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6.

Es war nicht sehr kalt für einen Petersburger Februartag. Kaum zwanzig Grad Celsius unter Null bei beginnender Dämmerung um drei Uhr nachmittags. An den Straßenecken lohten im Zwielicht auf offenem Fahrdamm die großen Feuer, um die bärenartige Gestalten, Kutscher, Hausbesorger, Arbeiter, in ihren Pelzen stapften, die Arme gegeneinander schlugen und sich wärmten. Aus offenen schwarzen Wasserspiegeln im Eis der vielen Newaarme stieg ein Rauch wie aus einem dampfenden Teekessel. Die Schneeflocken wallten schwer auf Petersburg mit seinen breiten Flußflächen und wüstenartig weiten Plätzen und Reihen von riesigen Palästen. Auf diesen steingewordenen, nordischen Zarenwillen, diese auf unergründlichem Sumpf und morschen Holzpfählen schwebende, von eintöniger Waldwildnis umkerkerte größte Beamtenstadt der Welt, in der ein jeder, vom Gymnasiasten bis zum Hofminister, Uniform trug, in der der Tschinownik in vielen tausend Amtsstuben, in vielen tausend Spielarten, vom Viertelsmeister bis zum Gehilfen der höchsten »Sphären«, herrschte, faulenzte, im Schlendrian, das heiße Teeglas vor sich, rauchte, schrieb, mit einem Federzug freie Menschen einsperrte, nach Sibirien schickte, mittags um Zwölf, nachdem er eben sein Bett verlassen, erst am Arbeitstisch erschien und bei sinkender Nacht, um vier Uhr nachmittags, schon wieder im sausenden Schlitten heimfuhr, – diese Stadt, in der man vom Stadtsoldaten bis zum Großfürsten hinauf stahl, diese gewaltige Stadt trotzdem, die einen deutschen Namen trug, alles damit umschließend, was Rußland deutschem Wesen verdankte, und von der aus der Krieg wider Deutschland entfesselt wurde.

Der Krieg quoll düster und fahl wie ein Schattenbild durch die verschneiten Straßen des vornehmen, um das Winterpalais an der großen Newa gelagerten Admiralitätsteils. Kein Krieg mit Musikgeschmetter, Tücherwinken, jubelndem Zuruf. Stumm und stumpf stapften diese einförmigen, feldbraunen Scharen dahin, zwischen den hohen Schneehaufen zu beiden Seiten des Fahrdamms im Eisschlamm watend, die breitknochigen Gesichter blinzelnd gegen das Flockentreiben gebeugt, müde aufsehend, wenn alte Hexen aus dem Volk ihnen mit schmutzigen Händen geweihte Heiligenbilder zum Kuß hinhielten, verständnislos nach den Fenstern der prunkvollen Häuser hinaufstarrend, hinter deren fest verschlossenen und in den Fugen verklebten Scheiben da und dort ein Barin oder eine Barinja stand, Herren und Herrinnen, denen unten eine so fremde Welt wie diese hohen steinernen Häuser hier ihren fernen binsengedeckten Holzhütten, aus denen Starost und Gendarm sie gerissen, der Pope sie gesegnet, der Kronsoffizier sie weggetrieben hatte, um gegen Deutschland zu kämpfen. Längst hatten sich die Städte Westrußlands an den endlosen, jahrelangen Zug des Todes nach der Front gewöhnt, wo jeder Tag diese lebenden Wellen zu Tausenden zwischen dem Feuerspeien der Deutschen und den eigenen Kartätschlagen im Rücken niedermähte.

»Wenn man hinabschaut, glaubt man, es kommen jeden Morgen dieselben Muschiks vorbei!« sagte Kaja von Wiffenhausen. Sie stand, die Papyros zwischen den schwellenden roten Lippen des schönen, jungen Gesichts, am Fenster des Palais Manuchin in der Großen Morskaja. Elegante Petersburger Welt lachend und plaudernd neben und hinter ihr. Alle Fenster waren von den Gästen ihres Oheims besetzt, die sich eben von der Frühstückstafel erhoben hatten und bei Kaffee und Likören auf die bewaffneten braunen Horden hinabschauten, die still gleich vorwärts getriebenen Schafen drüben an der Ecke des Newskij-Prospekts dahinstuteten. Die Tausende von breitknochigen, klobigen Gesichtern mit weiten Nasenflügeln und niederen Stirnen schienen sich alle gleich. Es lag kein Ausdruck auf ihnen. Man konnte nicht erraten, was sie dachten. Ob sie überhaupt dachten ...

»Erbarmen Sie sich, Kaja Nikolajewna: Sie können unser heiliges Rußland in Waffen nicht unterscheiden?« sagte Graf Wittekind von Herzerode. Seine lange, schmalschultrige, vornehme Gestalt war mit aller Liebe eines Londoner Schneiders gekleidet und zeigte auch die dazu gehörende hängende Haltung und blasierte Ruhe des Gesichts, auf dessen regelmäßigen Zügen das deutsche Blut seiner baltischen Ahnen und der slawische Einschlag seiner russischen Mutter sich zum Bilde des geschmeidigen Petersburger Weltmanns einten. Er redete seit Kriegsbeginn grundsätzlich nur Russisch, auch wenn das Gespräch um ihn hurtig wie das Schwirren einer Vogelhecke aus dem Französischen in das Englische überging und zum Französischen zurückkehrte.

»Sie müssen doch die Sibiriaken an ihren hohen, spitzen Pelzmützen erkennen!« fuhr er fort.

»Ich gab selbst einen Muff als Liebesgabe für solche Mützen!«

»Nun – und dies, was nun folgt, sind Tschuwaschen vom Ural!«

»Gestern kamen viele Turkmenen vorbei,« sagte Kajas Freundin Ljubow Perekrestowa, die Tochter des Gouverneurs aus der Provinz. Sie hatte ein kleines, weißes, ganz russisches Gesicht mit dunklen, kurzen Haaren und trug einen Zwicker vor den kurzsichtigen Augen.

»Ja. Mohammedaner aus Samarkand!«

»Nein doch: Perser!«

»Ich dachte, es seien kaukasische Truppen gewesen.«

»Sie schließen Ihre schönen blauen Augen gegen den Krieg, Kaja Nikolajewna! Man weiß es!« sagte Wittekind Herzerode, gleichgültig mit den anderen die Wanderung der todgeweihten Asiaten unten betrachtend. »Sonst würden Sie die Bergvölker schon an den vorn auf die Brust genähten Patronentaschen erkennen ...«

»Aber dies hier ...?«

Es war ein Aufruhr unter den satten Zuschauern des Hauses Manuchin. Die Herren und Damen, die, Zigaretten rauchend, an den Fenstern standen, deuteten erregt zum Newskij-Prospekt hinüber.

»Japaner!«

»Japaner kommen zu Hilfe!«

»Seht doch die kleinen Gestalten, die gelben Gesichter, die Schlitzaugen!«

»Man muß sie begrüßen!«

»Wie denn, Japaner! ... Es sind Burjaten ... Mongolen aus dem fernsten Osten Sibiriens!«

»Russen?«

»Russen wie wir alle!«

Der General, der das sprach, saß gelassen im Hintergrund des Salons und trank seinen Tee. Die bewaffneten Muschiks unten, die er schon zu Tausenden draußen in den Tod geschickt, konnten ihn nicht zum Aufstehen veranlassen. Auch den anderen wurde allmählich der ewige Anblick des sich immer gleichbleibenden, schwerbepackt in den Tod stapfenden, feldbraunen russischen Bauern langweilig. Sie traten vom Fenster zurück. Dies Wort: »Russen wie wir alle!« hallte trotzdem nach. Ein Gefühl der Unermeßlichkeit eines Reiches, das diese Völkerwanderung gegen Deutschland aufzubieten vermochte.

»Beachten Sie wohl!« sprach der General weiter. Langsam, befehlsgewohnt, mit derselben wissenschaftlichen Ruhe auf dem hageren, bebrillten, von einem dünnen, grauen Ziegenbart umwucherten Gesicht, mit der er im Felde, das Fernglas vor den Augen, das braune Gewimmel der von ihm vorgejagten Menschenmassen verfolgte, kaltblütig die deutschen Schützengräben mit seinen toten Muschiks füllte, die Flüsse mit ihren Leichen staute, die Sümpfe mit ihren versinkenden Knäueln überbrückte. »Beachten Sie: zum erstenmal in seiner Geschichte zeigt Rußland seine volle Kraft! Wie war das früher? Man holte im Krieg noch nicht den zwanzigsten Kerl aus dem Dorfe. Ließ die anderen daheim bei ihren Weibern und Müttern. Es fehlte an Geld, es fehlte an Beförderungsmitteln, es fehlte an Mut! Wie anders heute! Heute ist in Wahrheit und durch die Gnade Gottes jeder männliche Untertan des Zaren bewaffnet!«

Unten zogen die stummen braunen Reihen vorüber. Es klang aus ihrem dumpfen Massentritt: Wofür? ... Wofür? ...

»Und ist diese Kraftanstrengung notwendig, Iwan Stepanowitsch?«

Hinter der Brille des Generals zeigten die kleinen, starren Augen den stillen Fanatismus des Fachmannes.

»Dies ist die Frage einer Frau, Lisa Petrowna – vergeben Sie mir ... Eine Notwendigkeit? Wie denn nicht? Nun endlich kann man im Krieg aus dem vollen schöpfen!

Es kommt nicht darauf an! Sind heute meine Bataillone vernichtet – macht nichts! Für jedes habe ich zu Hause achtmaligen, zehnmaligen Ersatz bereit! Ich kann in jeder Schlacht, was ich habe, opfern. Der Menschenstrom fließt nach und füllt meine Lücken. Er rauscht breit wie die Wolga ...«

Wofür? ... Wofür? ... Die Regimenter zogen vorbei. Kümmerliche, unterernährte Weißrussen aus ihren Sümpfen, hagere, gebückte Hebräer aus galizischen Ghettos, semmelblonde kleine Halbwilde aus irgendeinem unbekannten Gouvernement Asiens.

»Man schöpft aus dem vollen!« Der General hüstelte und griff sich an den Hals, wo das Georgskreuz schimmerte. »Wir haben wie die Wundertäter die gesamte russische Erde aufstehen und gehen heißen ...«

Wofür? ... Wofür? frug unten dumpf der Widerhall. Tschin, Adel, Damen hörten es kaum mehr da drinnen in den lichthell gewordenen Sälen mit ihren kostbaren Teppichen, ihrem schwülen Wohlgeruch, ihren Palmen und Orchideensträußen, die man nur im Warmhaus des eigenen Palastes ziehen konnte. Denn im Petersburger Winter war immer die Gefahr, daß Blumen auf dem Weg über die Straße in einer Minute erfroren.

»Diese Erde wandert nun! Sie wandert ...«

Wohin? ... Wohin? ... Draußen pfiff der Schneesturm über die braunen Massen.

»Wer will sie aufhalten?« schloß der General. Seine kränklichen Denkerzüge waren feierlich geworden. Von der Straße verhallten für heute die Schritte des letzten Menschenschubs an die Front. Es vergrollte um die Ecke ... Ja wer? ... Wer wird uns aufhalten? Wir wurden wach ... Wir alle in dem ungeheuren Zarenreich ... Ihr habt uns geweckt ... Wir wandern ...

Graf Herzerode lächelte liebenswürdig-herausfordernd. Er hatte dem General nicht mehr zugehört. Seine Bewegungen waren von der angenehmen Leichtigkeit der Petersburger Salons. Er ging scheinbar unabsichtlich an einem mit einer Auswahl von Bonbons aus den Newskijläden bedeckten Tisch vorbei, um den Kaja mit ihren Freundinnen saß. Sie hatten nach russischer Sitte schon Mengen der Zuckerfrüchte aufgeknabbert. Die Schachteln mit Süßigkeiten waren halb leer.

»Nun – welch eine kampflustige Miene? Wer tat Ihnen etwas? Nehmen Sie eingezuckerte Veilchen, Feodor Feodorowitsch!«

Graf Wittekind hatte sich diesen Vor- und Vatersnamen für den Verkehr mit den Russen reinen Geblüts gewählt. Wittekind Ludwigowitsch wäre zu schwer über russische Lippen gekommen. Er dankte mit einer geschmeidigen Verbeugung dem kleinen, wie ein Porzellanpüppchen sich im Schaukelstuhl wiegenden Fräulein Pommeranzeff und dachte sich dabei: Seltsam, daß Kajas Freundinnen immer mager und unscheinbar sind wie die Spinnen! Er warf ihr einen Blick zu. Sie saß in ihrer majestätischen Schönheit wie durch Zufall so in einem thronartig geschnitzten, dunkeln Bojarenstuhl, daß das Licht von der Decke durch die sich über ihr wölbenden Zweige einer Zimmerpalme zu einer geheimnisvollen Verklärung ihres goldblonden Hauptes abgedämpft wurde. Sie lächelte ihn leichtsinnig an, die unvermeidliche Papyros schräg im Munde. Aber in den großen blauen Augen las er eine ernste Warnung. Einen nachdrücklichen Befehl: »Benimm dich vernünftig! Du weißt, ich will es!« ... Er zuckte kaum merklich die Achseln und versetzte laut, fast über ihren Kopf hinweg, auf russisch zu den anderen:

»Es ist eine erhabene Vorstellung, die uns Iwan Stepanowitsch aus dem Bilde dieser Muschiks unten hervorzauberte: Unser ganzes, großes, heiliges Rußland auf dem Marsch zur endlichen Befreiung! Wer von uns zweifelt an dem, was wir auf jedem Kopekenstück sehen: daß der heilige Georg den Drachen erlegt! Den deutschen Drachen!«

»Sehr gut!«

»Der deutsche Feind ist draußen leicht zu erkennen. Er trägt die Pickelhaube. Hier innen bei uns in Rußland bemerkt man ihn so leicht nicht ...«

»Wittekind, Sie werden jetzt schweigen!« sagte Kaja von Wiffenhausen halblaut, fast ohne daß ihre Lippen sich bewegten und ihr schönes Antlitz sich veränderte. Er machte, ohne auf sie zu achten, eine ironische Bewegung mit den Schultern.

»Hier daheim stehen wir alle im Felde, wir, die allrussische Gesellschaft, um den Deutschen in unserer Mitte zu entlarven!«

»Wittekind, ich habe Ihnen ausdrücklich verboten ...«

»Und ich bin untröstlich, Kaja Nikolajewna, Ihnen ungehorsam zu sein ... Ich fahre fort: Rußland muß zu seinem Schutze alles aufbieten, was eine russische Seele sein eigen nennt ...«

»Wer hier in diesen Räumen könnte das nicht?« sagte der kränkliche, bebrillte General.

»Aber wer sind die wahren Freunde Rußlands? Viele drängen sich jetzt heran, von denen es früher selbst der wundertätige Vater Iwan von Kronstadt nicht prophezeit hätte ...«

»Sie sollen hier keine Szenen machen,« sagte Kaja von Wiffenhausen gedämpft und mit einer Unheil verkündenden Wolke auf der Stirne

»Wen meinen Sie, Graf Gerzerodde? Belieben Sie sich zu erklären!«

»Haben Sie jemanden aus diesem Kreise hier im Sinn?«

Graf Wittekind von Herzerode lächelte auf einmal wieder so oberflächlich und geringschätzig, als sei das Ganze nur ein Scherz gewesen.

»Wie sollte ich?« sagte er verbindlich. »Ich bin ein einfacher Mensch. Ich äußerte nur meine Besorgnisse. Sie hatten die Gnade mich anzuhören. Gut denn! Ich verbeuge mich und verstumme!«

»Aber ich nicht!«

»Nicht doch!«

»Sie waren nicht gemeint!«

Kaja Wiffenhausen stand rasch auf und stellte sich, das Teeglas in der Hand, zwischen die beiden Männer. Sie lachte und sagte obenhin:

»Bleiben Sie doch sitzen, Baron Kerkhuß! Sie machten sich sehr gut dahinten auf dem Sofa, mit Ihrer Grüblermiene, den Kopf in der Hand! Warum verderben Sie uns dies lebende Bild eines Philosophen...?«

»Ich bin es längst nicht mehr!«

Waldemar Kerkhuß war aus dem Hintergrund des großen Gemachs herangetreten. Die blonde, linksgescheitelte Haarwelle fiel in sein verfinstertes Gesicht. Seine großen, blauen Augen leuchteten zornig.

»Graf Wittekind hat Ihren Namen nicht genannt: Sie nicht angesehen, während er sprach. Ich behielt ihn wohl im Auge!«

»Und doch meinte er mich, Kaja Nikolajewna! Jeder hier weiß es!«

»Wie sollte ich es leugnen?«

Graf Herzerode zündete sich mit herausforderndem Lächeln eine neue Papyros an. Es war eine Stille. Waldemar Kerkhuß wurde plötzlich ruhig. Er zuckte die Achseln und sagte zu den anderen:

»Mein Vetter Wittekind hat den Übereifer des Bekehrten! Er glaubt ihn an jedem Ort und gegen jedermann ins Feld führen zu müssen. Lassen wir ihn!«

»Zeige du diesen Eifer! Was tust du für die große Sache? Diesen ganzen Winter bist du hier in Petrograd ein Zeuge unserer Zusammenkünfte, ein Zuhörer unserer Gespräche. Tu sitzt da und schweigst...«

»Baron Kerkhuß' Schweigen heißt Billigung!« sagte die Dame des Hauses. Ihre Diamanten funkelten. Sie hatte, unter dem Weiß der Puderschicht über der Haut und dem natürlichen Weiß des Haares, ein heiteres Marquisengesicht des achtzehnten Jahrhunderts. Die schwarzen Augen lebten und liefen darin noch in jugendlicher Beweglichkeit. Sie sah körperlich älter aus als ihr Mann, der Knjäs Manuchin, der auch schon ein guter Fünfziger war, und geistig eher jünger als er.

»Es handelt sich jetzt nicht darum, die Sache Rußlands zu billigen, Fürstin, sondern sie zu vertreten. Ich widme meine armen Kräfte diesem Ziel...«

»Man kennt Ihren Eifer, Graf Gerzerodde!«

»Aber hier... belieben Sie den Gesichtsausdruck meines Vetters Waldemar zu würdigen: Ist das die Miene eines Mannes, dessen Herz von dem Gedanken an die allrussische Zukunft erfüllt ist? Ich sehe nur ein Zögern... einen Vorbehalt gegen die Pflichten, die Gottes Wille uns auferlegte... einen Mangel an Entschluß, sich mit breiter Brust der Sache Petrograds und Moskaus hinzugeben...«

Waldemar Kerkhuß wandte sich geringschätzig ab. Es war seine einzige Antwort. Kaja stand neben den feindlichen Vettern. Sie hatte ihre russischen Freundinnen, Tatjana und Ljubow, rechts und links am Arm eingehängt. Die beiden, Fräulein Pommeranzeff und Fräulein Perekrestoff, sahen mehr neugierig als erschrocken auf die Streitenden. Um Kaja Wiffenhausens rote Lippen war jetzt plötzlich ein rätselhafter, unbestimmter Zug. Es schien, als ob selbst der slawisch-weiche und erwartungsvolle Glanz in ihren blauen Augen die Nebenbuhler zu einer Entscheidung ermutigte.

Wittekind von Herzerode war, durch seine russische Mutter, orthodoxen Glaubens. Er trug unter seiner Londoner Kleidung Tag und Nacht ein Heiligenbild auf der bloßen Brust. Er schaute auch jetzt nach einem Kruzifix, wie es sonst in russischen Häusern über der Türe hing. Es fehlte in diesem modernen und liberalen Petersburger Palast. Und doch besagte sein Blick zu Waldemar Kerkhuß hinüber deutlich: Dort ist Gott und die Türe! Gehe hinaus! Lasse uns Russen unter uns allein!... Und mich mit Kaja Wiffenhausen...

»Genug davon! Setzen Sie sich! Beruhigen Sie sich beide!... Welch ein Auftritt! Nicht Hader liegt jetzt in Gottes Willen, sondern Eintracht!«

Graf Herzerode dankte für die Aufforderung der Fürstin mit einer geschmeidigen, halben Wendung des Oberkörpers und einem unterwürfigen Lächeln. Er hatte in diesem Augenblick alles von einem Russen. Aber er blieb stehen. Das Lächeln verstärkte sich. Wurde frech. Er wandte sich, kameradschaftlich ungezwungen, vertraulich gedämpft an Kaja.

»Man sieht: Kerkhuß erwidert nichts! Was sollte er auch? Er liebt es nicht zu sprechen. Er liebt es auch nicht zu handeln. Er liebt es zu warten!«

»Worauf?«

»Nun – sehr einfach: wer siegen wird!«

»Seien Sie still!«

»... das ist vorsichtig von ihm! Aber nicht klug ...«

»Schweige!«

»... denn hinterher ist es zu spät, sich dem Triumph Rußlands anzuschließen ...«

»Waldemar ...«

»Dann belohnt Rußland seine Söhne, nicht seine ungebetenen Gäste ...«

»Waldemar Konstantinowitsch – ich werfe mich zwischen Sie und ihn ...«

»Lassen Sie mich, Knjäs!«

»Hier ist mein Haus! Hier sollen nicht Russen Russen schmähen!«

»Dafür werde ich ihn ...«

»... und noch weniger Russen gegen Russen die Hand erheben! Man wird das ordnen! Es war da eine Übereilung, Graf Gerzerodde! Ein Mißverständnis, Baron Kerkhuß!«

Knjäs Boris Manuchin war zwischen die Streitenden geeilt und trennte sie mit seiner schwerfälligen und breitschulterigen Gestalt. Auf seinem langbärtigen, slawischen Apostelgesicht lag würdevolle Ruhe. Die groben, klugen Züge waren gebieterisch. Die anderen Gäste waren herangetreten und standen hinter ihm. Kaja Wiffenhausen in ihrer schlanken, germanischen Länge mitten zwischen ihnen. Ihr Gesicht war harmlos, als hätte sie mit diesem Streit um Rußland gar nichts zu tun. Sie rauchte seelenruhig ihre Zigarette und beobachtete fast mitleidig die beiden erregten jungen Männer. Es war ein Schweigen in dem Gemach, das Fürst Manuchins weiche Stimme unterbrach. Er sprach leicht und ungezwungen, so wie man in englischen Klubs geschult war, das rechte Wort mühelos zu finden.

»Erbarmen Sie sich, Feodor Feodorowitsch!« sagte er zu Wittekind von Herzerode. »Wohin führt Sie Ihr Eifer für die gute Sache? Wahrlich nicht dazu, andere Diener Rußlands herabzusetzen! Ein jeder nach seinem Teil!«

»Rußland den Russen!«

»Rußland allen seinen Söhnen und allen seinen Freunden!« Durch die Brillengläser, die unter der von langen, unordentlichen Flachssträhnen umrahmten Glatze funkelten, glitten die nervösen und vergeistigten Augen des Fürsten das Zimmer entlang. Er paßte nach seinem Äußeren weit mehr in seinen alten Bojarenpalast in Moskau, einen riesigen, blau gestrichenen, niederen, von zwei gebogenen Seitenflügeln umfaßten Holzkasten, der noch so stand, wie er nach dem großen Brand vor hundert Jahren von den Leibeigenen seiner Wolgagüter wieder aufgebaut worden war. Aber seelisch war er ganz der Bewohner dieses modernen, steinernen Petersburger Palais, in dem der Geist Westeuropas lebte.

»Jeder ist willkommen!« fuhr er eindringlich fort. »Jeder, der sich zu Rußland bekennt! Dort sitzt mein Freund, Baron Bertil Butwengen – Ihr Verwandter, Graf Gerzerodde –, ich weiß, der Zar hat keinen ergebeneren Vollstrecker seines Willens! Ich sehe mit Freuden da den Grafen Jaroszynski, der trotz seines Alters, als die Deutschen Warschau nahmen, es sich nicht nehmen ließ, mit vielen ebenso vaterländisch gesinnten Polen zu uns nach Petrograd zu flüchten! Ginge es nach Ihrem kurzsichtigen Willen, Feodor Feodorowitsch, so müßte selbst Gospodin Kjaschko hier uns halb ein Fremder sein! Denn er ist Ukrainer und wir sind hier in Großrußland. Ich gehe noch weiter. Ich beziehe auch Herrn Dr. Kissimoff in meine Worte ein! Er floh mit seinen Freunden aus Bulgarien zu uns, als unter den dortigen Staatsmännern die Feinde Rußlands die Oberhand gewannen! Ich heiße auch Herrn Oberst Wrazek willkommen. Sie gingen offen mit Ihrem ganzen Regiment mitten im Feuer von Habsburg zu uns über! Auch Sie und Ihre tapfern Tschechen sind slawische Brüder! Rußland kennt nicht die Engherzigkeit des Westens. Es ist nicht kleinlich. Es zählt nicht die Tropfen rechtgläubigen Bluts in den Adern. Es prüft das Herz, ob es für Moskau schlägt! Im Namen Rußlands drücke ich so auch dem Baron Waldemar Kerkhuß die Hand! Er kam zu uns. Noch zögert vielleicht sein Intellekt vor ungewohnten Eindrücken. Aber er wird bei uns bleiben und der unsere werden! Auch Sie, Graf Gerzerodde, haben diese Wandlung erst vollzogen, wenn Sie Ihnen auch, dank Ihrer Mutter, leichter fiel. Darum werfen Sie keinen Stein auf die, die Ihnen folgen ... Ihre Worte waren Ihnen nur in der begreiflichen Sorge um Rußland entglitten ... Sie geben es zu? ...«

Wittekind von Herzerode stand einen Augenblick unschlüssig, mit der raschen Überlegung des Weltmannes, dem Willen, Herr der Lage zu bleiben. Sein Blick suchte Kaja. Sie war gar nicht mehr unter den anderen um ihn herum, sondern hatte sich, ausnahmsweise sogar mit einer sehr hübschen, jungen Petersburgerin, in das Nebenzimmer zurückgezogen, ohne sich um den Streit drüben noch zu kümmern. Die beiden kicherten und lachten zusammen. Man sah durch die offene Türe, an Kajas eifrigen Handbewegungen um Hals und Schultern, wie sie der anderen Weltdame den Ausputz eines neuen, im Entstehen begriffenen Kleides schilderte. Graf Herzerode beschloß, den Fall ebensowenig ernst zu nehmen wie sie. Er sprach lächelnd das landesübliche: »Winowat!« ›Ich bin schuldig!‹ und machte dazu durch eine ironische Kopfneigung eine Andeutung der altrussischen tiefen Verbeugung mit bis zur Erde herabhängenden Armen, die nach Väter Sitte das Zeichen der Unterordnung war. Dann trat er zur Seite blätterte noch eine kurze Zeit gelangweilt in einer Mappe mit Photographien vom kaukasischen Kriegsschauplatz und verließ dann, mit seinen langen Lackstiefeln unhörbar auf dem weichen Teppich gleitend und ohne Abschied die Gesellschaft, ließ sich vom Schweizer unten den Pelz umwerfen und warf sich mit zusammengebissenen Zähnen in den Schlitten.

Oben in den hellen Räumen saß Gospodin Leonid Kjaschko, der Großgrundbesitzer aus Kiew, neben einer der eleganten Petersburgerinnen. Man sah ihrer schlanken, mädchenhaften Gestalt nicht an, daß sie erwachsene Söhne draußen im Felde hatte, und noch weniger ihrem zarten sanften Gretchengesicht ihren Ruf.

Der Zuckermillionär zeigte lächelnd die weißen Zähne unter dem blonden Schnurrbart und forschte, in einer etwas gezierten, aber anmutigen Kopfhaltung:

»Wie ist das? Ich bin hier fremd. Erklären Sie mir bitte: Was ging hier vor? Ich kenne Baron Kerkhuß seit vielen Jahren. Wir studierten an derselben Hochschule in Deutschland. Wie kam es zu diesem Zusammenstoß eben Anna Petrowna?«

Die Schöne wandte ihm mit einem weichen Augenaufschlag das schmale, slawische Antlitz zu. Sie schien die verkörperte Unschuld, während sie harmlos sagte:

»Es ist Krieg. Die Männer regen sich über die Staatsangelegenheiten auf. Ein Wort gibt das andere.«

»Erbarmen Sie sich. Wie können Meinungsverschiedenheiten in der Politik zu solchen Auftritten vor Damen führen? Ich erkenne Baron Kerkhuß nicht wieder!«

Plötzlich bemerkte er den Gesichtsausdruck seiner Nachbarin und begriff. Er brauchte nur dem frommen Spiel ihrer Augen nach der anderen Seite des Gemachs zu folgen, wo Kaja Wiffenhausen ihre blonde Schönheit auf dem schneeweißen Eisbärfell einer Ottomane gelagert hatte und, das Haupt nachlässig auf den Arm gestützt, mit glänzenden Augen zu den sie umstehenden Herren hinauflachte.

»O, Eifersucht .. meinen Sie?«

»Was wohl sonst? Ich hätte Sie für weltkundiger gehalten, Leonid Sergeïtsch!«

Herr von Kjaschko war etwas beschämt. Er entschuldigte sich:

»Die Zeiten sind schuld, Anna Petrowna! Diese Unruhe verwirrt Urteil und Scharfblick! Sieh doch: Also hier läuft Baron Kerkhuß Sturm!«

»Ich glaube, er hat es nicht erst nötig!«

»Und dieser andere... sein Vetter? Wie ist es mit dem?«

»Je nun: viel mehr als das Leben besitzt Herzerode nicht. Während Ihr Freund Kerkhuß...«

»Ich weiß es: sein Erbe ist beinahe zu groß. Es wird einmal von ihm Besitz nehmen statt er vom Erbe, so schwer wie er die Dinge des Lebens nimmt!«

Waldemar Kerkhuß saß anscheinend ganz gleichgültig und rauchte. Seine Miene war hochfahrend und dabei versonnen. Als Herr von Kjaschko neben ihm Platz nahm, drückte er ihm die Hand.

»Gewiß entsinne ich mich noch unseres letzten Beisammenseins! Das ist nun fast zweieinhalb Jahre her, daß wir bei einem nichtswürdigen Seegang von Helsingfors nach Neval hinüberschlingerten. Ich kehrte gerade aus Amerika in dieses wunderliche Europa zurück.«

»Ja, es war zu Beginn des Krieges. Und was trieben Sie seitdem?«

»Ich wurde getrieben. Uns alle treibt die Zeit.«

»Aber wohin?«

»Den einen geradeaus, den anderen im Zickzack. Letzteres ist mein Fall.«

»Ich verstehe es. Ihnen legte das Schicksal in dieser bewegten Zeit einen Zwiespalt in die Brust. Sie wissen, ich bin Deutschland gegenüber aufgeklärter als unsere Landsleute. Ich vermag mich leichter in die Seele eines Deutschrussen zu finden...«

»Tun Sie es lieber nicht, Gospodin Kjaschko! Es ist ein Labyrinth für eine rechtgläubige russische Seele.«

»Und doch scheint es mir, daß Sie den Ausgang daraus gefunden haben. Sie sitzen hier, im Salon des Fürsten Manuchin.«

»Oft können Sie mich hier sitzen sehen, Gospodin Kjaschko ... oft ...«

»Dies ist ein Salon der Auferstehung des Slawentums. Der Fürst ist einer der kommenden Männer des neuen Rußlands. Wie lange kann der Todeskampf des Zarismus noch dauern? Ich würde Sie beglückwünschen, wenn Sie hier den Anschluß an die neue Zeit gewännen!«

»Ich danke Ihnen, Gospodin Kjaschko!«

»Überall sprach man heute hier in diesen Räumen in meiner Gegenwart über Sie. Dieser Kreis erwartet Großes von Ihnen!«

»Was denn wohl zunächst?«

Waldemar Kerkhuß sah dem kleinrussischen Edelmann belustigt fragend ins Gesicht.

»Nun... in das einzelne verlor man sich nicht.«

»Sprechen Sie es doch offen aus, was meine erste Tat sein soll! Dies Zimmer ist ja voll davon. Es ist nachgerade das Geheimnis des Policinells!«

Herr von Kjaschko räusperte sich und wechselte plötzlich das Gespräch.

»Meldete ich Ihnen schon, Baron Kerkhuß, daß ich vor Jahresfrist meine fehlende Rippe suchen ging? Im Herbst habe ich mich vermählt...«

»Lassen Sie mich Ihnen die Hand drücken, Gospodin Kjaschko!«

»Hier im Medaillon ist ihr Bild! Noch halb ein Kind. Sie ist aus dem Adel desselben Gouvernements. Wir verbringen den Winter, spätestens von der Kontraktenmesse ab, in Kiew. Jeder Iswoschtschik fährt Sie zu unserem Hause auf dem Kreschtschatik, wenn Sie kommen! Wir werden uns herzlich freuen. Sie in unserem russischen Jerusalem zu begrüßen!«

Leonid Kjaschko stand auf und lächelte wieder in seiner gewinnenden, fast weiblich-schmeichlerischen Art, während er sich verabschiedete.

»Und mehr noch würde ich mich freuen, Baron Kerkhuß, wenn ich Ihnen bald ebenso die Hand schütteln dürfte wie Sie eben mir.«

Sein Lächeln hieß: Du gehst auf Freiersfüßen... Alle ringsum, die scheinbar plaudern, Tee trinken, Liebessocken stricken, beobachten dabei gespannt deine Schritte. Drüben sitzt sie. Sie ist schön. Selbst der grobe Soldatenstrumpf, um den sie jetzt kokett die Nadeln klappern läßt, ist, im Widerspiel zu ihren weißen Händen, ein Werkzeug ihrer müßigen, wie im Treibhaus blühenden Schönheit. Nimm sie. In ihren Armen nimmt dich Rußland auf.

Waldemar Kerkhuß saß wieder allein. Er dachte sich: Ja, wen nimmt Rußland nicht auf? Da drüben redet der alte Weißkopf, Thaddäus Jaroszynski, eindringlich in irgendeinen Würdenträger oder seinen Gehilfen hinein. Er ist nicht der einzige. Viele polnische Fürsten und Grafen und Edelleute sind in Petrograd. Sie klammern sich an das Rußland, das ihr Vaterland teilte, das ihre Väter nach Sibirien schickte, ihre Güter einzog. Denn in diesem Sturm über der Erde entscheidet die Stärke. Und der asiatische Koloß erscheint ihnen als die Macht, die Macht schlechtweg, das Ding, das niemand bewegen und erschüttern kann, mag auch der Deutsche draußen in den Grenzländern auf noch so vielen Festungen seine Fahne hissen und ihre Heere gefangen abführen.

Und dieser brutale und finstere Bulgare dort, der zu Rußland geflüchtete Politiker – fliehen nicht viele in seinem Lande in Gedanken zu Rußland, hoffen auf Rußland, warten auf Rußland, daß es seine riesige Hand über den ganzen orthodoxen Balkan lege?

Und der hussitische Überläufer dahinten, der tschechische Oberst – vertraute er nicht, als er mit seinem ganzen Regiment die Fahnen Habsburgs verließ, sein Leben, seine Zukunft blindgläubig Rußland an? Man sieht geflohene Paschas vom Goldenen Horn in Petrograd, entkommene serbische Generale, rumänische Bojaren. Viele Seelen im Osten bewiesen durch die Tat ihren felsenfesten Glauben: Mag alles wanken – die russische Erde steht! Sie trägt den, der sich ihr anvertraut! Trägt ihn empor, sie, die unermeßliche, zwei Erdteile bedeckende, von fünf Meeren umspülte, trägt ihn empor, wenn das kleine vorgelagerte Europa zerschellt.

Ein schneeweißer, viel zu kleiner, aristokratischer Geierkopf reckte sich, dort drüben am Fenster, auf einem endlos langen Leib. Jetzt erhob sich Baron Bertil Butwengen. Es schien, als wolle seine hagere, schmalbrüstige Gestalt kein Ende nehmen. Seine Schultern hingen, als er stand, von der Last seiner beinah fünfundsiebzig Jahre vornüber. Aber trotz seiner gebeugten Körperhaltung und der gebückten Knie überragte er noch weit die anderen Anwesenden.

Er winkte sich seinen Neffen Waldemar heran, faßte ihn vertraulich, wie er es früher niemals getan, unter den Arm, gleich einem Sohn, an dem er Wohlgefallen hatte, und wandelte mit ihm in dem großen leeren Nebensaal auf und ab. Er war in gönnerhafter Laune. Es zwinkerte anerkennend auf den tausend hochmütigen Runzeln seines Gesichts, über dem sich, als Merkmal der Überzüchtung seines alten Geschlechts, die viel zu große Stirne wölbte.

Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten des alten, baltischen Diplomaten, daß er es in seinem ganzen Leben nicht fertiggebracht hatte, ordentlich Russisch zu lernen. Er verstand es wohl. Aber er machte beim Sprechen Schnitzer. So wie ihm war es in seiner Jugend vielen vornehmen Russen von moskowitischem Vollblut gegangen. Es schadete damals auch nichts. Man dachte, redete und schrieb Französisch. Der greise Hofmann des Zaren gebrauchte auch jetzt, in dem Petersburg des Kriegs, sein immer trocken-frivoles Pariserisch, in das er nur zuweilen ein russisches Wort einflocht.

»Du bist ein Maladjetz, ein ganz verfluchter Junge!« sagte er aufgeräumt. »Ich komme von diesen Tieren da auf dem Balkan nach Petrograd, denke da wieder einen Träumer in dir zu finden, einen jungen Mann von der unausstehlichen Selbstgerechtigkeit, die Leuten von Welt auf die Nerven fällt – und was sehe ich: einen mit allen Wassern gewaschenen Menschen der großen Geschäfte, der seine Zeit versteht und sich über seinen alten Mentor in Bukarest jedenfalls schon damals heimlich lustigmachte...«

»Wie das, mein Onkel?«

»Du hattest recht – ganz recht! Du sagtest dir in Bukarest: Der alte Butwengen, seine Taschenspielerkunststücke, seine ganze Maschinerie der Menschenbehandlung – das ist alles altes Spiel! Dieser Oheim Bertil ist ein Greis. Der Zar, dem er dient, ist eine Vogelscheuche. Das Rußland, das er Rußland nennt, ist ein galvanisierter Leichnam ... Mein Lieber, diese Erkenntnis drängt sich auch mir am Ende meines langen Lebens auf, seit ich jetzt wieder diese Luft der Newa atme ... Alles bei uns jagt wie ein durchgehendes Dreigespann dem Abgrund zu. Und wir verbrauchten Diener der Krone auf dem Bock sind wie der Lahme, der den Blinden nicht halten kann. Blind sind sie – blind ...«

Der baltische Edelmann sah plötzlich so uralt aus wie noch nie. Verwittert und in sich versunken. Eine Zeit ging mit ihm zu Grabe, und er trug sich mit ihr selbst zu Grab. Der weit über den Durchschnitt gehende Verstand, der in der scheinbar entarteten Riesenwölbung der Stirne wohnte, ließ ihn die Dinge sachlich und kühl so sehen, wie sie waren. Er sprach zu Waldemar Kerkhuß im Hinundherwandeln durch den Saal mit der Kennerschaft des Älteren zu einem Jüngeren, dem er nicht nur an Wappen und Stammbaum, sondern auch an Einsicht in den krausen Lauf der Welt sich ebenbürtig betrachtete.

»Sehr gut: du schontest dich in Bukarest – du vermiedest, dich in diesem Räderwerk Halbasiens vor der Zeit zu verbrauchen, du spieltest mit viel Geschick den Hamlet, fern von Menschen und Geschäften, bis du deine Ophelia fandest, die dir die Welt aufschließt! Meinen Glückwunsch! Überdies ist sie schön! Bringe dich noch in den Ruf eines sicheren Pistolenschützen, so wird deine Ehe ungetrübt verlaufen...«

»Mein Onkel – diese Scherze...«

»Aber ich nehme dich ernst, mein Lieber! Bitter ernst. Es ist das größte Kompliment, das ich machen kann. Ich bin selten meinen Mitmenschen gegenüber dazu in der Lage. Du gestandest dir: Diese alte Galeere des Zarismus versinkt! Tu frugst dich: Wo ist Neuland? Dein Scharfblick sagte dir: Hier! – und hatte recht. Diese geistigen Bewegungen der russischen Gesellschaft lassen sich von der Regierung mit allen Kosaken und sibirischen Bergwerken nicht mehr hemmen. Dieser Knjäs da drinnen, der wie ein Muschik aussieht, wird unzweifelhaft ein leitender Kopf dieser fortschrittlichen Entwicklung werden. Verneigen wir uns vor ihm und vor dem gewandten Beurteiler der Zukunft, der in dir vor mir sieht! Du bist wirklich ein vorzüglicher Schauspieler, Waldemar! Du verstehst sogar die Kunst, noch rot zu werden!«

»Wenn nur mehr es bei uns könnten, Onkel!«

»Aber lasse es dir von einem alten Kartenmischer sagen, der ja leider auch manchmal mit falschen Karten spielen mußte: Behalte deinen Trumpf nicht zu lange in der Hand! Zaudere nicht, um dich noch interessanter zu machen! Du bist es in diesem Augenblick! Stich die Herzdame! Hinter dir sieht Herzerode und schaut dir in die Karten. Er ist nicht klug. Aber auch die Dummheit ist gefährlich. Sich und anderen. Ich sah es heute wieder auf der Fahrt durch die Ministerien. Bringe deinen Gewinn in Sicherheit, mein Neffe!«

Der Greis kicherte vergnüglich. Hübsche Frauen und was um sie war machten ihm immer Spaß.

»Ich bin kein alter Kuppler, Waldemar! Ich erscheine mir selber zuweilen wie ein alter Junggeselle und bin doch seit fünfundvierzig Jahren vermählt! Aber ich rate dir: Fange diesen Vogel! Fange ihn heute noch, wenn du kannst. Er will gefangen sein. Er fliegt dir auf den Finger. Oder lasse dich fangen. Man wird das schon einrichten. Aber heute... heute!... Das Morgen steht in Gottes Hand...«

»Onkel Bertil... lasse mich dir sagen ...«

»Nein... Da du mir ja doch nicht die Wahrheit sagen wirst...«

»Warum nicht?«

»Mein Gott – ich sagte dir ja schon, daß ich dich ernst nehme!«

»... und deswegen lüge ich?«

»Aber gewiß! Ich glaube dir kein Wort, mein Bester! Niemand, der dich kennt! Du genießest allgemeines Vertrauen! Du gehst einer großen Zukunft entgegen.«

»Ist es denn nicht möglich, mich dir zu erklären?«

»Nein. Denn man kennt jetzt deine Masken. Sie sind gut. Sehr gut! Ich brachte in deinen Jahren diese aufrichtige Unruhe und Verwirrung längst nicht mehr fertig. Ich setzte mich ein für allemal auf die Bank der Spötter und bin da zeitlebens geblieben!«

»Deswegen brauchst du nicht andere nach dir zu beurteilen!«

Der baumlange, hagere alte Diplomat lachte und klopfte dem Neffen wohlwollend auf die Schulter.

»Genug! Man wird dich morgen zu deiner Verlobung beglückwünschen. Nun – die Gäste sind beinah alle fort. Auch ich werde jetzt in den Neuen Klub fahren!«

»Ich komme bis zur Ecke der Millionaja mit!«

»Bleibe lieber noch hier! Es scheint, der Fürst möchte dich noch sprechen!«

Knjäs Manuchin besaß nach englischer Art ein Rauchzimmer, obwohl nach russischem Brauch den ganzen Tag vom Morgen bis zum Abend überall im Hause Papyrossen geraucht wurden. Aber eben weil ihr feiner, alles erfüllender Hauch eine Art selbstverständlicher Parfümierung der im Winter niemals gelüfteten Räume vorstellte, war der Zigarrenqualm verpönt und eben nur auf dies eine, mit Ledersofas und Klubsesseln vor einem glimmenden Kamin ausgestattete Gemach beschränkt.

Das Rot der Fräcke auf englischen Sportbildern leuchtete von den Wänden wie die Glut auf dem Rost. Englische Zeitungen und Monatsschriften lagen umher. Fürst Boris Wladimirowitsch Manuchin selber hätte, nach der Behutsamkeit, mit der er sich vorbeugte und mit der Feuerzange das Kaminfeuer ordnete, für einen britischen Hausherrn gelten können, wäre nicht sein bärtiges Haupt und seine massige Gestalt so urrussisch, wie von grober Hand aus der Erde zwischen Beresina und Ural geknetet erschienen. Aber ihm gegenüber hob sich aus den Abgründen des Ledersessels hinter Kognak und Soda ein echtes, bartloses, kaltes und forschendes britisches Gesicht. Dieser Gentleman unbestimmten Alters war der einzige, der mit dem Knjäs und Waldemar Kerkhuß den totenstillen Raum teilte. Das Gespräch verfiel von selbst in das Englische.

»Ihr glaubt, Rußland kämpft!« sagte der Fürst in seiner weichen und nervösen Art, die in seltsamem Gegensatz zu seiner bärenhaften Erscheinung stand. »Aber wie ist das in Wahrheit? Rußland schläft! Noch schläft es! Es sendet sein Urbild, den Muschik, zu Millionen an die Front. Und doch sind seine ungeheuern Kräfte, die Gott ihm gab, noch nicht geweckt! Ich meine seine geistigen Kräfte und das freie Spiel dieser Kräfte, wie bei euch im Westen!«

Das steinerne Antlitz von der Themse verzog keine Miene. Es hörte nur zu und schwieg.

»Erwägen Sie selbst: noch sind wir die Sklaven des Tschin! Was ist in Petrograd ein Mann ohne Amtsstufe? Beinah wie ein Mensch ohne Paß! Man gibt dir eine Uniform, man gibt dir einen Rang und ein paar tausend Rubelchen Gehalt – nun, Bruder, regiere!

Stiehl! Stürze deinen Vorgesetzten! Dränge dich an seine Stelle! Immer höher hinauf! So machten sie es alle, die Väter der Lüge!«

Je erregter der Knjäs wurde, desto leiser, fast geheimnisvoll und desto eindringlicher pflegte er zu sprechen, beinah bittend, den anderen zu überzeugen.

»Nun – und oben? Ganz oben? Die gekrönte Spitze dieses chinesischen Turms schwankt am meisten. Er ist morsch. Dieses System des Zarismus – und wenn ich das sage, wende ich mein Angesicht gegen Moskau und verbeuge mich tief vor der wahren russischen Seele – dies falsche System ist dank seiner Unfähigkeit zu allem fähig. Und vor allem zu einem!«

Fürst Manuchin machte eine Kunstpause und versetzte dann langsam und nachdrücklich:

»Eines Tages werden wir auf dem Newskij schlendern. Wir hören plötzlich ungewohnte Worte – wir fahren zusammen ... Wie ist das denn? Rings um uns spricht man ja wieder deutsch! Heda! Köre, Gorodowoi! Verhafte diese Missetäter! Wie darf ich. Eure Erlaucht? Der Zar schloß ja Frieden! Frieden mit Deutschland!«

Der Gast aus dem Westen blieb stumm und aufmerksam. Der Hausherr fuhr sich leidenschaftlich mit der mächtigen Hand durch die langen, blonden Haarsträhne, die wirr von dem Kahlschädel seitlings herabhingen.

»Der Zar? Was ist er? Was will er? Was denkt er? Niemand weiß es. Man hält ihm Vortrag. Er erwidert nichts. Ob er zugehört hat, ist nur Gott bekannt. Es kommt ein Ukas. Man reißt die Augen auf. Niemand ahnte etwas davon. Belieben Eure Hohe Exzellenz!... Da steht schon der Kurier mit dem zweiten Ukas, der den ersten aufhebt! Kräfte sind da um den Zaren am Werke... sie drehen ihn im Kreise wie eine Wetterfahne im Schneesturm ... Rußland dreht sich mit ihm ... Uns schwindelt... Wir sehen den Augenblick, wo die Schwäche des Zarismus uns den Frieden mit Potsdam auferlegt!«

Der Brite blickte sinnend seitwärts in den Kamin hinab. Es war kaum zu sagen, ob er wirklich kaum merklich den Kopf beistimmend bewegte. Jedenfalls griff Fürst Manuchin hastig dies Zeichen auf.

»Dieser Verdacht ist schon vorhanden! Es ist da die Gefahr, daß sich Mißtrauen gegen die Instinkte des wahren Rußlands in das Herz unseres treuen englischen Freundes einschleicht! Ihr irrt euch! Wir sind entschlossen, den Kampf gegen Deutschland mit euch bis zu Ende zu kämpfen. Diesem Ziel sind wir bereit alles zu opfern – selbst, wenn er Frieden schließen will, den Zaren!«

Das Wort verklang flüsternd. Und hätte selbst irgendwo ein Diener gehorcht, so hätte er das Englisch nicht verstanden. Der liberale Knjäs schloß:

»Das müßt ihr wissen! Ihr Freunde in England! Dies erhabene Bild muß sich euch ewig einprägen. Es muß euch immer wieder gesagt werden!«

»Man kann diese Dinge denken! Aber man kann sie nicht sagen!«

Es waren die ersten Worte, die der Mann von der Themse sprach.

»Laut kann man sie wahrlich nicht aussprechen! Die Zeit ist noch nicht reif! Aber unter der Hand läßt sich jetzt schon in euern freien Ländern die Morgenröte Rußlands verkünden.«

Der Engländer wurde lebhafter. Er hob den Kopf, dessen nüchterner Leere man es nicht ansah, daß er längst schon von den Fäden wußte, die sich von der englischen Botschaft unter Umgehung der Paläste am Dworzowyplatz Über das unterirdische Petersburg spannen.

»Unter euren bewunderungswürdigen Einrichtungen schätze ich das Klubwesen am höchsten!« sagte der Knjäs. »Eure unbeirrbare öffentliche Meinung bildet sich in der Stille, im Geplauder vor dem Kamin, im Gedankenaustausch, wenn die Portweinflasche kreist. Völlig gerüstet tritt sie zu ihrer Zeit dann in die Öffentlichkeit. An uns ist es, euch jetzt schon über den neuen Geist Rußlands aufzuklären!«

»Sendet uns solche Männer, wenn ihr sie habt!«

»Wie sollten wir sie nicht haben? Versteht denn diese jetzige Regierung, unsere Kräfte zu sammeln? Sie läßt sie ungenutzt. Sie wendet ihnen nur so viel Interesse zu, als die Geheimpolizei aufzubringen vermag! Überall warten unbekannte Intelligenzen auf ihre Stunde. Schauen Sie als ein Beispiel hier Baron Kerkhuß! Er ist reich. Er ist vornehm. Er hat die Bildung des Auslands. Er kennt Großbritannien und die Vereinigten Staaten. Er spricht fließend Englisch. Er ist ein Weltmann mit der Seele eines aufrichtigen Russen. Nun – was macht man hier mit ihm? Nichts! Er ist nicht einmal Kollegienrat! Nicht Kammerjunker! Die fünfte Stufe des Annenordens ist ihm fern! Er ist nichts ... nichts ... nichts ...«

Der Fürst sprach es zornig. Mit einem Aufleuchten der nervösen Augen.

»Und was könnte man mit ihm machen! Aber wir werden schon etwas aus Ihnen machen, Waldemar Konstantinowitsch, wenn wir an der Macht sind! Wir werden Ihre Gaben schon zum Wohle Rußlands zu verwenden wissen! Wir werden bereits jetzt auf Sie, den noch Unbekannten, Beschlag legen, im Namen Rußlands ...«

»Männer im Dunkeln können gute Arbeit tun!«

»So ist es, werter Sir! Fassen Sie Baron Kerkhuß' Schweigen nicht als Widerspruch auf. Es ist seine Art, stumm zuzuhören und zu beobachten.

»Je weniger ein Gentleman spricht, desto ernstlicher wirkt sein Wort!«

»... und überall würde er bei euch, in freimütigem Geplauder nach Tisch, in London oder sei es in Paris, sei es an der Azurküste, wo nur sich die westliche öffentliche Meinung bildet, – überall würde er, durch Sie, teurer Sir, eingeführt, den Boden des Verständnisses für die Gesetze vorbereiten, nach denen sich unaufhaltsam die kommende Entwicklung Rußlands vollzieht! Deswegen machte ich Sie beide miteinander bekannt, für den Fall, daß Baron Kerkhuß unserem Wunsche willfahren und sich entschließen wollte, als einer der Sendboten unseres Vertrauens nach dem Ausland zu gehen! Noch trat er nirgends hervor! Er ist frei vom Heeresdienst. Er ist ein unabhängiger Edelmann. Wem fällt es auf, wenn unser Freund die Gesellschaft unserer Freunde draußen sucht?«

»Ihr Name, wenn ich es recht verstand, hatte deutschen Klang?«

»Ja,« sagte Waldemar Kerkhuß. Er und der Brite maßen sich mit undurchdringlicher Miene. Der Vollrusse zwischen ihnen hob leidenschaftlich die breiten Schultern.

»Durch Gottes Gnade deutsch, Sir! Wer, der euch die Erneuerung des russischen Schwurs zum Kampf gegen Deutschland bringt, wer kann es euch eindringlicher verkünden als ein Russe deutschen Blutes? Er kennt die Gefahr besser als wir alle, die uns allen droht.«

»Und doch scheint der Gentleman noch im Zweifel?«

»Was wollen Sie? Das eben ist das Russische an ihm. Wir leben unter nordischem Himmel. Die Entschlüsse reifen schwer. Aber ich weiß, wie Ihr Entschluß morgen lauten wird, Waldemar Konstantinowitsch! Sie werden zu uns zum Imbiß kommen, und ehe Sie noch an den Sakuskatisch treten, wird Ihr erstes Wort ein ›Ja‹ sein. Heute will ich Sie wahrlich nicht drängen!«

»Es wäre auch nicht gut,« sagte Waldemar Kerkhuß und stand auf. Die feuchte Hand des Knjäs lag schwer und groß, die des Briten kalt und trocken in der seinen. Die Räume, durch die er ging, waren schon leer. Kaja nicht zu sehen. Sie sei mit Liebesgaben nach dem Newa-Ufer gefahren, sagte die Fürstin, als er sich über ihre Hand beugte. Er verstand nicht recht, nach welchem der vielen Palais, in denen wohltätige Großfürstinnen Hof hielten. Er trat, in seinen Pelz gehüllt, ins Freie, beachtete die dienstbereiten Schlitten nicht und ging in die lichterhelle Nacht Petersburgs hinaus. Unheimlich ragte dort drüben, nicht weit von dem Hause in der Großen Seestraße, aus dem er kam, die Trümmerstätte eines Prunkbaues. Die deutsche Botschaft stand noch so tot, mit geschwärztem Dachwerk und Brettern vor den Fenstern, wie sie der russische Pöbel am Tag der Kriegserklärung erstürmt und innen den pflichttreuen deutschen Beamten erschlagen hatte. Da war der Krieg ... die Welt im Werden und Vergehen. Sturz und Aufstieg für jeden unmittelbar nebeneinander. Für jeden ...

Es war schneidend kalt und windstill. Ein Gewimmel von Pelzen aller Art stapfte im grellen Schein der Läden. Auf dem Fahrdamm rasten die Dreigespanne hinaus nach den Inseln, der vermummte Kutscher mit abgespreizten Ellenbogen vorgebeugt, weißer Rauch um den schwarzen, langschweifigen Traber in der Mitte und die frei galoppierenden Gäule rechts und links. In Massen glitten die winzigen, einspännigen Schlitten. Es waren ihrer fast mehr als Fußgänger. Einige waren mit Bündeln bepackt. Damen saßen dazwischen, den Muff vor dem Mund. Sie brachten Liebesgaben für das Heer. Ohne es zu wollen, sah Waldemar Kerkhuß jeden einzelnen Iswoschtschik an, ob er Kaja Wiffenhausen fahre. Es ärgerte ihn. Er wandte den Kopf und schaute doch immer wieder hin.

Planlos schritt er in seinen hohen Gummigaloschen durch den Admiralitätsteil Petersburgs. Riesenhafte, schneebedeckte Plätze schimmerten, scheinbar unendlich, weiß in der schwarzen Winternacht, ungeheure Paläste reihten sich stundenweit einer neben den anderen an dem finstern Eis der Newa. Die Straßenbahnen fuhren wie an anderen Orten Europas, die Kaufläden zeigten ihre Auslagen, die Gaststätten ihre gefrorenen Scheiben wie überall. Und doch war dies kein Ort wie andere. Dies Petersburg war die Stadt der möglich gewordenen Unmöglichkeiten. Der alles sprengenden Maße der Dinge. Die Hauptstadt des größten Festlandreiches der Erde, dessen unbeschränkte Weiten dem offenstanden, der sich in Petersburg den Zutritt in den Kreis der Herrschenden erzwungen hatte.

Waldemar Kerkhuß stand am Englischen Kai. Drüben, gegen Wassilij Ostrow zu, war ein Feuerflackern auf dem Fluß. Dunkle Gestalten schlugen da ein Loch in das Eis. Sie mußten sich auf ihm niederlegen, um durch die dicke Schicht bis in das Wasser zu greifen. Er dachte sich: ein Trunk dieses kaffeebraunen Wassers, aus dessen Fluten sich Petersburg hebt, ist sichere Krankheit. Vielleicht Tod. Es fröstelte ihn in seinem Pelz. Dies einsame Irrlicht über dem giftigen Strom schien ihm wie ein Gleichnis und eine Mahnung.

Auf der Schloßbrücke, die die große Newa überspannte, sausten an ihm die Schlitten vorbei. Petersburg, die Nachtstadt, wurde erst jetzt lebendig, wenn drüben hinter Kronstadt die karge Wintersonne als roter Nebelball im Eis des Finnischen Meeres versunken war. Dann erwachten die vom Grau des Tages stumpfen Nerven. Die slawische Seele zitterte in raschen Schwingungen. Fieberte die langen dunkeln Stunden hindurch. Fand erst in einer Zeit, wo Westeuropa sich beinahe schon wieder zur Arbeit erhob, die Ruhe und dämmerte übernächtig tief in den Tag hinein. Bis neun, zehn Uhr morgens war das Häusermeer an der Newa eine tote Stadt.

In einem Schlitten saß eine junge Dame, schlank und steil aufgerichtet, den Blick geradeaus. Waldemar Kerkhuß wandte ungestüm, der ersten Eingebung folgend, den Kopf nach ihr. Nein. Sie war es nicht. Sie hätte es sein können. Ihre Mutter wohnte drüben auf der Insel, hinter der Universitätskaja. Aber vielleicht war es diese hier, in dem dahinstürmenden Lichatsch, hinter dem die Schneebrocken von den Kufen des Trabers flogen. Auch nicht! Er beobachtete unruhig den Verkehr über die Dworzowybrücke. Wieder eine große, blonde Schönheit, lässig in den Pelzen zurückgelehnt. Sie ähnelte Kaja Wiffenhausen, soweit man durch den Schleier sehen konnte, aber sie war es nicht. Sein Herz klopfte. Er glaubte sie immer wieder zu erblicken, war immer wieder enttäuscht, in einer wachsenden Ungeduld, als müsse es ihm möglich sein, sie sich durch den Zwang des Willens herbeizuzaubern. Er hatte das Gefühl, daß sie ihm eigentlich doch schon gehörte. Er brauchte nur das Wort auszusprechen, um sein Anrecht geltend zu machen.

Niemals in dieser ganzen Zeit hatte er sich so nach Kaja Wiffenhausen gesehnt. Es kam plötzlich über ihn, mit einer blinden Gewalt. Er sagte sich: Was ist das mit dir? Du verlierst dich selbst! Du gibst dein Spiel auf! Du bist auf einmal ganz in sie verliebt! Du bist Mitte der Dreißig. Deine Natur drängt aus dem Zaudern und Zweifeln heraus, sucht ihre Erfüllung, sucht das Leben, sucht Kaja, Rußland, – Liebe, Glanz, Macht ...

Ein winselndes Lumpenbündel hob neben ihm die Armstümpfe aus dem Schnee. Er schleuderte dem Bettler, ohne ihn anzusehen, eine Handvoll Kopeken hin, wie man einem Hund den Knochen vorwirft, machte rasch ein paar Schritte – hörte seine Pulse schlagen – da – nein – abermals nichts! Es war in der Nähe überhaupt eine ältere Dame, nur von jugendlich schlankem Wuchs. Er mußte zornig lachen. Er ärgerte sich über sich selbst. Er sagte sich: Ich stehe hier und warte, und sie ist wahrscheinlich längst zu Hause!

»Heda, Lichatsch!« Er rief den nächsten Kutscher an, fuhr hinüber nach Wassilij Ostrow und stieg die Treppen zu Kajas Mutter empor. Er hatte, wie immer, wenn er eintrat, ein Frösteln beim Durchschreiten dieser weitläufigen, kalten und kahlen Räume, die schon lange von niemandem mehr bewohnt zu sein schienen. Sie lagen dunkel. Wo der alte Hausmeister im Vorbeigehen das elektrische Licht entzündete, deckten graue Überzüge die Möbel, hätte man mit dem Finger in die graue Staubschicht darüber ein » Vanitas vanitatum« malen können, hingen die Portieren von Motten zerfressen und unten von Mäusen zernagt. Es war lange her, seit dies hier einer der leichtsinnigsten und amüsantesten Salons von Petersburg gewesen. Jetzt hüllte Nacht und Stille den toten Jahrmarkt der Eitelkeit. Erst in den letzten Gemächern, die auf den Obelisken auf dem Rumjanzeffplatz hinausgingen, schimmerte Licht und schlug Wärme dem Eintretenden entgegen und zugleich das wilde Gekläff von einem halben Dutzend kleiner Köter.

Kajas Mutter betete hier inmitten ihrer Hunde. Ihre Gesundheit erlaubte es ihr nicht mehr, wie früher, auf den Knien die engen unterirdischen Gänge der Lawra von Kiew zu durchrutschen und vor der schweißperlenden Stirne und den offenen Särgen der wundertätigen Mumien das Haupt auf das Gestein zu schlagen. Sie konnte nicht mehr dort hinter Moskau, in der von Kirchen erfüllten Mittelalterlichen Festung des Troizki-Klosters, inbrünstig die Lippen auf das goldene Kreuz vor dem Grabe des heiligen Sergius drücken. Es kam selten vor, daß sie hier in Petersburg, mühsam auf ihren alten Diener gestützt und in tiefem, schwarzem Schleier, die Stufen zu den riesigen Säulenhallen der nahen Isaaks-Kathedrale emporstieg. Sie betrieb ihre geistlichen Übungen zu Hause. Die langbärtigen Väter aus den Klöstern kamen zu ihr. Als sie Waldemar Kerkhuß vor sich sah, reichte sie ihm die Hand, wickelte sich eine Papyros und sagte zwischen den ersten Rauchzügen, während sie sich das wirre, graue Haar aus dem bleichen Gesicht strich:

»Wo Kaja ist? Wie sollte ich das wissen, Waldemar Konstantinowitsch?«

»Wie denn? Ist sie nicht hier?«

»Noch kam sie nicht. Vielleicht kommt sie noch. Vielleicht bleibt sie drüben in der Morskajal Belieben Sie!«

Sie schenkte ihm Tee ein. Die Hunde bellten. Sie scheuchte sie mit einer Handbewegung, hob einen hoch, küßte ihn, die Zigarette weglegend, auf die Schnauze und setzte ihn wieder auf den Teppich.

»Wie kann ich Kaja hüten?« sagte sie. »Sie geht ihren Weg. Sie weiß, was sie will!«

Ja. Mich – dachte sich Waldemar Kerkhuß und weiter: Und ich sie! Und noch niemals so heiß und stürmisch wie heute! Es kochte ein Zorn in ihm, daß sie nicht hier war. Sie sollte hier sein! Der ganze Eigenwille eines Bevorzugten, dem das Leben nirgends Hemmungen bot, bäumte sich gegen diesen Widerstand der Dinge auf. Er sagte sich: Sie kann es ja nicht wissen, daß ich hier bei der Alten sitze und auf sie warte! Und doch sollte eine Ahnung sie herführen! Jetzt eben ist ihre Zeit...

Und er entschloß sich weiter: Aber ich werde hier bleiben, bis dies Petrograd dort draußen sie mir zurückgibt! Sie wird kommen. Sie muß kommen. Ich weiß es. Denn ich will es. Noch ging mir bisher alles nach meinem Willen...

»Bedienen Sie sich mit Konfekt, Waldemar Konstantinowitsch!«

Er dankte. Auf der Wanduhr gegenüber war es erst sechs Uhr abends und dabei schon tiefe Nacht. Es hätte ebensogut schon nach Mitternacht sein können. Dies Dunkel des Petersburger Lebens unterschied nicht nach der Zeit. Es ging ihm durch den Kopf: Vielleicht fährt sie in eins der Kaiserlichen Theater. Dann muß sie vorher heimkommen, um sich umzukleiden.

»Lisaweta Wladimirowna: Ist Kaja in Wahrheit nicht zu Hause, oder ist das nur eine Laune von ihr, daß sie sich verleugnet?«

»Warum würde sie sich verleugnen? Vor Ihnen, Waldemar Konstantinowitsch? Bei allen Heiligen – ich weiß nichts von ihr!«

Waldemar Kerkhuß schwieg und rauchte. Kajas Mutter tat ebenso, zu müde und zu gleichgültig zum Sprechen. Er schaute sie an. Es war seltsam sich vorzustellen, daß dies bleiche und ausdruckslose, wie verwaschene Gesicht einst einer der übermütigsten und weitherzigsten Schönheiten von Petersburg gehört hatte. Alte Herren der Petersburger Welt wurden noch lebendig, wenn die Rede auf sie und ihre nach kurzem getrennte Ehe und ihre späteren Abenteuer kam. Jetzt merkte man diesen matten Zügen höchstens ein Leiden an. Sonst nichts. Ihre grauen Haare waren unordentlich, ihr dunkles Kleid voll Flecken und Risse. Ihn fröstelte. Er frug sich: Ob auch Kaja einmal so wird? So wie russischer Sommer in russischen Winter übergeht? Er fing zwischen den flachen Händen eine Motte, die vor ihm flatterte, und sagte:

»Ich weiß nicht, wie ich hierherkam, Lisaweta Wladimirowna... Es fiel mir plötzlich so ein...«

»Gott brachte Sie! Nehmen Sie noch Tee!«

Das klang alles mechanisch. Nicht mehr von dieser Welt. Eine müde Stimme, deren eigentliche Heimat im uferlosen Reich der russischen Wunder und der russischen Heiligen war, da, wo der Weihrauch um mächtige Mönchsbärte qualmte, auf der Goldwand des Ikonostas die weiße Taube schwebte und jenseits der Pforten zum Allerheiligsten, die sie als Frau nicht durchschreiten durfte, um den Gold- und Silberglanz auf den Märchengewändern des Archierei das »Herr, erbarme dich!« der Priester dröhnte. Sie streckte ihre kleine, immer noch schöne Hand aus und sagte halb geistesabwesend:

»Nun – da Sie da sind – geben Sie!«

»Geld?«

»Ich sammle zum Bau einer Kreuzerhöhungs-Kirche in Sibirien, an der Stelle, wo Rasputin zum ersten Male...«

Waldemar Kerkhuß dachte sich: Rasputin... wer anders? Gehörst du auch zu denen, die dem weiberkundigen Bauern aus dem fernen Osten die schmutzigen Tatzen küssen? Eure Gemeinde ist groß. Sie reicht bis hoch hinauf ...Die Welt dreht sich um die Verzückungen und Eingebungen in dem Winterpalais drüben, dessen mit Schnee bedecktes niederes Dach mit den endlosen Fensterreihen darunter über die Newa schimmert? Er griff in die Tasche und gab einen großen, regenbogenfarbenen Hundertrubelschein und sagte sich: Dabei bin ich Lutheraner! Und gleich hinterher schoß es ihm fast schmerzhaft durch den Sinn: Aber wenn ich Kaja heirate – die Kinder werden schon von einem langhaarigen Popen in das Taufbecken getaucht. Byzanz ist über ihnen... Rußland nimmt von ihnen Besitz – von mir, dem Einsamen, Vereinzelten inmitten der orthodoxen Welt! Es war ihm, als griffe ihm eine Faust an die Kehle. Aber er preßte finster die Lippen zusammen und wartete auf Kaja Wiffenhausen.

In dem heißen, halbdunkeln Zimmer war eine ewige, fast lautlose Unruhe. Die kleinen Hunde liefen im Schatten des Bodens auf den Teppichen hin und her, stöberten in den Winkeln. Es schien, als ob sie ängstlich etwas suchten. Vielleicht auch Kaja. Das Trippeln der vielen kleinen Beinchen machte ihn nervös. Er wechselte wieder ein paar gleichgültige Worte mit Kajas Mutter. Sie schaute ihn dabei eine Sekunde mit ihren tiefliegenden, leeren Augen seltsam an, mit einem Blick in die Seele, der ihm verriet: Wenn sie auch der Welt entsagt hat, – für gewisse Dinge bei Männern blieb sie noch von früher her hellsehend. Sie weiß genau, weswegen du ohne Zweck und Grund hier sitzest. Du bist gekommen, um dich zu unterwerfen! Du bist so weit! Sie spricht nur nicht davon, weil es ihr offenbar gleichgültig ist, wen ihre Tochter heiratet oder nicht, so gleichgültig wie das Schicksal aller Weltkinder...

»Gestatten Sie mir, mir etwas Bewegung zu machen!« sagte er, erhob sich und ging ungeduldig in dem Zimmer hin und her und mußte sich Mühe geben, nicht auf einen der vielen Hunde zu treten. Sie folgte ihm schweigend mit den Augen. Er frug sich: Was soll ich mit ihr sprechen? Ich kann sie doch nicht nach ihrem Mann fragen! Fast ein Vierteljahrhundert leben sie getrennt. Der alte Wiffenhausen ist toll. Niemand weiß es besser als ich, sein Nachbar. Kaum dreißig Werst sind ja von Narraks nach Kerreküll...

Draußen war ein Geräusch. Er fuhr zusammen. Nein. Es war der Diener, der den Kachelofen im Zimmer nach russischem Brauch von außen, vom Gang her, heizte. Er setzte sich wieder und sagte ärgerlich:

»Wahrlich: Sie sollten mehr auf Kaja achten! Dies Petrograd... und welch ein Leben gerade jetzt im Krieg...«

»Jeder Mensch muß seinen Weg selbst finden, Waldemar Konstantinowitsch!«

Du auch – klang es in ihm nach. Wohin gehst du? Noch siehst du am Scheideweg. Kaja kommt nicht. Ob sie auch einmal so aussehen wird wie die Alte? Ein unheimlicher Gedanke. Es lag mehr darin als nur das Welken der Jugend. Nein. Es war nicht möglich. Sie war zu schön... sie war schön... Jäh schlug sein Herz, verdoppelte sein Hämmern. Leichte Schritte kamen in das Gemach. Es war die Zofe, die den Samowar holte, um den Zylinder in der Mitte mit neuen glimmenden Holzkohlen zu füllen. Kajas Mutter frug:

»Tatjana – hast du die junge Herrin nicht gesehen?«

Nein. Das Mädchen wußte nichts von der Barinja. Aber sie könne wohl jeden Augenblick kommen. Sie ging mit dem Teekessel hinaus. Waldemar Kerkhuß rückte sich unruhig auf dem Stuhl. Da flogen wieder Motten. Er beobachtete zerstreut das Geflatter. Er dachte sich: Da bist du nun in der Hand des Zufalls. Ob man draußen auf einmal ihre frische Stimme hört, in der immer etwas von nordischer Winterkälte und Winterfreude klingt – ob sie auf einmal auf der Schwelle steht, die hohe Gestalt noch vom Eishauch der Nacht umweht und doch voll warmen, blühenden Lebens – dieser Zufall, ob irgendeine Laune sie nach Hause führt oder nicht – er entscheidet über dein ganzes künftiges Dasein, über alles, was noch in langen Jahren kommt. Plötzlich erwachte in ihm wieder der alte Herrenmensch, der sich nicht dem Spiel blinder Mächte unterwarf, ob Kaja Wiffenhausen da draußen irgendeine Freundin getroffen, ob man ihr einen Logenplatz im Marientheater geschickt hatte. Er sagte sich: Wenn du jetzt gehst, dann hat der Zufall keine Macht über dich. Dann sollte es heute nicht sein. Dann bist du bis morgen Herr deines Willens.

Er erhob sich ungestüm und stieß den Stuhl zurück.

»Nichts tötender als warten, Lisaweta Wladimirowna! Für Sie und für mich! Auf Wiedersehen! Grüßen Sie Kaja!«

»Sie wird sehr traurig sein. Sie verfehlt zu haben.«

Wütend wird sie sein, daß sie den Fischzug versäumte! dachte er nicht ohne Schadenfreude, und dann mit einer jähen Ergebung: Warum denn? Wie sollte sie? Sie weiß ja genau: ich komme morgen wieder ...

Er fuhr in den Admiralitätsteil zurück. In seiner Wohnung am Newskij saß er und schaute, mit sich unzufrieden und unruhig, in das Licht der Lampe. Es war noch nicht acht Uhr. Der Petersburger Abend hatte kaum begonnen, lag noch lang vor ihm. Nun war sie natürlich längst daheim bei ihrer Mutter! Er ärgerte sich. Er bereute immer mehr, daß er unnötigerweise weggegangen war. Es lockte ihn: Fahre in deinen Pelz. Nimm unten einen fixen Kerl von Kutscher oder ein Automobil. Im Handumdrehen bist du wieder am Rumjanzeffplatz. So wird noch alles gut.

Es war ein Spiel mit der Versuchung. Er überlegte sich: Du kannst ja vorgeben, deine Brieftasche liegengelassen zu haben, als du der Alten das Geld für ihren wundertätigen Sibiriaken, den Spitzbuben, gabst. Wichtige Papiere, kannst du sagen, seien darin. Die Sorge um sie treibe dich noch heute hinterher ... Dann kam wieder die Besinnung: Wer weiß, ob sie da ist? Und wenn, auch von dort könnten sie mich wissen lassen, nachdem ich drüben so lange gewartet.

Im Vorzimmer war das Raunen einer Männerstimme in auffallend schlechtem Russisch. Der Diener antwortete. Gleich darauf kam er herein.

»Es ist ein Mensch draußen. Er bringt einen Brief. Er will ihn Euer Gnaden nur persönlich geben!«

»Lasse ihn ein!«

Waldemar Kerkhuß war hastig aufgesprungen und in seiner Ungeduld dem Boten bis in die Mitte des Zimmers entgegengegangen. Vor ihm stand ein einfacher Mann in westeuropäischer, nicht in russischer Kleidung, sah sich um, ob beide auch ganz allein seien, und versetzte gedämpft und unvermittelt im schwäbischen Deutsch der eingewanderten russischen Kolonisten:

»Ich habe ein Schreiben für Sie zur Besorgung erhalten!«

»Ich weiß!« sagte Waldemar Kerkhuß in seiner freudigen Überraschung ebenfalls deutsch und leise. »Man gab es Ihnen drüben in Wassilij Ostrow.«

»Nicht in Wassilij Ostrow!«

»Wie denn? Nicht in dem Hause Wiffenhausen?«

»Nein.«

Waldemar Kerkhuß war enttäuscht und gelangweilt.

»Gut denn: wo kommen Sie her?«

»Einerlei! Ich soll diesen Brief Ihnen selbst abliefern. Was braucht das schwarze Kabinett alles zu lesen?«

»Jewiß doch!« Waldemar Kerkhuß sah den Fremden belustigt an. »Und wer sagt mir, daß Sie nicht selbst vom schwarzen Kabinett sind?«

»Ich bin aus der deutschen Kolonie Karolinenfeld bei Tiflis. Ein großer baltischer Herr nahm mich vor dem Krieg dort mit ins Ausland. Jetzt eben kehrten wir zurück. Sein Reisegepäck wurde nicht geöffnet. Er nahm in Kopenhagen einige Briefe mit.«

»Es kann nur Praunfalken sein. Er kam heute an!« sagte Waldemar Kerkhuß. Der Deutschrusse schwieg und hielt ihm das Schreiben hin. Noch schien es dem anderen verdächtig.

»Von wo stammt es?«

»Aus Deutschland.«

Man war nicht umsonst in Petrograd. Der Boden heiß. Fallen und Finten überall. Ein Verdacht: vielleicht ein Streich des Vetters Herzerode, um mich auf das Glatteis zu locken. Waldemar Kerkhuß sagte kühl:

»Wir sind jejenwärtig im Krieg! Wie kann ich also Briefe aus Feindesland annehmen?«

»Man beauftragte mich. Sie zu bitten, das Siegel anzusehen!«

Waldemar Kerkhuß nahm das Schreiben, trat damit an die Lampe. Er fuhr zusammen. Ein rotes Siegel verschloß den Umschlag. Ein kleines Petschaft, wie es Damen führen, war hineingepreßt. Er sah ein Wappen: Geierkopf und Geierflügel – das Metztaksche Wappen... Er wandte das Schreiben um. Jetzt im Licht erkannte er die Schrift: Elise Metztak. Ein Lebenszeichen von ihr. Das erste seit langer Zeit. Er wandte sich um. Er griff in die Tasche. Wollte den Überbringer entlohnen. Aber das Zimmer war leer. Der Schwabe aus dem Kaukasus schon gegangen.

Und da in der Hand der Brief. Ein Bote aus fernen, fernen Weiten. Ein weißer Vogel von einer einsamen Insel, um die der Haß der Menschheit schäumte. Von der großen, von der Erde abgeschnittenen Insel Deutschland. Er machte andächtig den Umschlag auf, nahm den Brief heraus, schloß die Augen und legte ihn sich auf die Stirne, als sollten alle guten Geister, die er barg, auch bei ihm ihren Einzug halten. Tann öffnete er tief aufatmend wieder die Lider und las:

»Lieber Freund!

Ein Freund, der Sie und mich kennt, hat mir zugesagt, diese Zeilen in Ihre Hände legen zu lassen. Er ist Russe. Ich mußte ihm versprechen, Ihnen aus meinem neuen Vaterland Deutschland in Ihr altes Vaterland Rußland nichts zu schreiben, was Rußland schaden könnte. So schreibe ich also nichts von äußeren Dingen, sondern nur vom Menschlichen.

Ich schreibe aus Berlin, meiner zweiten Vaterstadt. Mitau, meine erste, ist ja jetzt auch in deutscher Hand. Es geht Alexander und mir gut. Mein Mann läßt Sie grüßen. Wie soll ich Ihnen schildern, wie uns beiden zumute ist? Nicht mehr wie einzelnen Menschen, die ihre Selbstsucht und ihr Drang nach ein bißchen eigenem Vorteil durchs Leben treibt. Das haben wir Idealisten, wie Sie uns ja immer mit Ihrem mokantesten Lächeln nannten, daheim am nordischen Strand zurückgelassen. Wir sind hier nur noch ein paar kleine Blutstropfen mehr in den Adern unseres großen Deutschland, wir fühlen seinen gewaltigen Herzschlag, all der Millionen, die alle, alle nur das eine wollen und alles dafür hingeben. Es ist hier stiller geworden nach außen hin. Kein überschwenglicher Jubel, kein Rausch mehr. Aber das innere Licht leuchtet stolz und froh durch die Nacht. Wer Ohren hat, der hört um sich das Rauschen aller anderen Seelen, wie ich daheim im Elternhaus in stillen Nächten unten am Strande das ewige Meer rauschen hörte. Das ist ein Frieden mitten im Krieg, mit allen Menschen, groß und klein, jung und alt, hoch und niedrig, in dem eins zu sein, was man als gut und wahr erkennt.

Verstehen Sie das in Ihrer hochmütigen Einsamkeit, lieber Freund? Ich bin bange. Sie verstehen es wieder halb! In Ihnen sind zwei Menschen, der von gestern und der von morgen. Der von gestern ist der stärkere. Er besteht aus allen Ihren Vorfahren und ist also in der erdrückenden Mehrzahl gegen den von morgen, der Sie eigentlich selbst sind. Das habe ich Ihnen schon früher oft gesagt. Wie leid tun Sie mir! Sie wissen nicht, was Begeisterung ist! Ich weiß es. Ich bin voll davon. So voll Liebe zu Deutschland. So voll Glauben und Hoffnung. So überreich das Herz, daß ich nur jedem etwas von meinem inneren Festtag abgeben möchte, und, wenn ich könnte, Ihnen vor allem, weil Sie viel ärmer sind, als Sie ahnen...

Da bin ich wieder in das Schwärmen gekommen. Ich schäme mich nicht. Man braucht nicht immer klar zu denken. Gefühl ist alles. Alexander und ich, wir geben uns manchmal, wenn wir beisammensitzen, still die Hand. Wir sind nichts dazu. Wir danken uns, einer dem anderen, daß wir die Kraft gefunden haben, nach Deutschland zu gehen. Seitdem ist das Gemeine aus unserem Leben. Wir sind von uraltem Adel und doch jetzt erst geadelt. Was auch kommen mag, wir beide hatten recht und werden ewig recht behalten! Wir taten, was wir für recht hielten und drum tun mußten!

Und Sie?

Und Sie, lieber Freund! Was haben Sie in dieser Zeit aus sich gemacht, seit das große Schweigen zwischen uns war? Ich weiß nicht, in welcher der vielen Stimmungen Sie mein Brief treffen wird, die wechselnd durch Ihre Seele ziehen, wie die Wolkenschatten über unsere Tage da oben am nordischen Strand. Ich möchte, daß mein Brief in einer Ihrer Stunden zu Ihnen kommt, wo der Boden um Sie mit angerauchten Zigaretten bedeckt ist und die Zweifel ihre Wolken um Sie ziehen, daß Ihr kühles, selbstsicheres Lächeln sich darin verliert. Dann findet der Brief vielleicht einen Einschlupf in Ihre Seele.

Ich rate Ihnen nicht, was Sie tun sollen! Ich dürfte es auch nicht, nach dem Versprechen, das ich dem Vermittler dieses Briefes gab. Der Weggang eines Mannes wie Sie wäre unzweifelhaft ein Schaden für Rußland, und es ist jetzt ja wohl auch überhaupt unmöglich, nach Deutschland zu gelangen.

Nein! Ich bitte Sie nur um eines! Wenn Sie noch der sind, als den ich Sie kenne, dann sind Sie auch jetzt noch im Suchen und Zweifeln, weil Ihnen alle Wege offenstehen. Millionen andere haben die Pflicht zu sterben! Sie, der Ausnahmemensch, haben das Recht zu leben. Aber in diesem Recht liegt auch eine schwere Pflicht. Eine schwere Wahl für jemanden wie Sie.

Darum bitte ich Sie als Freundin: Folgen Sie nur dem Besten in sich, in dieser Zeit, die uns alle auf Herz und Nieren prüft! Ich bin so unbescheiden zu sagen: Sie werden schon erkennen, ob es das Beste ist, wenn Sie an mich, Ihre Freundin, denken, und ob ich es dafür halten würde. Sie haben mich so oft schon Ihren guten Geist im Leben genannt, und diesen Geist können Sie sich trotz der Entfernung immer beschwören.

Könnte ich Sie nur einmal im Geiste hierher zu uns versetzen! Ihnen nicht unsere Wunder draußen zeigen – von denen hören Sie! – sondern hier daheim die stillen Wunder des Alltags stündlich um einen her, die selbstverständlichen Heldentaten der Frauen und der Kinder und der Alten und der Kranken. Wenn die Menschen draußen wüßten – aber ich breche lieber ab und denke an mein Versprechen.

Ich mache mich hier natürlich so nützlich, als ich irgend kann! Ich bin Feuer und Flamme! Ich arbeite für zehn. Ich bestehe eigentlich nur noch aus Nerven. Aber die halten! Alexander und ich sind jeden Abend todmüde und dabei lachenden Mutes. Man ist so froh. Es ist, als ob man flöge!

Exzelsior! Sie wissen, es ist mein Wahlspruch im Leben. Komisch für eine kleine, schwache Frau! Aber damit leiste ich mehr als manche andere. Die Kinder sind munter. Sie erinnern sich noch an Sie und frugen erst neulich, wo denn der Onkel Waldemar jetzt sei. Eben sind sie mit dem Fräulein mit kleinen Fähnchen nach den Linden. Welch ein Mensch wird, wenn ich einen Brief von Ihnen bekomme, aus Ihnen zu mir sprechen? Was werde ich von Ihnen hören? Gewiß Gutes! Ich glaube immer zuversichtlicher an das Beste. Auch bei Ihnen! Ihre Freundin

Elise Metztak.«

... Im Palais des Knjäs Manuchin in der Großen Morskaja waren am nächsten Mittag bereits die meisten Frühstücksschüsseln abgetragen. Es herrschte beim Lunch, im Gegensatz zu der Fracketikette des Abends, englische Zwanglosigkeit im Anzug, im Kommen und im Gehen. Aber ein Stuhl war überhaupt leer geblieben, und der Fürst frug, verstimmt das grobe, bärtige Apostelhaupt schüttelnd:

»Was ist das mit Kerkhuß? Ich lud ihn ein. Er sagte nicht ab!«

»Da kommt er!«

»Nein. Es ist Gerzerodde!«

Graf Wittekind von Herzerode trat ein. Unbefangen wie ein naher Freund des Hauses, der es sich erlauben kann, auch einmal ungebeten an der Familientafel Platz zu nehmen. Er verbeugte sich mit lächelnder Leichtigkeit und küßte der Fürstin die Hand. Ihr Mann sah ein spöttisches Siegesbewußtsein auf seinen glatten Mienen. Er sagte gedämpft:

»Belieben Sie keine neuen Auftritte, Feodor Feodorowitsch! Wir erwarten Baron Kerkhuß!«

»Man wird vergebens auf ihn warten!«

»Wie das?«

»Nun – er verließ heute früh Petrograd.«

»Wohin?«

Wittekind von Herzerode lächelte.

»Es scheint, zunächst nach Finnland. Dorthin ließ er sich seinen Paß visieren. Jedenfalls kommt er nicht wieder!«


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