbekannt, so weltenfern in deiner Weltabgeschiedenheit ... Waldemar Kerkhuß vernahm durch das Brausen des Windes den klagenden Schrei der Möwen unter sich, das dumpfe Rollen der Wagenräder und hatte das plötzliche, beruhigte Herrengefühl der Heimkehr: diese Einsamkeit hier ist mein. Dieser Boden da unten bin ich. Diese karge, steinige Erde gehört schon seit einer Stunde Wegs zu der Herrschaft Kerreküll und zu meinem Geschlecht.

Er hatte sich, nach seiner Art, den Dingen ihren Lauf zu lassen, nicht erst angemeldet und auf der kleinen hölzernen Station, inmitten des Waldes, in dem er den Zug verließ, den ersten besten Esthen anspannen heißen. Die drei zottigen Bauerngäule trotteten dahin, ein scharfer, bitterer Herdrauch stieg aus dem im Schafpelz gekrümmten Rücken des Undeutschen auf dem Bock. Der Baron Kerkhuß verscheuchte den Dunst durch das bläuliche Wehen der Papyrossen und ließ, unter der schwarzen Lammfellmütze, die seinen blonden Schopf deckte, die großen blauen Augen mit dem Gleichmut des Besitzenden über das esthnische Land schweifen, über dies stille Gewimmel weißer Birkenstämme, die unabsehbar unter dem niederen, grauen Himmel in den schwarzen Wasserlachen der Sümpfe standen.

Es war ein Frieden für den, der von draußen wieder in das Reich seiner Väter kam. Die donnernde, blutende, stöhnende Wirklichkeit der Zeit schien wie ein Traum. Hier war alles so, wie es gestern und wie es vor Jahrhunderten gewesen. Selbst der große Bauernaufruhr vor zehn Jahren hatte äußerlich keine Spuren mehr hinterlassen. Wie immer dehnten sich die weiten Weidesteppen, säumten die niederen Steinmauern den Weg, zwischen denen man jetzt im Winter nicht wie sonst alle Augenblicke jemanden aus dem Wagen steigen lassen mußte, um ein Viehgatter zu öffnen, lagen die großen Findlingsblöcke aus schwedischem Granit inmitten der verschneiten Felder. Leichte Flocken stäubten hernieder. Waldemar Kerkhuß wickelte sich fester in seinen Pelz. Der Wagen fuhr jetzt dicht am Meer. Hart neben dem Weg stürzte sich der Glint, die esthnische Küstenmauer, senkrecht hinunter in die Tiefe. Eisschollen lagen da am Strande und trieben weißlich auf dem weißen Gischt der Wellen, der um die Klippen strudelte. Weiter hinaus war die See bleifarben, grau wie die kalte Luft, grau wie die fliegenden Wolken an dem niederen Himmel, grau wie das ganze Esthland, die nördlichste, die kleinste, die fernste der drei baltischen Provinzen.

Dann richtete sich Waldemar Kerkhuß in dem klapperigen Fuhrwerk auf und schirmte die Augen gegen das Schneegestöber mit der Hand. Auf windumpfiffenem, möwenumflattertem Hügel hart am Meer hob sich das Gespenst einer Kirche. Die kahlen Mauern, die längst kein Dach mehr trugen, schienen in dem Sturm zu schwanken, der durch die offenen Spitzbogenfenster brauste, und standen doch so schon seit Hunderten von Jahren. Iwan der Schreckliche hatte bereits das Gotteshaus St. Annen mit seinen Moskowiterhorden eingeäschert. Die drei dampfenden Pferdchen schwenkten ein. Plötzlich verlor sich der eisige Salzhauch der See. Der Wagen rollte zwischen einer Doppelreihe alter Ulmen einem mächtigen Gebäudeklotz zu, der ganz hinten im Park, rings von stillen, dunklen Seespiegeln umschlossen, auftauchte. Er hatte die zahlreichen kleinen Fensterreihen eines alten Klosters, aber ein kriegerischer, mächtiger Wehrturm säumte rechts die vielstöckige Wasserburg ein. Die Kerkhuß hatten sich den einstigen Mönchssitz ritterlich ausgebaut. Ställe und Höfe, Brauerei und Brennerei der riesigen Herrschaft lagen weit entfernt, dem Blick entzogen, jenseits der Wasserflächen. Der Esthe trieb seine Gäule über die Brücke und hielt vor dem Schloßeingang.

Ein junger russischer Offizier stand auf der Freitreppe. Er war blaß. In der einen Hand trug er ein Jagdgewehr. Der linke Arm lag in einer Schlinge. Waldemar Kerkhuß stieg aus. Die Brüder küßten sich.

»Robin! Du hier?«

»Wie denn nicht? Du siehst ja...«

»Du bist verwundet.«

Hier, in der esthnischen Einsamkeit, sprachen sie laut Deutsch. Der Petersburger Gardekavallerist warf seine Zigarette in den Schnee.

»Viel blieb von unseren Kürassieren in Ostpreußen nicht übrig!« sagte er. »Die Deutschen sind fixe Kerle. Sie verstehen ihr Handwerk.«

»Und was machst du hier?«

»Was soll ich tun?... Ich wollte auf die Jagd jehn ... Ich versuche mit meiner Hand zu schießen...«

»Sind Elche da?«

»Es sind da. Man sah einen starken Schaufler, unten am Moor. Man kann nicht hin. Es sollte Kälte jeben, daß die Sümpfe frieren.«

»Bären?«

»Der alte Wiffenhausen will einen Bären haben. Er lud mich ein. Es ist noch zu früh. Man wird sehen!«

»Auch Wölfe?«

»Wölfe jenug! Sie bellen die janze Nacht in der Heide. Mama klagte jestern. Niemand wußte, daß du kommst! Die Eltern schlafen!«

»Was ist mit den Brüdern?«

»Was soll sein? Michael ist in Kronstadt. Da liegen sie mit der Flotte. Man hat es da näher nach Petrograd als gegen die Deutschen. Axel ist in Wladiwostok! Nun... zahle den Kerl und tritt ein!«

Mächtige Elchschaufeln spreizten sich, gleich aufgereckten gelbbraunen Riesenhänden, an der Wand der Schloßhalle zu beiden Seiten des acht Fuß hohen, hundertfach im bunten Gewimmel der Wappen auf vergilbtem Pergament verästelten Stammbaums, der Ahnenreihe der Kerkhuß, von dem Tage ab, da der Meister der »Swert Brudern« dem Theodoricus miles de Kukenoys den Ordensmantel mit einer Schnur um den Hals befestigt: »dis Schwert entfange von miner Handt, zu schützen Gotts- und Marienlandt!« – Durch die Zeiten der ersten Schlacht von Tannenberg bis jetzt zur zweiten, an die Robin von Kerkhuß, der Kavallerist, unwillig dachte, während er den verwundeten Arm prüfend in der Schlinge wiegte.

»Jräßlich ist die Langeweile hier!« sagte er. »In acht Tagen jehe ich zur Truppe! Ich kann die Zügel in der rechten Hand halten!«

»Erbarme dich! Womit willst du den Säbel führen?«

»Wozu ein Säbel? Ich kann auch so mitreiten. Man wird mich als Galopin verwenden!«

»Warum eilst du so?«

»... weil ich nicht zu spät kommen möchte! Haseldorp hatte noch, ehe er fiel, mit Manuchin jewettet, daß wir spätestens zu Weihnachten alten Stils in Königsberg sein werden! Es jab ja Mißjeschick... jewiß doch... aber jetzt zieht der Großfürst hinter Sievers' Truppen eine neue Einfallarmee zusammen. Drei Millionen haben wir in Polen jejen Schlesien... Was willst du?«

Auf den hübschen Zügen des Barons Robin lag der Hochmut der auserlesenen Petersburger Gardetruppe zu Pferd, in der neben jungen Großfürsten des Kaiserhauses und den Sprossen altrussischer Fürstengeschlechter auch baltischer Adel diente. Seit Menschenaltern gedient hatte. Viele der Ahnenbilder an den Wänden trugen russische Uniform. Waldemar Kerkhuß faßte die gesunde Hand des Bruders mit einem rauhen Griff und zog ihn vor den Stammbaum.

»Ist das nicht eine Narrheit, Robin?« sagte er. »Hier, von den ersten Vorfahren da oben, von uns und Ode Oberdieck und Anna von Bekkerwerde bis heute, sind da nur deutsche Namen! Und du jaloppierst mit den Asiaten jejen Deutschland?«

»Wie denn? Ich bin Offizier. Man befahl es. Ich tue meine Pflicht!«

»Das mußt du. Aber was denkst du dir dabei?«

»... daß ich das tue, was wir immer taten! Wir haben immer jedient. Unser Ururjroßvater war Feldmarschall unter der alten Katharina.«

Was die Ahnen getan hatten, war wohlgetan. Die Ahnen lebten in diesen Räumen. Sie gaben den Seienden Maß und Sinn des Seins. Der junge russische Offizier nutzte seinen Vorteil.

»Dich wird man auch holen!« sagte er lässig. »Vorige Woche erst haben die örtlichen Behörden nach dir jefragt!«

»Mein Knie ist lahm. Das weiß man!«

»Man kann auch auf einem Bein stehen. Irgendwie wird man dich schon verwenden. Wer jetzt nicht mitmacht, ist auf Lebenszeit unmöglich jeworden ... Willst du hier sitzen und mit Maman und der dwatschen Muhme Whist spielen, während wir kämpfen?«

Waldemar Kerkhuß fühlte sich von hinten umschlungen und rasch rechts und links auf die Wangen geküßt. Sein Vater, der Majoratsherr Konstantin von Kerkhuß, war, die hohe und schlanke Gestalt trotz seiner siebzig Jahre noch elastisch aufgerichtet, unhörbar mit dem leichten und wiegenden Gang des alten Weltmanns die teppichbelegten Treppenstufen hinabgeeilt. Seine langen grauen, parfümierten Favoris, die mit ausrasiertem Kinn das längliche, lebhafte Gesicht mit den großen grauen Augen umrahmten, umwehten den Sohn. Ein ganz feiner Duft der Vornehmheit, von Kölnischwasser, von edelsten Zigaretten, ging von ihm aus. Er nahm den Kopf des Jüngeren zwischen seine langen, weißen, gepflegten Hände und betrachtete ihn lächelnd.

»So hat dich Gott zurückjebracht!« sagte er. »Komm zu Mama und dann hinauf zu mir!«

Baron Konstantin Kerkhuß' Arbeitskabinett lag in dem großen Turm. Helle Fenster waren, wie um der Gegenwart Licht und Luft hereinzulassen, in die sechs Schuh dicken Wehrmauern gebrochen. Auf dem mächtigen Diplomatenschreibtisch dahinter standen die mit slawischen Namenszügen versehenen Photographien der drei Zaren, denen der alte baltische Aristokrat in wichtigen Sendungen und Ämtern, in Petersburg und Tiflis, in Irkutsk und Samarkand gedient hatte. Erinnerungen daran, tscherkessisches Silbergerät, sartische Teppiche, sibirische Mammutschnitzereien füllten das Zimmer. Unzählige Papyrossenstummel deckten das mächtige Bärenfell am Boden.

»Beliebe, Platz zu nehmen!« sagte Baron Konstantin. Er hatte eine leichte und vornehme Höflichkeit gegen seinen Sohn wie gegen alle Menschen oder was er als Menschen ansah. Russische Muschiks und Hebräer fielen allerdings nicht mehr ganz darunter. Er schob einen Stoß aufgeschnittener deutscher, französischer, englischer, russischer Broschüren beiseite und strich sich leise seufzend die langen Favoris. Er sah einen Augenblick alt aus.

»Was wird nun mit dir?«

Die Frage kam Waldemar Kerkhuß unvermittelt. Er sprang finster wieder auf und ging mit langen Schritten von einem der Turmfenster zum anderen, durch die die bleiche esthnische Winterlandschaft mit ihrem Weiß von Schnee und Birkenstämmen und Himmel hereinschaute. Der alte Baron fuhr fort und spielte dabei mit einem bunten Tulaschen Papiermesser in der Rechten:

»Ich habe dir weiß Gott nie ein Hindernis in den Weg jelegt. Du wolltest nicht nach Petersburg in die Jarde, Du wolltest nicht in den Tschin ... Sehr jut ... Ich ließ dich Landwirtschaft studieren. Ich überjab dir die Brennerei und die Aufsicht über die Gütter ...«

»Es tat wahrhaftig not! Du weißt, wie der Arrondator von Wergel stahl. Wie der Wald von Arromarr aussah! Daß in Alloküll kein Wirt mehr zahlte! Daß in Rait ...«

»Jenug!« Der alte Grandseigneur machte eine lässige Handbewegung. Er hatte darin kein ganz gutes Gewissen. Er sah alle Dinge von oben. Er war der geborene Mann des Salons, der großen Welt, der weiten Linien, und alles weniger als ein Krautjunker. »Lasse mich fortfahren: Ich ließ dir deinen Willen. Aber die Zeit ist nicht mehr danach. Man muß ihr Rechnung tragen, Waldemar!«

Waldemar Kerkhuß blieb stehen.

»Du konntest das noch!« sagte er. »Du bist aus der alten Schule. Zu deiner Zeit fand man sich noch durch! Du warst noch vor dreißig Jahren dabei, als unser Ritterschaftshauptmann der Petersburger Regierung ihre Verfügungen zurückschickte, weil sie nicht in deutscher Sprache waren ...«

»Die Dinge haben sich jeändert ...«

»... und als sie sich änderten und die asiatischen Jouverneure und die Verfolgungen kamen, zähltest du doch immer noch in Petersburg zu den Sphären. Du hast nach rechts und links jelebt. Du hast das Kunststück fertigjebracht, es den Deutschen und den Russen recht zu machen!«

»Nimm dir ein Beispiel daran, Waldemar!«

»Nein doch ...! Ich kann das nicht mehr, was du noch jekonnt hast!«

»Wie denn nicht?«

»Du sprichst Englisch und Französisch wie Deutsch. Aber du sprichst jetzt noch schlecht Russisch. Du wirst es auch nicht mehr lernen!«

Der alte Aristokrat bejahte mit einer Bewegung des trockenen, vornehmen Kopfs. Es war bei ihm und seinesgleichen ein bewußter Hochmut seines Lebens gewesen, daß er sich niemals die Mühe gegeben hatte, ordentlich die Sprache des Barbarenreichs zu lernen, dem er diente.

»Du hattest es nicht nötig, Papa! Du warst rein deutsch erzogen. Zu deiner Zeit unterrichtete man in der Revaler Domschule und in den Hörsälen in Dorpat deutsch.«

»Jewiß doch!«

»Ich mußte meine Bildung schon in russischer Sprache jenießen! Ich wurde nicht jefragt! Man drängte mir als Junge schon Halbasien auf. Wehre ich mich nicht dajejen – was wird dann aus denen nach uns?«

»Man wird es sehen ...«

»Sollen die Kerkhuß künftig mit der Jabel in die Schüsseln fahren und stehlen wie ein Tschinownik und schließlich orthodox werden und am Ostersonntag ihren Dwornik küssen? ... Man muß ja nicht dasein! Aber wenn, dann nicht so, daß sich unsere Vorfahren in den Särjen umdrehn!«

Waldemar Kerkhuß sah den Vater grimmig, aus groß leuchtenden blauen Augen an und hinkte, die Hände in den Taschen, ungestüm auf und ab. Auch Baron Konstantin erhob sich.

»Was hilft das alles!« sagte er. »Du kennst das esthnische Sprichwort: ›Kuhu sa lähed, igal poolel karu kahe pojaga ees!‹ Wohin du auch gehst, findest du den Bären mit zwei Jungen. Wohin wir jehen, finden wir den russischen Bären. Wir jehören seit zwei Jahrhunderten zu Rußland. Das Land unter unseren Füßen ist russische Erde. Die russische Jeschichte haben wir jemacht! Wir haben den Zaren jedient. Wir haben sie, wenn es not tat, auch umjebracht! Wir haben die Kriege für sie jewonnen. Wir haben ihrem Jesindel von Beamten auf die Finger jeklopft, wenn es zu unmenschlich stahl! Wir haben die russische Jesellschaft aufrecht jehen jelehrt ...«

»Und was nun als Ende? Ein Wort Deutsch auf der Straße, und du bist auf der Verschicktenliste, wenn du den Asiaten nicht noch rechtzeitig schmierst!«

Der alte Baron setzte sich wieder. Müde. Bleich. Er legte die langen, spitzen Finger über dem Knie zusammen und sah vor sich hin.

»Was soll man also tun!« sagte er leise. »Aber ja ... Du weißt vielleicht jar nicht ... Metztak ist nach Deutschland ... Mit Kind und Kegel ...«

»Eilard ... der die zweite Engefer'sche zur Frau hat, sagte es mir in Reval!«

»Ja, was denn: Passen wir denn nach Deutschland? Deutschland ist eine andere Welt! Du stehst dort in Reih' und Jlied! Wir sind Herren und an Freiheit jewöhnt!«

»Unsere Freiheit, hier in Rußland!«

»Abber gut: Jehn wir nach Deutschland ..! Sollen wir unsere Schlösser auf dem Rücken mitnehmen? Wir sind doch keine losen Leute! Wir sind doch hier an die Scholle jeschrieben, so gut wie ein esthnischer Wirt unten an sein Jesinde! Man würde uns unsere Gütter nehmen! Was ist ein Mensch ohne Gütter? Er ist nichts!«

»Alexander Metztak ...«

»Metztak hat sich das seit Jahren überlegt. Er hat seine Gütter noch im Frieden verkauft. Jetzt kann es niemand mehr. Wer jetzt nach Deutschland jeht, wird ein Bettler! Da unten schießt Robin mit der rechten Hand auf Krähen. Wenn du auf den Jedanken kämst, nach Deutschland zu jehn, tätest du ihm einen jroßen Jefallen. Dann erbt er das Kerreküllsche Majorat ...«

Waldemar Kerkhuß setzte sich auch, legte die Hand auf die Stirne und sah düster vor sich hin.

»Wir haben ja Wappenvettern in Mecklenburg, Waldemar! Nach dem Kriege könnte man sich bei ihnen für dich verwenden! Vielleicht könntest du es bei ihnen zum Inspektor bringen!« sagte der alte Herr mit lächelnder Überlegenheit. »Aber nun bleibe und erwäge das dritte: Was ist das nach dem Kriege? ... Was kann dann von Deutschland noch übrig sein?«

Er nahm einen kleinen Globus, der auf dem Tisch stand, und drehte ihn aufmerksam hin und her.

»Da ist die Welt, Waldemar ...«

»Ich kenne sie. Eben reiste ich doch aus der Welt in diesen Winkel zurück ...«

»Und da ist ein Fleckchen in Europa – nicht größer als der Stern auf meinem Wappenring – das ist Deutschland.«

»Wenn es nach der Zahl jinge,« sagte Waldemar Kerkhuß wegwerfend, »dann wären die Undeutschen hier im Lande die Herren und nicht wir!«

»Wir haben das Eijentum, aber nicht die Macht. Wir waren seit dem Ausjang des Ordens nicht mehr imstande, einen Staat zu bilden. Das Deutsche Reich ist ein Staat. Ein neuer Staat. Ein Staat von jestern!« Baron Konstantin stellte den Globus hin. »Das Deutsche Reich war für uns hier kein Sejen, Waldemar! Es hat Rußland erst jejen uns Balten argwöhnisch jemacht!«

Waldemar Kerkhuß trat dicht vor den Vater hin. Er hatte noch seine nachlässige Haltung und die Hände in den Taschen. Aber seine Stimme war, in ihrer flüsternden Eindringlichkeit, sonderbar bewegt.

»Nun will ich dir das jroße Jeheimnis sagen, Papa! Dieser Krieg jeht nicht jejen das Deutsche Reich.«

»Wie das?«

»Er jeht auch nicht jejen Deutschland!«

»Erkläre dich ...«

»Er jeht jejen alles, was auf der Welt deutsch ist! Ich habe die Welt jetzt jesehen! Ich weiß es. Er jeht jejen alles, was deutsch ist, und darum auch jejen uns!«

Er richtete sich zornig auf.

»Denn was wir sind, das sind wir, weil wir deutsch sind! Unsere Sprache ist deutsch. Unser Wappen ist deutsch. Unser Name ist deutsch. Unser Glaube ist deutsch, unsere Vorfahren waren deutsch. Mit Preußen hat das nichts zu tun. Auch nicht mit dem neuen Deutschen Reich. Aber mit dem deutschen Wesen.«

»Das deutsche Wesen, mein Sohn, wurde noch niemals vernichtet!«

»... weil es noch niemals in der Weltjeschichte England zum Feind hatte! Ich komme von drüben. England will ein jroßes Nichts, wo früher irgendwo etwas Deutsches war, und ihr hier in Rußland leistet ihm Fuß- und Spanntag, so wie früher der Wachtkerl die Bauern zur Hofarbeit rief. Sollen wir selber mitmachen in dem jroßen Kreuzzug aller Völker jejen das Deutschtum? Wir könnten jeradesogut Selbstmord bejehen! Es ist Selbstmord! Auf der janzen langen Heimreise, vom Tag der Kriegserklärung ab, habe ich es mir jeden Tag jesagt ...«

Der alte Baron Konstantin saß trübe in seinen Sessel zurückgesunken. Endlich versetzte er:

»Wenn du es schon Selbstmord nennst, daß wir bei Rußland bleiben, so ist es ein noch jewisserer Selbstmord für uns, mit Deutschland zu jehn, das uns ferne ist, uns nicht erreichen, uns nicht helfen kann!«

»Mag sein, daß das eine ein jeistiger, das andere ein leiblicher Selbstmord ist!«

»Was willst du also tun?«

»Ich weiß es nicht.«

Waldemar Kerkhuß ging aus dem Zimmer. Als er am Abend allein mit seiner Mutter saß, hielt er verträumt, wie er als Junge getan, die Kinderhand der kleinen, feinen, zarten Dame in der seinen und unterbrach die dämmernde Stille, in der nur die Holzscheite im Ofen krachten und der Seewind draußen stöhnend um Kerreküll strich.

»Du hast mich beten jelehrt, Mama! Was ist das für eine Welt, in der man nach Sibirien überschrieben wird, wenn man die Sprache spricht, in der man betet?«

Die Baronin Lisa von Kerkhuß war keine Baltin, sondern eine Petersburgerin von deutsch-russischem Beamtenadel. So lange sie nun auch schon hier lebte, sah sie doch das Land und die Leute mit ihren eigenen Augen. Sie war noch frömmer als viele um sie, trotz des Anflugs der großen Welt vom Strand der Newa, so wie es ihr das streng luthergläubige Elternhaus mit ins Leben gegeben. Sie hatte das stille Lächeln eines Menschen, der gerade, weil ihm das Schicksal alles in den Schoß geworfen, viel über das Schicksal nachgedacht hatte.

»Das Beten war es auch, Waldemar!« sagte sie.

»Was half's?«

»Wir waren's. Die Mütter, die Frauen überhaupt ...«

»Was meinst du damit?«

»Ihr Männer seid seit Jahrhunderten in die Weite hinaus. Gerade die Besten unter euch, weil euch das Ländchen zu klein war. Manche von euch sind überhaupt draußen in Rußland geblieben. Andere, als sie wiederkamen, waren halb verrußt. Die Frauen haben immer hier unterdessen auf euch gewartet. Mit ihnen konntet ihr nicht Russisch reden. Denn sie haben es nie gelernt. Sie waren nie in Rußland. Sie brachten euch immer wieder zur deutschen Art zurück und erzogen das nächste Geschlecht immer wieder deutsch. Die Welt gehört jetzt scheinbar den Männern. Aber von den Frauen kommt doch schließlich alle Stetigkeit in der Welt.«

»... hätte ich die Kraft zu einem Entschluß ...«

»... ich wollte, du träfst die Frau, die dir den Weg weist ...«

Waldemar Kerkhuß beugte sich vor und küßte die Hand seiner Mutter. Der alte Baron trat ein. Sofort hatte der Sohn wieder sein kühles Gesicht und sagte:

»Ich möchte morjen die Wurst anspannen lassen!«

»Wohin?«

»Nach Kuistefer. Zu Speerreuter!«

Die Wurst war das Waldfahrzeug: ein langes, schmales Brett auf vier Rädern, auf dem man rittlings saß und die Füße auf zwei Seitenkufen stützte. Davor ein starker Gaul. So ging es über schwammigen und schwappenden Moosboden, zwischen hohen Kieferstämmen, durch Birkenbusch, langsam, aber man kam doch eher zum Ziel als auf dem weiten Umweg um die Heide, auf halb aufgetauten, halb schneeverwehten, für Schlitten und Wagen gleich schlecht fahrbaren Straßen. Beinahe noch mitten in der Wildnis tauchte das bescheidene Herrenhaus des Waldguts Kuistefer auf. Arwed Speerreuter trat heraus und begrüßte den Freund. Auf seinem vollbärtigen, gebräunten Gesicht flammten in der Winterkälte die mächtigen Göttinger Schmisse. An der Wand drinnen hingen die gekreuzten Schläger, hing das dreifarbige Band, hingen die bunten Korpsmützen. Einmal im Jahr fuhr er vor dem Krieg regelmäßig in das Ausland zur Alma mater, zu jungen Gesichtern und alten Freunden, zu Kommersgesang und Vergessenheit in freier deutscher Burschenherrlichkeit. Ein Glanz von ihr lag über dem verschneiten Dach im esthnischen Wald.

»Bist du noch nicht verheiratet?« frug Waldemar Kerkhuß, nachdem sie sich geküßt, und vertrat sich die langen, vom Wurstreiten steifen Beine.

»Hast du eine Frau?«

»Nein. Aber man wird doch einmal schließlich ... Und was treibst du hier? Bist du wieder bei deinen Studien über die esthnische Frage?«

Baron Speerreuter war ein wilder Korpsstudent gewesen. Aber er hatte sich doch den deutschen Doktorhut der Staatswissenschaften mit heimgebracht. Auf seinem Schreibtisch lag ein Schriftstück in esthnischer Sprache. Die eben noch benutzte Feder daneben.

»Es sieht bei dir aus wie bei einem Pastor, der seine Predigt am Sonnabendnachmittag aufsetzt!« sagte Waldemar Kerkhuß, sich in dem versessenen Kanapee reckend. »Es riecht auch so nach deiner langen Pfeife ... Es ist lange her, daß wir zusammen die Nächte aufjesessen und im Jeist die Welt hier verbessert haben!«

Der alte Korpsstudent setzte sich ihm verkehrt auf dem Stuhl gegenüber, die Ellbogen über der Lehne.

»Du weißt: ich jehe immer von Ostpreußen aus!« sagte er. »In Ostpreußen spricht alle Welt Deutsch. Warum? Weil der Orden die Undeutschen jezwungen hat, Deutsch zu lernen! Wir hier im Baltenland haben die Undeutschen verhindert, es je zu lernen. Wir haben die Leibeijenschaft lange vor Rußland aufjehoben ... jewiß ... aber näherjebracht haben wir uns die Letten und Esthen nicht. Der ›rote Strich‹ jeht nicht nur zwischen Hof und Bauernland, sondern auch durch die Menschen!«

Waldemar Kerkhuß machte eine leichte, bejahende Bewegung.

Der andere fuhr fort:

»Du bist einer der wenigen hier im Lande, der von Kind auf janz in die Jeheimnisse dieser esthnischen Welt einjedrungen ist. Du sprichst Esthnisch wie ein Esthe, du besitzt das Vertrauen der Esthen. Sie frugen mich oft, wann der junge Kerreküllsche Baron wiederkommen würde. Mit dir kann man über die Fehler der Vergangenheit reden. Was haben wir davon, daß der Sachse den Esthen nicht zu sich kommen ließ? Der Moskowiter zertritt sie beide! Vereint könnten Deutsche und Esthen und Letten ihm widerstehn! Jetrennt nicht!«

»Aber wie kann man das jetzt noch erreichen?«

»Nicht nur eigenes Land sollen wir dem jeben, der mit uns dies Land bewohnt, sondern mehr!« sagte Arwed Speerreuter ernst und legte dem Freund die Hand auf die Schulter. »Rechte. Freiheit. Dann jehört er zu uns. Dann hat nicht er allein eine Zukunft, sondern auch wir.«

»Jlaubst du noch an eine Zukunft, Arwed?«

»Jewiß doch!«

»Woher denn ... sage ...«

Arwed Speerreuter war so eingefleischt deutsch, daß er nur stumm hinab nach Südwesten deutete in die Richtung, in der das Deutsche Reich lag und wider die Welt rang. Baron Kerkhuß zuckte die Achseln.

»Ich will dich nicht traurig machen. Wie könntest du auch von hier aus bejreifen, was auf der Erde vorjeht? Die janze Menschheit hat sich jejen Deutschland verschworen. Man klopft sein Ende auf der Welt aus, wie hier der Hammer des Kirchspielauktionators.«

»Ich jlaube an Deutschland.«

»Es sind zehn jejen einen!«

»Pah! Ich habe in Jöttingen in einem Semester siebzehn Jejner hintereinander abjestochen! Auf die Zahl kommt's nicht an!«

»Warum jehst du denn nicht nach Deutschland?«

»... weil ich Esthland nicht im Stich lassen will! Uns nicht und die Esthen nicht! Wir jehören zusammen! Verachte mir den Kerl in Schafpelz und Pasteln nicht, Waldemar! Wir haben viel an ihm gutzumachen! Jahrhunderte haben an ihm jesündigt! ... Er wird frei werden. Aber über uns hinweg, wenn uns Deutschland nicht hilft, statt daß uns Rußland zerstört.«

Waldemar Kerkhuß schwieg. Viel ging in seinem Kopf umher. Der Stolz des Besitzenden und der Verzicht des Erkennenden. Das Gestern und das Morgen.

»Ich wollte, ich hätte deinen Jlauben!« sagte er, als er nach einer Stunde wieder vor das Haus trat. Draußen hielt jetzt statt des Wurstwagens, auf dem Umweg um den Wald nachgekommen, ein Gefährt, wie es des Erben von Kerreküll würdig war: vier Hengste in einer Reihe nebeneinander. Der Kutscher dick auswattiert, die rote Schärpe um den Leib, den Kranz von aufrechten Pfauenfedern um die Mütze. Er hielt die Beine gegen das Fußbrett gestemmt, bändigte voll Kraftanstrengung mit abgespreizten Armen das Gewirr von Zügeln.

»Er wird dich umwerfen! Du bleibst im Weje stecken.«

Baron Kerkhuß deutete nach dem Möwengeflatter an der nahen Küste.

»Ich fahre durch das Meer!«

»Nach Narraks?«

»Ja.«

»Zum alten Wiffenhausen?«

Waldemar Kerkhuß lachte, während er einstieg.

»Zu wem sonst?«

Der andere faßte ihn an der Schulter, als könnte er so wagen, Kutscher und Hengste zurückzuhalten.

»Du sollst nicht hin. Sie ist wieder da.«

»Ich weiß doch!«

»Du hast dich schon zweimal in sie verschossen ... Du bist schon einmal abjeblitzt!«

»Nein!« sagte der Baron Kerkhuß hochmütig. Er war einer der reichsten Erben des Landes. »Ich kann sie jeden Augenblick haben!«

»Und wenn ... der alte Wiffenhausen ist verrückt!«

»Jewiß!«

»Die Mutter ist eine Russin! Sie sitzt in Petersburg. Die Eltern leben jetrennt!«

»Nun lasse sie doch jetrennt leben! Was jeht es mich an!«

»Wenn du die Tochter heiraten willst ...«

»Das habe ich nicht jesagt!« Waldemar Kerkhuß knöpfte sich gleichmütig den Pelz zu. »Ist sie nicht schön?«

»Aber freilich ist sie schön ...«

»Nun. Ich möchte sie mir wieder einmal ansehen.« Der junge Balte sagte es mit der Ruhe eines Mannes, der die Wahl unter vielen Dingen im Leben hat. Der Kutscher gab den Hengsten die schäumenden Köpfe frei. Der Wagen flog, wie aus der Pistole geschossen, davon, bis die ersten flachen Wellen der nahen See die Hufe umspülten. Von da ab ging es Schritt in dem weichen Sand des Meerbusens, der tief in die esthnische Küste einschnitt. Durchquerte man das flache, eine halbe Stunde breite Strandwasser, so sparte man fünf, sechs Werst Weges.

Waldemar Kerkhuß saß in dem Wagen inmitten der grauen, im Winde wandernden Ostseewellen wie in einer Gondel. Die Gäule platschten und prusteten. Der Kutscher suchte aufmerksam die Furt. Das Wasser umrauschte die Räder, stieg, lief in grauen Bächen bis innen auf den Boden. Der Baron zog phlegmatisch die Beine hoch. Man war hier an viele Dinge gewöhnt, über die man im Ausland einen gewaltigen Lärm erhoben hätte. Die Möwen schrien. Es gab einen Stoß. Der feste Boden rumpelte unter den Rädern. Man war am jenseitigen Ufer angelangt. Ein Mittelding zwischen baumbestandener Viehweide und einem ganz verwahrlosten, einst prachtvollen Park reichte bis hinunter. An seiner oberen Grenze stand die Trümmerstätte eines weitläufigen, niederen Herrensitzes. Nur der eine Flügel war notdürftig unter Dach und mit Fenstern und Türen versehen. Sonst ragten nur die brandgeschwärzten Umfassungsmauern im weißen Tanz vereinzelter Schneeflocken.

»Dein rechter Außenjaul ist unwürdig!« schrie es heiser und durchdringend von einem Baum. Der alte Wiffenhausen saß hoch da oben, das Fernrohr in der Hand, wie ein greiser Seeadler, der von seinem Horst aus den Strand mustert.

Waldemar Kerkhuß schaute gelassen hinauf. Er kannte die Narrheiten des Alten. Er wartete, bis jener mit einer für sein weißes Haar erstaunlichen Behendigkeit eine Art von Leitersprossen herabgeklettert war und klein und hager vor ihm stand, nicht in jener sagenhaften, längst verschollenen bunten Verschnürung eines seit Jahrzehnten zu einförmigen, russischen Dragonern umgewandelten Husarenregiments seiner Jugend, die er sein Leben lang herausfordernd hier auf dem Lande trug, sondern in einem gelblichen Koller aus Elenhaut auf dem Leib, einer norwegischen Bärenjägermütze aus dem Fell eines Igels auf dem Haupt. Unter den hochgesträubten Stacheln und dem herabhängenden Igelkopf flammten weit aufgerissen und kriegerisch seine blauen Augen. Noch vor fünfzehn Jahren war er damit umgegangen, seinem Nachbarn, dem Alt-Sötthaster, wegen einer Kuhweidegerechtsamkeit Fehde anzusagen.

»Nun – da bist du ja!« sprach er, als hätte er den anderen längst erwartet. »Nun komm!«

Sie gingen zusammen durch den Schnee. Dem alten Wiffenhausen ragte der Griff einer Pistole aus der Hosentasche. Drei kälbergroße russische Windhunde umbellten ihn.

»Den vierten habe ich dieser Tage wejen Unjehorsam hinrichten müssen!« schrie er durch den Lärm. »Er hängt dort an der Linde.«

Verrückt ... dachte sich Waldemar Kerkhuß. Dann frug er, beim Anblick der langen Reihe ausgebrannter Fensterhöhlen vor ihnen:

»Warum baust du Narraks nicht wieder auf?«

Die Augen des Alten wurden noch weiter.

»Ich? Wie denn? Meine Untertanen haben es vor zehn Jahren, bei dem Aufruhr, anjezündetl Sie sollen es auch wieder aufbauen. Ich nehme kein Jeld von der Rejierung! Ich verlange Jehorsam!«

»Aber umsonst.«

»... weil ihr schlaff jeworden seid wie die Kälberschwänze! Ich bin der letzte Edelmann! Es waren früher bessere Zeiten ... Sie endeten schon in meiner Jugend! Stockprüjel! ... Bis zu tausend Hieben jab man einem Dorf an einem Tag. Noch mein Vater ließ bei den Unruhen von 1858 die Kerle enorm prüjeln. Sie küßten den Stock und waren zufrieden!«

Er feuerte einen Pistolenschuß gegen die Hausruine, um die Ankunft des Gastes zu melden.

»Man fing damals einen Pferdedieb,« sagte er, in die gute alte Zeit verloren. »Man band ihn auf ein Brett, so daß die Kante über seinen Kopf hinaussah, stieß das Brett ein paarmal umgedreht auf den Boden, band ihn los. Dem Kerl war kein Haar jekrümmt! Er verbeugt sich und läuft davon! Am nächsten Morjen lag er tot im Jraben. Mache das jetzt einmal! Du bekommst nur Ärjer mit den örtlichen Behörden!«

»Wie wirtschaftest du nun mit abgebrannten Jebäuden?«

»Ich hatte jesejneten Strand!« Nikolai Wiffenhausen deutete mit der noch rauchenden Pistole nach dem fernen Ende der Bucht, wo sich ein gebauchter, halb versunkener Schiffsrumpf mit schrägliegenden Masten aus dem Küstenwasser hob. »Es strandete eine Barke mit Jetreide. Ich bekam die Hälfte der Ladung. Das Jetreide war aber naß jeworden!«

Der alte Wiffenhausen erzählte das wie eine Naturmerkwürdigkeit. Man sah es seinem verächtlichen Lippenzucken unter dem aufgedrehten weißen Schnurrbärtchen an, daß er sich sein Strandrecht viel lieber, und nach seiner Meinung mit Recht, mit bewaffneter Hand geholt hätte. Er setzte in dem düsteren Flur seine Stachelmütze einem sechs Fuß hohen Bären auf den Kopf, der da aufrecht ausgestopft, einen betreßten roten Türschweizerfrack über dem Pelz, stand. Er mußte sich dazu auf die Fußspitzen heben.

»Kannst du dir vorstellen?« sagte er dabei. »Meine Frau, die Fürstin, läßt ihre besten Muffen zu Pelzmützen verarbeiten ... Libbesjaben für die sibirischen Scharfschützen! Nun – mag siel«

»Wie jeht es ihr?«

Der Alte riß die Augen auf.

»Wie soll ich das wissen? Ich habe sie seit zwanzig Jahren nicht jesehen! Sie ist in Petersburg. Sie hat mir Kaja herübergeschickt! Kaja ... Waldemar ist jekommen!«

»Aber wir sahen ihn ja schon im Meer!«

»Wir dachten, er wollte ein Bad nehmen ...«

Graf Wittekind von Herzerode, Waldemars rechter Vetter, saß vertraulich neben Kaja. Petersburger und Petersburgerin beieinander. Er war ein großer, schlanker, junger Mann mit einem vornehmen, regelmäßigen Gesicht. In diesem Gesicht, manchmal auch in den Bewegungen, war etwas Fremdartiges, etwas Weiches, und Waldemar Kerkhuß dachte daran, daß jener ja eine russische Mutter habe. Ebenso wie Kaja Wiffenhausen. Sie besaß die nordischen blauen Augen, das reiche blonde Haar, die rosige Haut ihres Landes. Aber dies Antlitz mit der leicht gebogenen Nase, den roten, geschwellten Lippen hatte den eigentümlichen, etwas verächtlichen Ausdruck einer Moskauer Schönheit. Ebenso wie sie, nur dunkel, hatte ihre Mutter, die Vollblutrussin Fürstin Manuchin, in ihrer Jugend ausgesehen.

Sie ist auch nicht mehr ganz jung ... dachte sich Waldemar Kerkhuß. Was wird sie sein? Zu Mitte der Zwanzig ... Er war plötzlich schweigsam geworden, saß da und trank seinen Tee. Man konnte nicht recht ersehen, warum er eigentlich gekommen, da er kein Wort sprach. Aber hierzulande machte jeder, was er wollte. Die beiden anderen schwatzten weiter. Von Petrograd. Sie schienen miteinander sehr vertraut. Waldemar Kerkhuß beobachtete sie. Er frug sich: Wird sie ihn heiraten? Er hat ja nichts außer seinen Petersburger Verbindungen ... Sie ist ein schönes Mädchen ...

Eine ganz leichte Welle von Asien kam von den beiden. Petersburger Siegesdünkel. Russische Oberflächlichkeit. Moskauer große Welt. Sie plänkelten spielend miteinander, wie um ihn zu reizen. Er hörte ihr weiches, lachendes Französisch. Er sagte sich in einem Anflug von Schwermut: Wer sie heiratet, hat keine Ruhe mehr im Leben. Wie sollte er noch Zeit zu etwas Vernünftigem finden? Er muß immer hinter ihr her sein ... immer ...

Jetzt redeten sie auch noch Russisch. Sie kamen, ohne sich dessen bewußt zu werden, von einer Sprache in die andere. Kaja Wiffenhausen hing eng mit ihrer vornehmen russischen Verwandtschaft zusammen. Das ganze Jahr war sie bei der Mutter, der Fürstin, in Petersburg oder auf Reisen, in der Krim, an der Riviera, in Paris. Sie zog, wen sie heiratete, unfehlbar in die Macht ihrer Schönheit, ihren Mann mit in ihre Kreise – in jene Welt des Newskij-Prospekts, wo ein Empfehlungswort eines Mitgliedes des Ministerkomitees oder des Ministeriums des Kaiserlichen Hofes, ein Kopfnicken des Zaren ein gemachtes Lebensschicksal bedeutete. Herzerode war solch ein Streber. Innerlich ganz verrußt. Waldemar Kerkhuß dachte sich: Er spricht in Petersburg seinen eigenen Namen schon russisch aus: ›Gerzerodde.‹

Wer Kaja Wiffenhausen heiratet, der geht nach Asien. Fällt in slawische Schlingen. Die Alte ist klug, ebenso klug, als sie jetzt fromm ist und in ihrer Jugend liederlich war. Sie hilft einem schon weiter. Schön ist die Tochter ... schön ...

»Nun – was sitzen Sie wie eine Eule?« frug Kaja herüber. Sie hatte nach russischer Art eine Wolke feinen Parfüms um sich. Graf Herzerode drehte ihr eine Papyros und hielt ihr das fertige Röllchen zum Anfeuchten hin. Sie glitt mit der roten Zungenspitze über das Seidenpapier und fuhr fort, den edel geschnittenen Kopf noch dicht an Herzerodes Hand mit dem elektrischen Flämmchen aus der Silberhülse: »Sind Sie jetzt immer so schweigsam?«

»Was soll man sagen?«

»Nun, erzählen Sie vom Ausland!«

»Es ist nichts zu erzählen! Die Welt jeht unter!«

»Wir beide nicht!« sagte Wittekind Herzerode zu Kaja, und beide lachten. »Petrograd nicht!«

»Im Jejenteil!«

»Das Leben ist dort auf der Höhe. Alles drängt sich da.«

»Wozu?«

»Man sichert sich seinen Platz für die Zukunft. Viele Polen trafen bei Hofe ein!«

»Gott mit ihnen!«

»Sehr viele vornehme Engländer ...«

»Ich sah ihrer jenug!«

»Franzosen. Amerikaner. Wann kommst du?«

»Sie müssen sich eilen!« sagte Kaja Wiffenhausen. »Anfang Januar gehe ich nach der Krim.«

»Ja, wie denn ...? Es ist doch Krieg?«

»In Jalta merkt man, gottlob, gar nichts vom Krieg. Alle schreiben es.«

»Also eile dich!« sagte Wittekind Kerzerode etwas spöttisch, mit der Ruhe eines, der seinen sicheren Platz innehat, gegenüber dem Zögernden. »Man erwartet dich in Petrograd!«

»Was soll ich dort?«

»Was wir alle tun! Dienen kannst du mit deinem lahmen Knie nicht! Also mache dich dort nützlich. Man braucht für die vielen Ausländer Leute von Welt ...«

»Erwarten kannst du mich, aber kommen werde ich nicht.«

»Wo willst du denn bleiben? Du mußt doch etwas tun während des Kriegs!«

Waldemar Kerkhuß erwiderte nichts. Er stand plötzlich auf und griff nach seiner schwarzen Persianermütze. Kaja machte keine Miene, ihn vom Aufbruch zurückzuhalten. Sie lachte nur und sagte zu ihrem Freund:

»Ich glaube, Waldemar bleibt hier im Lande! Da kann ihm nichts passieren!«

Kerkhuß nahm finster den Pelzmantel um, ohne den Diener abzuwarten. Sie fuhr, zwischen zwei Zügen aus der Zigarette, fort:

»Er wird hier heiraten! Er hat doch drüben in Nois die drei Schwestern sitzen! Sie warten auf ihn seit zehn Jahren. Sie warten auch noch weitere zehn Jahre. Die Saxesons haben ja auch sonst im Leben nichts zu tun!«

Der alte Wiffenhausen war verschwunden. Er war, einen Knüppel in der Hand, im Husarensitz auf der Stalldecke eines rasch losgemachten Pferdes, hinter Holzdieben in den Wald geritten. Waldemar Kerkhuß warf sich düster in den Wagen.

»Nach Alt-Sötthast ...«

»Barona ...«

»Nach Alt-Sötthast!«

»Es sind dreißig Werst!«

»Fahr zu!«

Er wickelte sich wild in seinen Mantel, wehrte mit einer Handbewegung die Einreden vom Bock her ab, als ob er im Sommer eine Pferdebremse verscheuche. Die Hengste jagten los. Schneebrei spritzte um die Räder. Eintönig zog draußen das Esthenland vorbei. Der endlos lange weiße Schaumstreifen der Brandung an den Klippen, fern in der grauen Unendlichkeit Qualmwolken von unbekannten Dampfern über dem Meer. Knisternder Herdrauch aus niederen Fischerhütten am Strand. Das Knarren entgegenkommender Bauernwägelchen. Zuweilen finstere Blicke aus ihnen. Ein Gewimmel kleiner Fuhrwerke, zottiger Heidegäule, umgedrehter Schafpelze: der Krug am Meer. Das einsame, düster unter seinem Schilfdach geduckte Wirtshaus blieb zurück. Die Straße bog in das Innere des Landes ab. Verschneiter Winterwald. Verschneite Gesinde, Bauernstellen, hinter Zäunen. Der Wirt, der Bauer mit der Axt im Busch. Die regelmäßigen Schläge klangen, verhallten. Aus tiefer Stille stieg wieder die deutsche Insel, der Sitz des nächsten Barons, hervor. Der Alt-Sötthaster bewohnte ein großes, neuzeitliches Herrenhaus, das nichts Schloßartiges an sich hatte. Es war vor ein paar Jahren erst auf die Nützlichkeit hin gebaut, wie die Villa eines Fabrikbesitzers neben seinem Betrieb. Im Seiteneingang zur Rechten drang aus einem Gemach zur ebenen Erde der scharfe Geruch des Landes. Da saß Baron Tumme und verhandelte mit den Esthen. Ein Wirt stand, die Kappe in der Hand, und beendete eine lange, eintönige Rede über fünfzig Pud Wiesenheu, ein anderer schnallte sich in der Ecke eine Geldkatze unter den Rock. Er ging im Auftrag des Gutsherrn nach Rußland hinein, um magere Ochsen für die Brennereimast anzukaufen. Der Alt-Sötthaster erledigte einen Dritten, der langsam sprach und einen feierlichen, in sich gekehrten Blick hatte, einer der »Erweckten«, der Sondergläubigen im Lande, mit ihren geheimnisvollen nächtlichen Zusammenkünften und Betübungen. Der letzte, der da stand, ein finsterer junger Mensch, verabschiedete sich in kriechender Demut.

»Dem Kerl steckt der Aufruhr im Kopf!« sagte Feodor von Tumme und geleitete seinen Gast in das eigentliche Haus. »Es järt! Es järt schon wieder! ... Meine Frau fuhr über Land! Zu Pastors. Leje ab. Man wird dein Zimmer richten.«

Es war ganz selbstverständlich, daß ein Mitbruder an einem Gut vorfuhr und Unterkunft für die Nacht begehrte. Aber Waldemar Kerkhuß lehnte halb geistesabwesend ab.

»Ich muß bald weiter!«

»Deine Jaule können nicht mehr!«

»Du wirst mir welche jeben!«

Die Barone setzten sich und rauchten.

»Warum bist du in solcher Eile?«

»Ich fahre im Lande umher,« sagte Waldemar Kerkhuß. »Vom einen zum anderen. Ich frage jeden: Wie machst du es? Wie findest du dich mit der Zeit ab? Jeder jibt mir eine andere Antwort ...«

»Was soll man tun?«

»Ja. Was soll man tun? Das ist schließlich überall das letzte ...«

Baron Tumme vermied, wenn er es konnte, solche Gespräche. Er war ein großer, gesunder, starker Mann, schlaue, kleine Augen schmunzelten in dem roten, blühenden Gesicht, über dem sich das Haar schon graublond wellte. Um ihn war eine Luft von Wald und Wasser, Acker und Stall. Er war ein berühmter Pferde- und Schafzüchter, Brenner und Forstmann. Bei der allsommerlichen landwirtschaftlichen Ausstellung drunten am Bahnhof vor Reval holte er sich im Frieden jedes Jahr seine ersten Preise. Niemand wußte so raffiniert wie er, wenn sich zum Johannistermin der Landadel im Aktienklub in Reval versammelte, mit den von Hamburg und Schweden gekommenen Spritkäufern fertig zu werden, und soupierte dann dreimal hintereinander beim Whist.

»Ich habe jetzt einen Bullen gezüchtet!« sagte er. »Schade, daß er nicht ausjestellt werden kann! Komm! Sehen wir ihn an!«

Er griff sich beim Aufstehen an die rechten Rippen und hustete.

»Ein Stierkalb stieß mich jestern im Jedränge auf dem Hof! Ich freute mich doch, was das Tierchen schon für eine Kraft hatte.«

Waldemar Kerkhuß war sitzengeblieben.

»Es jeht jetzt nicht um die Stiere, sondern um die Menschen! Die Menschheit stößt sich. Wir werden jestoßen. Hin und her. Wo ist dein Sohn?«

Aber das Gesicht des baltischen Landjunkers flog ein Schatten.

»Er studierte in Deutschland. Noch hörte ich nichts von ihm. Man hat ihn wohl interniert. Immerhin. So braucht er nicht zu fechten. Nach dem Krieg kann er hier wieder in Ruhe leben.«

Waldemar Kerkhuß dachte sich: Leben ... ja doch ... wenn Leben nur heißt: ein Stück Scholle besitzen und, wie die Zeiten auch sein mögen, weiter vererben ... Gewiß ... den Besitz wird man uns nicht nehmen ... und doch ... die düsteren Blicke auf der Landstraße fielen ihm ein ... die hinterhältigen Verbeugungen des wilden Kerls im Esthenzimmer ... Auch der Besitz ist nicht mehr sicher ... war es schon vor zehn Jahren nicht ... der Boden wankt unter unseren Füßen ... die Weltenwende steigt auf ... der Alt-Sötthaster ahnt davon zwischen Schlempe und Trestern freilich nichts ...

»Bleibe doch! Mathilde wird jleich kommen! Es ist jähnend langweilig bei Pastors.«

»Ich muß weiter.«

Baron Tumme war viel zu gerissen, um bei solchem Wetter seine besten Gäule aus dem Stall zu ziehen. Der Ersatz, den er geliehen, trottete nur so hin. Der Wagen schwankte. Der Wind pfiff. In Waldemar Keikhuß' Seele stürmte es. Dabei fiel ihm allerhand Nebensächliches ein: Man hätte den alten Wiffenhausen nach seinem Bären fragen sollen! Der Alte war doch so toll. Ging dem Bären, wenn die Kugel nicht ordentlich saß, mit dem aufrechten Doppelmesser zu Leibe. War schon mit ihm in das Schneeloch des Winterlagers gestürzt und hatte sich mit ihm darin herumgekugelt. Dabei stand wieder Kaja Wiffenhausen vor ihm. Sie lachte ihn an. Oder lachte ihn aus. Er wandte den Kopf ärgerlich zur Seite, um sie nicht mehr im Geist zu sehen.

Drüben, am Waldrand, wohin sein Blick schweifte, standen in der schon beginnenden Dämmerung Urweltgeschöpfe wie große Pferde mit langen Eselsohren und krummen Elefantenrüsseln. Er sah das Elchwild und dachte sich: Es ist unsere alte, breitschaufelige Art. Nicht die neue, aus Sibirien eingewanderte. Dann fuhr er, eine Viertelstunde später, plötzlich aus seiner Versunkenheit auf und gab dem Kutscher von hinten einen leichten Stoß mit dem Stock in den Rücken, als Zeichen: Halt! stieg aus und schritt, ohne ein Wort der Erläuterung, einen Seitenweg hinab, der halb unter Wasser war und einem Wagen kein Durchkommen mehr bot.

Ein kleines, uraltes Gutshaus stand mitten im Moor, am Ende der kurzen, verschneiten Sumpfstraße. Es hatte sein Äußeres noch aus langvergangenen Zeiten erhalten. Man kam vom Freien unmittelbar in einen großen, düsteren, mit Ziegeln gepflasterten Raum, in dem das Feuer offen auf dem Herd brannte und der große Kessel darüber hing. An der Wand daneben war ein Brett mit den Werken der deutschen Klassiker. Auf einem Tisch in der Mitte warf eine Petroleumlampe einen scharf gegen das unruhige rote Geflacker vom Herd her abgegrenzten Lichtkegel über eine Häkelei, eine Zeitung, einen Topf geschlissener Federn, ein Schreibzeug und vier blonde Köpfe. Die verwaisten vier Schwestern Saxeson saßen da beisammen, die Letzten des im Mannesstamm schon erloschenen Geschlechts. Sie trugen schwarze Trauerkleidung. Draußen heulte der Wind um das Waldhaus der armen Fräulein, das letzte spärliche Überbleibsel aller Familiengüter.

Waldemar Kerkhuß trat ein und setzte sich, in seinen Mantel gewickelt, in die Ecke. Es war, als sei er nicht ein Jahr weggewesen. So war er im Frieden oft um die Dämmerung zu Karin von Saxeson herübergefahren. Nur daß der unbequeme, steife Lehnstuhl am Fenster jetzt leer war.

»Wann starb der Vater?« frug er, und die Mädchen berichteten. An einem Sonntag, zu Anfang Juni alten Stils, war der alte Saxeson ausgegangen, so wie immer: die Mückenhaube, ein Drahtgestell mit grünem Florschleier, auf dem Kopf, der dadurch unheimlich und um das Doppelte zu groß für den kleinen, dürftigen Herrn erschien. Man hatte ihn noch gesehen, wie er über den noch nicht gemähten Heuschlag drüben am Walde stieg, bedächtig vor sich her in das Gras klopfend, um die Kreuzottern zu scheuchen. Dann fand man ihn tot auf der kleinen Ruhebank unter den drei Birken, ringsum die summende, duftende, blühend-blumige Frühlingspracht der esthnischen Erde. Ein Schlaganfall hatte ihn der lebenslangen Sorgen um das arme, verkommene Gut Nois enthoben, dessen Schuldenlast auf dem Dache jetzt wohltätig der Schnee deckte. Nun ruhte er schon seit einem halben Jahr neben seiner Frau aus dem Hause der Kerkhuß auf dem Friedhof von St. Jochens.

»Und was macht ihr nun?«

Was sollten die armen vier Fräulein machen? Sie waren eben hier. Sie waren in Nois geboren, sie waren in Nois aufgewachsen, sie hatten keinen anderen Platz auf der vom Kriegslärm dröhnenden Welt als Nois.

»Habt ihr verpachtet?«

Eine Bewegung des Schreckens: Arrondieren? Dann blieb überhaupt nichts mehr zum Leben übrig. Wer zahlte denn eine Kopeke für dies bißchen Torfmoor und Birkensumpf und magere Weide, das Nois hieß?

»Wer bewirtschaftet denn für euch Nois?«

»Ich!« sagte Karin. Rechnungsabschlüsse lagen vor ihr. Herbstlieferung von soundso viel Tonnen Kartoffeln an die nächste Brennerei. Soundso viel Pud Roggenmehl aus der Mühle zurück. Sie hatte eben noch daran geschrieben.

»Sie jeht wie ein Verwalter in hohen Stiefeln in den Wald.«

»Sie jeht auf die Weide und sieht, daß das Jungvieh heimkommt!«

»Zu Johannis bekamen wir einen Brandbrief. Sie hat acht Nächte mit den Leuten bei den Heumieten jewacht! Niemand kam!«

Baron Kerkhuß sah stumm die Schwestern an. Die Älteren alterten schon. Karin war die Jüngste. Aber nun schon auch in der zweiten Hälfte der Zwanzig. Sie hatte sich nicht verändert in dem Jahr seiner Abwesenheit. Sie erschien ihm wie ein Bild des Landes selbst, mit ihrem blonden, leicht rötlichen Haar, ihrer reinen, weißen, ein wenig sommersprossigen Haut, dem frischen, ruhigen, nordischen Gesicht mit den klaren, blauen Augen. Er hatte sich oft gefragt, ob sie eigentlich hübsch sei. Augenblicklich fand er es. Das Schwarz stand ihr gut. Dann blickte er auf ihre Hände. Sie waren schlank und von edlem Blut, aber sie zeugten von Arbeit eines viel angestrengten Landfräuleins. Das störte ihn wieder.

»Wie wirst du mit den Wirten fertig, Karin?«

»Sie zahlen nicht. Es ist eine schwere Not.«

»Verklagst du sie?«

»Was hilft es beim russischen Jericht? Da kann der Kroonenkull, der Kronshabicht, lang auf dem Tisch stehen. Es jibt doch kein Recht. Schließlich werden sie ja zahlen.«

Waldemar Kerkhuß blickte sie so nachdenklich an, als hätte er das blonde, frische Fräulein von Nois noch nie in seinem Leben gesehen.

Sie blieb ganz unbefangen.

»Was jibt man dir nur zu essen?« frug sie besorgt. »Ich habe nichts im Hause als ein jepökeltes Schaf ... ja, und eine Satte Schmand ...«

»Danke, Karin.«

»Ich werde dir einen Vorschmack richten... jebackene Kartoffeln und jeräucherte Kilos! ... Eine Flasche Johannisberjer haben wir auch...«

Das war ein Fruchtwein, aus Johannisbeeren hergestellt. Der Baron lächelte freundlich und tiefsinnig.

»Du bist eine gute Hausfrau, Karin ...,« sagte er.

»Sie macht hier alles!« ergänzte ihre Schwester Ara. Und Ode, die Älteste:

»Wir wären ohne sie verloren.«

Und Elise, die Blasse und Magere, die Herrnhuterin:

»Unser weltlich Teil steht bei ihr!«

»Vom Beten allein wird man nicht satt!« sagte Karin mit dem Gleichmut eines Menschen, der unbekümmert frisch im Leben zugriff. Der Schein der Lampe umrahmte ihr blondes Haupt mit einem seinen, goldenen Flimmer. Es war doch eine leichte Unruhe auf ihrem gesunden, lebenswarmen Gesicht, eine vorübergehende Blässe auf den vollen Wangen, als sie Waldemar Kerkhuß' Augen aufmerksam auf sich gerichtet fühlte. Da bot er ihr schon freundschaftlich die Hand zum Abschied.

»Nun ... ich muß weiter!« sprach er und ging rasch hinaus. Draußen war jetzt schon volle Nacht. Als er durch ihr Dunkel dahinrumpelte, dachte er sich beim Glimmen des Zigarettenpünktchens vor ihm im Schwarz: Kaja Wiffenhausen ist eine unbequeme Frau. Man lebt neben ihr mit der Pistole in der Hand. Sie verschleppt einen zu den Asiaten. Karin Saxeson ist eine bequeme Frau. Sie kann keine Ansprüche stellen. Sie kann nur froh sein, daß man sie nimmt. Wenn ich sie heirate, bleibe ich im Lande und nähre mich redlich. Es wird ein Leben wie beim Alt-Sötthaster drüben. Das mochte früher gut sein. Es füllte im Frieden einen Menschen aus. Er ging in Ruhe seinen Weg. Aber jetzt steht der Wegweiser Krieg in der Welt. Ein Arm weist nach Westen, einer nach Osten. Unser Schicksal ist nicht bei den Frauenzimmern, sondern zwischen Petersburg und Berlin ...

Die Lichter von Schloß Kerreküll tauchten aus der Nacht. Die oberste helle Fensterscheibe stand scheinbar schon im Himmel, im Turmzimmer des Barons Konstantin. Der alte Grandseigneur saß vor seinem Diplomatenschreibtisch mit den Bildern der Zaren und strich sich die langen, grauen Favoris.

»Butwengen jeht in nächster Zeit nach Bukarest!« sagte er.

»Man erzählte es mir in Reval.«

»Er besorgt jedenfalls wichtige Anjelejenheiten unserer Rejierung. Bukarest ist jetzt einer der Schlüssel der Welt! Es ist dort sehr viel los!«

»Ja. Ich hörte. Es wird dort jestohlen, daß ein Tschinownik sich bekreuzen würde.«

»Jieb und lasse andere nehmen! Ich habe es mir überlegt: Etwas mußt du tun! Du bist ein fixer Junge. Du kennst die Welt. Hast jroße Reisen jemacht. Ich werde Butwengen bitten, daß man dich ihm als Jehilfen beijibt!«

»... in diesem Jesindel von Bukarest?«

»Wenn alle Menschen vornehm wären, wären wir es nicht! ... Sage mir morgen, was du davon hältst.«

In einem der unteren Räume traf Waldemar Kerkhuß ein paar Minuten darauf seinen Bruder Robin. Der Petersburger Kavallerist machte, den linken Arm in der Schlinge, den aussichtslosen Versuch, mit der Rechten allein den Billardstock zu handhaben. Der Ältere sah eine Weile finster dem planlosen Lauf der bunten Bälle zu.

»Du wirst noch ein Loch in das Tuch stoßen!« sagte er.

Der russische Gardekürassier zuckte die Achseln, als wollte er antworten: Wir machen jetzt soviel Löcher in die Menschenleiber. Was liegt an dem grünen Fetzen? Dann meinte er, nach dem Kickser eines Kopfstoßes:

»Hast du Papa schon jedankt?«

»Wofür?«

»... daß er dich da hinten unterbringt ... fern vom Schuß?«

»Robin ...«

»Du kannst ja nichts dafür! Dir jilt es nicht! Aber es sind die anderen. Bestelle es ihnen von mir: Es sei kein Spaß, jejen die Deutschen zu fechten!«

»Auch andere machen sich nützlich.«

»Wie denn? Es ist jetzt Krieg. Alle Dinge werden durch den Krieg entschieden. Man muß jetzt Blut verjießen und nicht Champagner!«

Von den Wänden sahen die Bilder der Ahnen herab. Der Feldmarschall unter Katharina der Großen mit breitem Ordensband und viele andere in der Uniform der Zaren. Waldemar Kerkhuß lehnte grüblerisch, die Hände in den Taschen, die Papyros im Mund, neben dem Billard. Die Bälle klapperten. Die beiden jungen Barone sprachen eine Weile kein Wort.

»Wie lange jlaubst du, daß der Krieg noch dauert, Robin?«

Ein kräftiger Stoß in die Elfenbeinkugeln.

»Wer sich nicht tummelt, der kommt zu spät!«

Der junge Reitersmann hob das hübsche, leichtsinnige Gesicht.

»Ich möchte nicht in eurer Haut hier im Inland stecken, Waldemar!«

»Schließlich hat jeder selber die Verantwortung, was er tut oder nicht tut. Er muß es hinterher, im Frieden, vor sich rechtfertigen. Das denke ich mir schwer.«

»Schwerer noch, als du meinst!«

»Da vorn brauche ich über nichts nachzudenken. Man hat befohlen, und ich jreife an. Man hat wieder befohlen, und ich jehe zurück. Es kommt ein dritter Befehl: Bleibt stehen! und ich jehorche! Mir jleich! Ich bin Offizier. Es jeht mich nichts an. Das ist etwas Janzes!«

Waldemar Kerkhuß dachte nach. Dann sagte er plötzlich:

»Vielleicht hast du recht!«

Er stieg, das lahme Knie leicht nachziehend, wieder die Turmtreppe empor und trat bei dem Vater ein. Baron Konstantin von Kerkhuß hob die großen, grauen Augen von einer englischen Broschüre, in der er geblättert.

»Ein Wort, bitte, Papa: Wo ist Onkel Paul?«

Baron Oxberg, der General? ... Der alte Baron zog die Stirne hoch. Dann sagte er, in seiner gedämpften Art:

»Nun ... an der Front. In Ostpreußen.«

»Weißt du, wo?«

»Man würde es leicht erfahren!«

»Ich muß es wissen.«

»Wie das?«

»Paul Oxberg ist à la suite des Militärstaats des Zaren. Er hat Verbindungen ... ihm ist es möglich, mich trotz meines Beins bei sich einzustellen.«

»Du willst dienen ... gegen die Deutschen?«

Waldemar Kerkhuß setzte sich.

»Ich weiß keinen Ausweg!« sagte er. »Vielleicht ist es das beste, die Augen zuzumachen und an nichts in der Welt zu denken. Vielleicht werde ich meine Zweifel los, wenn man mir befiehlt, was ich tun muß!«


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